Wednesday, June 27, 2012

Il Cinema Ritrovato 2012, Tag 2 und 3

Fujiwara Yoshie no furusato / Home Village, Kenji Mizoguchi, 1930

Ein Opernsänger hat Erfolg, wird überherblich und stürzt ab - und kann eigentlich gar nicht singen; ein anderer Opernsänger hat Erfolg, wird überheblich, stürzt ab - kann dann am Ende aber eben doch singen und tut das schließlich auch mit der richtigen moralischen Haltung; seine Frau hält zu ihm, auch wenn sie einmal mit einem anderen im Taxi saß und er (der selbst von gold diggers verfolgt und beschlagnahmt wird) deswegen nichts mehr von ihr wissen will, nicht einmal, als sie ihn im Krankenhaus besucht. Viel Sinn ergibt der sprunghafte, dynamische Film nicht, schön ist er trotzdem, gerade in seinen Paradoxien; ein Stummfilm / Tonfilm-Hybrid, der Ton scheint noch instabil und ist doch gleichzeitig eine Fessel, die die schwebende Kamera zu bremsen, zu fesseln droht, der Ton verschwindet oft und lange, taucht dann kurz wieder auf, ist vor allem noch ein Problem: jetzt, wo der Ton da ist, muss man sich zu ihm verhalten.

Der Film stellt sich diesem Problem innerhalb seiner Handlung. Es taucht zuerst die Frage auf, ob man singen kann oder nicht; das scheint in dem Film nicht unbedingt eine Sache der Übung zu sein, auch keine des Talents. Aber wo genau steckt die Befähigung zum Gesang sonst? Und kann man sie wieder verlieren? In einem nächsten Schritt fragt man sich dann zum Beispiel, ob man in einer europäischen Spache singen soll oder auf Japanisch. Der Film entscheidet sich in allen diesen Fragen nicht aus nachvollziehbaren Gründen für eine Antwort, er breitet alle möglichen Antworten wie für sich selbst aus und wählt dann erratisch mal die eine, mal die andere, mal mehrere gleichzeitig. Und es tauchen Fragen auf, die noch weniger nahezuliegen scheinen: zum Beispiel danach, ob Geld und Stimme zusammenpassen. Die Antwort, die der Film gibt, ist auch hier kompliziert, unentschieden: Wer nur Geld will, kann nicht singen (hat aber eventuell trotzdem Erfolg); wer bescheiden ist, kann singen und bekommt dann am Ende vielleicht trotzdem wieder Geld.

Man's Castle, Frank Borzage, 1933
Me and My Gal, Raoul Walsh, 1932

Mein Lieblingsfilm bisher neben dem Gremillon'schen Leuchtturmwärterdrama: Man's Castle von Frank Borzage. Ich habe im Kino noch nie ein Liebespaar gesehen, das sich so zueinander verhält (schon rein körperlich; aber auch die Sprachregelungen, die sich herausbilden), wie Spencer Tracy und Loretta Young das tun. Der Film zeigt, wieviel an der Liebe (am Anfang) Herausforderung ist und (später) Anmaßung bleibt, wieviel an ihr deshalb zwingend über das bürgerliche Glücksversprechen hinausweisen muss. Und natürlich hat mich der poetische Antrieb des Films begeistert: das offene Fenster, das Pfeifen der Züge, der Sprung ins Wasser, in dem sich das Mondlicht spiegelt.

Einmal, während Young einen Herd bewundert, von dem sie sich schließlich auch wieder trennen müssen wird, isst er mit viel Vergnügen und ohne alle Hemmungen ein Speiseeis in der Waffel, schleckt mehrmals über die Kugel, steckt sich schließlich die gesamte Tüte in den Mund. In Raoul Walshs Me and My Gal, in dem Tracy einen Polizisten spielt, der in seinem Revier, einem Hafen, an allen Ecken und Enden etwas zu essen auftreibt, verspeist er auf sehr ähnliche Weise eine Banane. Und geht auch sonst auf sehr handfeste Art mit der Dingwelt um.

Der Film ist ansonsten typisches Dreißigerjahre-Chaos: Er springt von einem Genre zum anderen (und irgendwie macht es fast gar nichts, dass Walsh offensichtlich nicht allzu viel von Comedy-timing versteht), lässt viel Platz für Nebenfiguren und erzählt in 80 Minuten fast so viel wie heute ganze Staffeln von Quality-TV-Serien. Am Anfang gibt es eingies im Hafen zu tun, ein Säufer hat mehrere große Auftritte, die er bis in die letzte elegante Torkelbewegung auskostet, Tracy bandelt ein wenig mit einer Bedienung an; dann greift die zum Telefon, ruft ihre Schwester an und plötzlich scheint ein ganz anderer Film zu beginnen. Am Ende steht dann ein sehr schönes Gesellschaftsbild, das jedem sein Recht lässt: dem Säufer, dem Veteranen, der nur noch seine Augenlider bewegen kann, dem nicht so unbedingt begehrten Ehemann mit zahnfleischlastigem Lachen und natürlich auch dem Bananen verspeisenden Tracy.

The Dumb Girl of Portici, Lois Weber / Phillips Smalley, 1916

Eine Opernadaption, ich kenne die Vorlage nicht, auch der Ballett-Weltstar Anna Pavlova war mir nicht bekannt. Sie ist im Film super, schon in der melodramatischen ersten Stunde, trotzdem hat micht erst die zweite Stunde wirklich interessiert; die besteht vor allem aus einem Volksaufstand und dessen Folgen: chaotische, teilweise völlig entfesselte Massenszenen, zuerst der Kampf auf der Straße, Leute, die andere Leute von Pferden reißen, Pferde, die quer durch die Menschenmenge (kaum einmal sind in dieser zweiten Hälfte weniger als 20 Menschen gleichzeitig in einer Einstellung) galoppieren; dann der Kampf um die Burg, in der sich die nominelle Haupthandlung hauptsächlich abspielt. Eine unglaubliche Einstellung: Die Kamera fährt langsam lateral an mehreren Fenstern vorbei, während eines nach dem anderen von den Angreifern kaputt geschlagen wird, anschließend drängen die Aufständischen nach Innen, die Kamera fährt zurück und eröffnet das gesamte Schlachtfeld.

Das alles dauert fast eine halbe Stunde. Ganz zur Ruhe kommt der Film bis zum Ende nicht mehr, es kommt zu Plünderungen, es werden Orgien gefeiert, schließlich schlägt auch noch die Konterrevolution zu. Die Zweite Hälfte von The Dumb Girl of Portici ist Kino als permanenter Ausnahmezustand, an allen Ecken und enden quillt der Film über, droht zu desintegrieren, immer, wenn sich die Lage zu beruhigen scheint, stolpert wieder irgend jemand Neues vor die Kamera, einmal scheint am Ende einer Einstellung ein Teil der Kulisse zusammenzubrechen, schnell Schnitt, weiter. Die Figuren des Dramas kämpfen bei all dem manchmal mit, manchmal bleiben sie in Halbdistanz, am Ende dürfen die meisten von ihnen Operntode sterben. Aber das Kino hat etwas entfesselt, das keine Bühne der Welt mehr eindämmen kann.

Monday, June 25, 2012

Il Cinema Ritrovato 2012, Tag 1 (Fortsetzung)

David Golder, Julien Duvivier, 1931

Drei außergewöhnliche Filme; Julien Duviviers David Golder ist ein außergewöhnlicher Krisenfilm, er näher sich der Weltwirtschaftskrise von der Seite der Reichen, die Angst um ihr Geld haben, haben noch in ihren luxuriösen Anwesen leben. Die Hauptfigur ist ein jüdischer self-made-man, der von zwei Frauen ausgenutzt wird, von seiner hoffnungslosen Frau und von seiner nicht ganz so hoffnungslosen Tochter, die dafür aber möglicherweise gar nicht seine echte Tochter ist. Die Krise lauert im Off, wird immer wieder verschoben, inzweierlei Hinsicht: auf "später" und auf andere.

Ein früher Tonfilm ist David Golder, vielleicht hat das gefühlte Ungleichgewicht zwischen den langen, statischen Dialogszenen und verschiedenen Zwischenspielen (am eindrücklichsten ist eine Sequenz an der Börse mit L'eclisse-artigen Einstellungen, die völlig unvermittelt in den Film eindringt und ihn allerdings auch weitgehend unberührt zurück lässt), die in einem dynamischen, Stummfilm-artigen Stil gehalten sind. Der Film hat bei all dem eine ziemliche Wucht, durchaus auch in den Dialogen, während derer die Kamera oft sehr lange ein einzelnes Gesicht fokussiert, ein einziges Gefühl moduliert.

Sehr sonderbar: die Szene in der Sowietunion.

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Gardiens de phare, Jean Gremillon, 1929

Ein Meisterwerk: Jean Gremillons außergewöhnlicher Leuchtturmfilm Gardiens de phare. Leuchtturmfilme sind sowieso immer toll (siehe zuletzt Shutter Island, das wäre, siehe unten, auch ein super Alternativtitel für Gremillons Film), das hängt vielleicht mit der Visualität zusammen, die im Leuchtturm steckt und die das Kino abschöpfen kann, vielleicht auch damit, dass der Leuchtturmwärter interessant ist als jemand, der sich vereinzelt, um der Gemeinschaft zu dienen. Gardiens de phare ist auf jeden Fall der Leuchtturmfilm, der (von denen, die ich kenne) am meisten anzufangen weiß mit der Lichtquelle selbst, dem rotierenden Leuchten, ihrem rythmischen Lichtwurf. Nicht eigentlich nach draußen wirft Gremillons Leuchtturm sein Licht (als er das einmal tun soll, versagt ein Wächter), es geht eher um den illuminierten Terror im Inneren des Turms. Der Terror ist nicht das Licht alleine, sondern beides zusammen: Licht und Schatten; eigentlich kann man den Terror im shutter verorten, in jener Apparatur, die um die Lichtquelle herum rotiert. Einige der schönsten Einstellungen des Films zeigen einfach nur das Spiel des shutter, das sind perfekte Experimentalfilmminiaturen. Im Finale wird eine Tür oben im Leuchtturm zu einem anderen shutter, schwingt auf und zu, gibt den Blick auf den Vater frei und verstellt ihn wieder. Es scheint da und auch sonst immer wieder um Bildserien und Serienbilder zu gehen (die tolle Tanzsequenz löst sich auch in eine Art Serienbild auf) und irgendwie natürlich auch um die Kamera selbst, die auch einen Shutter hat, oder um das Schwarzbild zwischen den Kadern; allerdings zeigt der Film das nie ausführlich an, die Bildreflexion läuft nebenbei mit und stellt sich selbst nie still.

Es geht um zwei Leuchtturmwächter, einen Vater und einen Sohn, der Sohn wird psychotisch, dabei spielt einerseits das Licht eine Rolle, andererseits ein Hund, der ihn in den Arm beißt. Gleichzeitig ein sogar sehr gut geöltes Melodram und ein visueller Essay im Stil der französischen Avantgarde der Zwanziger Jahre (auch viele Wellenbilder). Und dann gibt es noch einige textuelle Fährten, von denen man gar nicht mehr so recht weiß, wohin sie einen führen könnten. Zum Beispiel gibt es noch ein Haus an der Küste, in dem drei Frauen mit sonderbaren Hüten wohnen. Wie die sich zum Leuchtturm verhalten, habe ich nicht ganz verstanden, zumindest scheinen sie ihn von ihrem Fenster aus sehen zu können. Ob man auch vom Leuchtturm aus das Haus (oder auch nur die Küste, oder auch nur irgendwas) sehen kann, ist weit weniger klar. Es gibt außerdem in dem Haus an der Küste einen Miniaturleuchtturm auf dem Kamin; eventuell haben Vater und Sohn sich ja in dem einquartiert.

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Il richiamo, Gennaro Righelli, 1921

Zu außergewöhnlich für diese Uhrzeit.

Sunday, June 24, 2012

Il Cinema Ritrovato 2012, Tag 1

Rückblende 1

Kurz erwähnt sei zumindest Cheang Pou Sois New Blood, der mich vor ein paar Tagen umgehauen hat wie sonst kaum ein Horrorfilm in den letzten Jahren; und schon gleich kein neuer Horrorfilm. Cheang erzählt eine Geistergeschichte, in einer grün-schwaz eingefärbten Welt, durch die er eine rote Spur zieht; in verschiedenen Aggregatzuständen: zuerst als verwischte Blutspur auf dem Asphalt, dann als Linie auf dem Krankenhausflur, dann als gleichfalls Linie gewordene Blutspur durch die Infusionsröhre (korresponierend die grüne Lebenslinie auf der Apparatur). Später bricht die Spur auseinander, verflüssigt sich (wie Blutspritzer in Wasser), verteilt sich (wie rot leuchtende Lampions an Fassaden). Die entfesselte Kamera folgt mal Menschen, mal der Spur, mal macht sie sich ganz selbstständig. Es gibt noch viel mehr im Film zu entdecken, als nur diese eine Spur, doch ich glaube, bevor ich mehr schreibe, will ich ihn mir noch einmal ansehen...

Rückblende 2

Eine junge Frau beschwert sich bei einer anderen, gestern in Kreuzberg, während ich an beiden vorbeilaufe, über ein Kino: "scheiß Bild, scheiß Ton und überall sitzen nur Pärchen...".

Raoul Walsh: The Mystery of the Hindu Image, 1914 & Pillars of Society, 1916

Mit zwei schönen Walsh-Filmen aus den Zehnerjahren steige ich ein; technisch perfekt, dynamisch, schon noch mehr oder weniger anonymes Handwerk, aber mit vielen schönen Situationen. Die exotistische pulp-Erzählung The Mystery of the Hindu Image funktioniert besser als die Strindbergadaption Pillars of Society, obwohl Walsh jede Gelegenheit ergreift, das sehr alteuropäische morality play in amerikanische Bewegung zu versetzen, vor allem mithilfe von Parallelmontagen auch da, wo sie eigentlich nicht so recht angezeigt wären; mein liebster derartiger Moment aber: ein Sprung ins anfahrende Rettungsboot, während des finalen Schiffsunglücks.
The Mystery of the Hindu Image besteht durchweg aus Parallelmontagen (der unschuldig im gefängnis sitzende Held bricht mittendrin aus und wird wieder eingefangen, nur, damit die Geschichte nicht einmal in ihrem Off zum Stillstand kommt), außerdem gibt es tolle Verfolgungsjagden. Der Pianist, der den Film begleitet, ist großartig: in zwei Sequenzen, die den die Handlung unterfütternden indischen Hokuspokus behandeln, fängt er zu singen an, zusätzlich zu seinem Klavierspiel.

Tuesday, June 19, 2012

Exciting Eros / Gimme Shelter, Hisayasu Sato, 1986

Ein fröhlicher, aufgedrehter, ein wenig überdrehter Song, dazu ein Familienbild: Mutter, Vater, Tochter am Esstisch. Der Sohn ist nicht da, was macht er wohl? Eine Unterhaltung, einige Erinnerungen (an die Geburt der Tochter "im Feld") dann ein Familienfoto. Und dann ein Schnitt auf eine Atombombenexplosion. Irgendwo, aber sie hat einen impact: alles driftet auseinander und direkt in die Hölle. An der Oberfläche eine Satire, eine Entlarvung. Aber darum geht es am wenigsten.

Ein pinku eiga, deshalb muss es alle paar Minuten erotische Attraktionen geben, oder zumindest etwas, das der Regisseur Hisayasu Sato seinen Produzenten als erotische Attraktion verkaufen kann. Und er kann einiges verkaufen. Auch konsensueller Heterosesex (kommt nur einmal vor, am Anfang und schon die Szene kippt in eine Vergewaltigung) hat bei Sato nicht den geringsten softcore-glamour-appeal. Die Tochter hat das Schlafzimmer der Eltern verwanzt und masturbiert zu dem, was sie über Kopfhörer empfängt. Die Lustschreie werden von der Lust abgespalten.

Das Auseinanderdriften: Die Mutter bleibt zu Hause, erst einmal, am Esstisch, vor dem Fernseher. Sie masturbiert zu einem Fitnessvideo, dessen aggressive Körperlichkeit direkt auf sie überzuspringen scheint. Der Vater verlässt das Haus und kommt nicht mehr zurück. Er masturbiert auf einer Toilette, läuft, zwar in korrekter Salaryman-Kluft und mit dtreng gekämmerter (und doch irgendwie verdächtiger) Frisur, aber doch völlig orientierungslos, durch eine Hochhauswelt, steigt am Ende einem Jungen nach, rennt vor ein Auto und bekommt einen Stoß versetzt; hoch wirbelt es ihn in die Luft, mehrmals, nicht eigentlich ist das ein Körper (es ist auch tatsächlich keiner, sondern ein trick shot, glaube ich), sondern eine Seele, die zum Himmel will. Aber dann liegt er doch zermatscht am Boden. Komplizierter ist die Sache mit der Tochter: Entweder zieht sie sich die Schuluniform an, fährt mit dem Fahhrad über einen Bahndamm, der irgendwann mal Teil eines Ozufilms gewesen hätte sein können, herunter, beginnt eine lesbische Affäre mit einer Lehrerin und wird anschließend vergewaltigt. Oder sie bleibt zu Hause und wird dort vergewaltigt. Man kann die szenische Abfolge sicher auch anders interpretieren, als Traum / Auwachen zum Beispiel, aber entweder / oder gefällt mir besser. Es passt auch besser zur Abstraktheit des Films. Die Schwester ist die einzige, die auch außerhalb von Sex-und Gewaltszenen Großaufnahmen bekommt: Der Film interessiert sich für die Finger vor ihren Augen, für ihren Blick in die Welt durch diese Finger hindurch, nachdem sie sich, das ist eine der schönsten Szenen dieses trotz all dem Fürchterlichen, was in ihm geschieht, oft fast schon zauberhaft schönen Films, vor der Schule auf den Boden hat fallen lassen und dort zu rollen beginnt; ohne offensichtlichen Grund, vielleicht einfach, weil sie diese Erfahrung machen wollte.

Die Hölle: Der Sohn, über dessen Verbleib sich der Rest der Familie wundert, sitzt in seinem Zimmer. An der Wand hängt etwas, das aussieht wie ein Modell einer Stadt. Dieses Modell taucht immer wieder auf. Manchmal ist nicht ganz klar, ob es sich um dieses Modell handeln soll, oder um eine Vogelperspektive auf eine wirkliche Stadt. Der Sohn unternimmt Experimente mit Elektrizität. Eine weitere Atombombe "löst sich". Auch im Sohn "löst sich" etwas. Während er erst sich selbst, dann seine Mutter, dann seine Schwester, dann wieder sich selbst zurichtet, dringt kalte, ironische, ein wenig noisige Musik in den Film ein.

Exciting Eros ist nur eine knappe Stunde lang und doch passiert noch mehr als das Beschriebene (das sicherlich den einen oder anderen Beschreibungsfehler erhält, das liegt auch am Materialzustand, allzuviele Details habe ich nicht erkannt). Eines nach dem anderen, wie eine Aufzählung, gefilmt das eine wie das andere absolut ruhig und souverän, erst kurz vor Schluss geben einige Faustschläge auch der Kamera etwas mit von der Irritation, der sie entspringen. Aber wie eine kurze, harmlose Infektion schüttelt der Film das schnell wieder von sich ab.

Ein kranker Film? Klar, aber wer braucht schon gesundes Kino.

Friday, June 15, 2012

Charles Willeford: New Hope for the Dead (American Eighties 22)

Der zweite Band der Hoke-Moseley-Reihe ist ein faszinierendes Buch. Sehr gemächlich, fast behäbig geht es los, ganz anders als der erste Band Miami Blues, wo gleich zu Beginn ein Psychopath schon bei der Anreise, auf dem Flughafen, einen äußerst untermotivierten Mord verübt und wo man dann anschließend in eine Parallelmontage eingespannt wird, die bis zum bitteren Ende durchgehalten wird. Der zweite Band hat nicht einmal einen zentralen Fall, es gibt zwar eine vermeintliche Überdosis, deren Hinterfragung als Klammer dient, aber der Rhythmus des Buchs wird bestimmt von Aufschüben; von übersichtlichen Aufschüben, genauer gesagt, der Horizont bleibt trotzdem stets im Blick, nichts fällt ganz beiseite; immer wieder vergewissert sich Moseley seines Programms für die nächsten ein, zwei Tage; und immer wieder wird das Programm mehr oder weniger genau so abgearbeitet.

An Hoke Moseley bleibt im ersten Band vieles opak, im zweiten werden seine Lebenssituation, sein familiärer Hintergrund, seine finanzielle Lage und seine Stellung im Revier breit aufgerollt, er bekommt schließlich sogar seine beiden Töchter und seine kubanischstämmige Kollegin an den Hals geschrieben. Dass er sich beispielsweise die Zähne von einem befreundeten Zahnarzt hat herausschlagen und durch künstliche ersetzen hat lassen, das war zwar schon im ersten Band erwähnt worden; da war das für mich aber nur ein weirdes Detail unter vielen, das mir diesen Moseley grundlegend unheimlich gemacht hatte. Im zweiten Band wird ausführlich erklärt, warum er die Prozedur über sich ergehen lassen musste. Da hatte ich nur noch Mitleid.

Erst mit der Zeit merkt man, dass die ganze, kleinteilige Beschreiber- und Charakterisiererei darauf hinausläuft, dass am Ende nichts mehr ist, wie am Anfang, für keinen der Beteiligten. Die lächerliche Beförderungsschieberei im Revier ist eine jämmerliche Parodie der Umwälzungen, Entwurzelungen, Neuerfindungen (konkreter: Umzüge, Schwangerschaften, Familienzerwürfnisse), die im echten Leben ganze Biografien hinwegfegen. Der Clou, auf den schon der Titel verweist, die "Neue Hoffnung für die Toten", setzt genau an dieser Stelle an: Einige alte Fälle sollen Moseley und seine Partner wiederaufgreifen, um ihren Chef bei den interdepartmental politics zu unterstützen. Aber sie kommen kaum dazu, die jeweiligen Akten auch nur zu lesen, denn eine grundlegende Instabilität (die auch die anderen, älteren Willeford-Bücher, die ich kenne, prägt) sorgt dafür, dass sich gleich an den ersten beiden Tagen zwei Fälle fast wie von selbst erledigen. Rechts und links, so scheint es, fallen Menschen aus dem Leben heraus und wie zufällig wieder in es hinein. Im Kleinen, scheint das Buch zu sagen, ist alles, im Großen nichts berechenbar; und vor allem: das Große ist aus dem Kleinen nicht ableitbar. Ein, zwei, drei Schritte sind in jede Richtung kalkulierbar, aber der Abgrund unter dem vierten Schritt ist umso tiefer.

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Hoke Moseley spricht mit einer seiner Töchter:

"(...) As girls, you've got two choices. Either you work, or you marry some guy who'll support you."
"I don't want to get married," Aileen said. "Ever!"
"Okay then. You can wash dogs.(...)"

Tuesday, June 05, 2012

in passing: Berlin Documentary Forum 2

Wer die Gelegenheit hat, Ginrin, den ersten Film des großen japanischen Experimental- und seltener Spielfilmregisseurs Toshio Matsumoto zu sehen, der sollte sie unbedingt ergreifen. Ginrin wurde vom japanischen Fahrradherstellerverband (oder einer ähnlichen Organisation) in Auftrag gegeben und erzählt eine Art Geburtsgeschichte des Fortbewegungsmittels: Zuerst existiert es nur als verqueres, schief in der Gegend herumstehendes Traumbild, fast wie von Dali gezeichnet, dann beginnen seine chromglänzenden Einzelteile zu tanzen, vor farbig pulsierenden Hintergründen, zu wundervoll durchgeknallter Musik. Langsam setzt sich das Gerät zusammen und schließlich in Bewegung, fährt durch jetzt zwar fotorealistische, aber trotzdem immer noch wundersam bunte, außerweltliche Landschaften; genauer gesagt fährt die Kamera auf dem Fahrrad und gibt schwebende, leichtfüßige Blicke auf eine Welt frei, die ihren eigenartigen, psychedelischen Zauber auf mich sicher nicht nicht nur aufgrund ihrer räumlichen und zeitlichen Differenz zu mir gewirkt hat.

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Mit Naomi Kawases Spielfilmen Shara und (vor allem) The Mourning Forest hatte ich meine Probleme; ihr Dokumentarfilm Tsuioku dansu aber hat mich tief berührt. "I make films to leave something behind" sagt die Regisseurin am Anfang, als sie sich ihrem Gegenüber, den sie im Bild festhalten möchte, nähert. Mit einer simplen Videokamera filmt Kawase den todkranken Fotografen und Filmkritiker Kazuo Nishii: Sein Krankenzimmer (die Kamera scannt die kahlen Wände ab, die nichts von diesem verschwindenden Leben preisgeben, dann wirft sie manchmal einen sehnsüchtigen Blick aus dem Fenster), seinen schwachen Körper, seine Gespräche mit seiner Frau (die ihm manchmal ein Lied singt) und vor allem mit ihr selbst. Die brüchigen, definitiv nichthochdefinierten Bilder suchen nichts als den bloßen Abdruck, ein paar belebte Linien, ein paar letzte Flächen des organischen Lebens, ein paar letzte, dem Nichts entgegengesprochene Worte. Immer wieder Nishiis krächzendes Husten, dann das Ausspucken ins Taschentuch, als wolle er in die Welt diffundieren.


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Möglichst bald sehen möchte ich, nachdem ich mir Eric Baudelaires The Anabasis of May and Fusako Shigenobu, Masao Adachi and 27 Years Without Images angeschaut habe, Adachis A.K.A. Serial Killer. Die dort entwickelte “landscape theory” (fûkeiron) scheint auch Baudelaires Film inspiriert zu haben. Nach dem Festival habe ich mir auch noch Grandrieuxs Adachi-Film Il se peut que la beauté ait renforcé notre résolution - Masao Adachi angesehen, der ergänzt sich gut mit Baudelaires (und ist für sich selbst, als ästhetisches Objekt, doch noch einmal deutlich interessanter): der Körper Adachis, der bei Baudelaire abwesend ist, steht hier fast die ganze Zeit im Zentrum. Am Anfang sitzen er und ein junges Mädchen, das vielleicht seine Tochter, vielleicht auch seine Enkellin ist, auf einer Schaukel. Er schwingt der Kamera entgegen, wieder und wieder, bis er fast mit ihr zusammen zu stoßen scheint, sein eigene Stimme spricht dazu als voice over wie in Schleifen verfangen über Erinnerung, Philosophie und das Kino.

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Ein Gedanke, der mir nach Volker Pantenburgs Vortrag zum Schwenk gekommen ist: die Bezeichnung "Kamerafahrt" ist zwar passend für Aufnahmen mithilfe von Dolly, Steadycam und motorisierten Fahrzeugen (und abgewandelt als "Kameraflug" auch für Hubschrauber- und Kranaufnahmen), aber für jene besonders in den letzten Jahren allgegenwärtigen Formen der Kamerabewegung, die die Laufbewegung der Kamerafrau nicht verbergen, sondern als Effekt ins Bild eintragen (also sozusagen für die "ungefederten" Kamerabewegungen) eigentlich nicht. Auch der englische "tracking shot" passt nicht so recht, auch der verweist eigentlich auf etwas Flüssiges; "Plansequenz" und "Sequenzeinstellung" sind zwar neutraler, beschreiben aber nicht die Bewegung selbst. Fehlt da der (Fach-)Sprache ein Wort? Hier wird fürs Englische "Follow" angeboten, aber einerseits ist das nicht so ohne weiteres übersetzbar, andererseits impliziert es einen Bezugspunkt, den die Bewegung gar nicht haben muss.