Cinephilie ist nicht zu trennen von der Praxis des Listenmachens, aber auch nicht vom Unbehagen an der Praxis des Listenmachens. Denn in der cinephilen Auflisterei - der besten Filme, der schlechtesten Filme, der unterschätztesten Schauspielerinnen, der überschätztesten Westernregisseure und so weiter - kommt all das, was an Cinephilie pathologisch ist oder zumindest sein kann, besonders deutlich zur Geltung: eine zwanghaft-kompulsive Verbissenheit, die Ordnung schaffen will, wo doch erst einmal nur Schaulust ist; der Narzissmus derjenigen, die alles und noch viel mehr und vor allem ganz viel völlig Unbekanntes gesehen haben; außerdem eine latent aggressive Note, etwa, wenn der populäre Szenefavorit auf die hinteren Ränge abgeschoben wird, einfach, weil das meine Liste ist und ich hier machen kann, was ich will.
Dennoch liebe ich Listen und erstelle gelegentlich auch welche. In einer populären Facebookgruppe, in der die Mitgliederinnen und Mitglieder ihre monatlichen Lieblingsseherlebnisse auflisten, bin ich allerdings nur noch passiv, als Leser, dabei. Ein dort immer mal wieder in der einen oder anderen Form auftauchender Streit betrifft die Länge der Liste: Könne jemand, wird gefragt, der (die weit überwiegende Mehrheit der Mitglieder ist männlich) regelmäßig mehr als 30 bis 40 Filme pro Monat aufliste, überhaupt ein “gesundes” Verhältnis zum Kino haben? Beziehungsweise neben dem Kino noch “ein Leben”?
Mich verwundern solche Fragen, schon aufgrund praktischer Überlegungen. Statistischen Erhebungen zufolge schaut jede und jeder Deutsche im Schnitt über 200 Minuten Fernsehen pro Tag. Das entspricht locker der Laufzeit zweier kompletter Spielfilme. 60 Filme pro Monat anzuschauen ist so gesehen keineswegs ein Zeichen für ein irgendwie extremistisches Verhalten, sondern lediglich eine unter mehreren Alternativen für die Freizeitgestaltung.
Es geht mir aber gar nicht darum (oder, ok, ein bisschen vielleicht schon), das Vielsehen zu verteidigen. Mich interessiert eher, warum in cinephilen Diskussionen - längst nicht nur in dieser speziellen Facebookgruppe - die Idee des Zuvielsehens überhaupt so präsent ist. Teilweise könnte sich das zurückführen lassen auf eine nachträgliche Internalisierung elterlicher Verbote und Mahnungen: Junge, geh doch mal raus. Nur müsste es dann andere Bereiche der popkulturellen Unterhaltung wie insbesondere das Fernsehen oder Computerspiele ebenfalls, beziehungsweise noch viel mehr treffen.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Diskussion, zumindest in manchen ihrer Ausprägungen, kinospezifisch ist. Es scheint etwas am Kino, beziehungsweise an Filmen (denn wo und wie sie gesehen werden, spielt in diesen Debatten erst einmal keine Rolle) zu geben, das sie für Cinephile gleichzeitig zum Objekt der Begierde und verdächtig macht. Mehr als die exzessiven Nutzer anderer Produkte der Kulturindustrie sind Filmfans immer schon in Selbstrechtfertigungen verstrickt. Vielleicht, denke ich mir, liegt das an dem in mancher Hinsicht totalitären Anspruch, den Filme an ihr Publikum stellen. Anders als Fernsehen oder Musik fordern sie nicht nur unsere beiläufige, sondern unsere - zumindest halbwegs - konzentrierte Aufmerksamkeit und auch unsere körperliche Zugewendetheit. Sie etablieren ein recht eng gedachtes räumliches Verhältnis zwischen sich selbst und uns und zumeist fixieren sie uns dabei auf die eine oder andere Weise. Gleichzeitig geben sie uns, anders als Computerspiele oder, weniger deutlich, Bücher, nicht die Illusion, Kontrolle über sie erlangen zu können. Besonders deutlich ist das im Kinosaal, aber selbst zu hause vor dem Laptop stellt sich die Sache nicht grundsätzlich anders da. Natürlich kann ich den Film hier nach Belieben anhalten - aber dann ist er schlicht und einfach nicht mehr da, zumindest nicht mehr in all seinen Dimensionen.
Bühnenkünste wie das Theater wiederum mögen ein noch strengeres Regime für ihre Zuschauer etablieren. Aber es besteht da zumindest in der Theorie die Möglichkeit, die Bühne zu stürmen. Das projizierte Bild hingegen lässt sich von mir nicht beirren. Film ist, so gesehen, tatsächlich die asymmetrischste aller Kunstformen. Vielleicht lässt sich der Eingangssatz auch deshalb verallgemeinern: Cinephilie ist nicht zu trennen vom Unbehagen an der Cinephilie.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
Dennoch liebe ich Listen und erstelle gelegentlich auch welche. In einer populären Facebookgruppe, in der die Mitgliederinnen und Mitglieder ihre monatlichen Lieblingsseherlebnisse auflisten, bin ich allerdings nur noch passiv, als Leser, dabei. Ein dort immer mal wieder in der einen oder anderen Form auftauchender Streit betrifft die Länge der Liste: Könne jemand, wird gefragt, der (die weit überwiegende Mehrheit der Mitglieder ist männlich) regelmäßig mehr als 30 bis 40 Filme pro Monat aufliste, überhaupt ein “gesundes” Verhältnis zum Kino haben? Beziehungsweise neben dem Kino noch “ein Leben”?
Mich verwundern solche Fragen, schon aufgrund praktischer Überlegungen. Statistischen Erhebungen zufolge schaut jede und jeder Deutsche im Schnitt über 200 Minuten Fernsehen pro Tag. Das entspricht locker der Laufzeit zweier kompletter Spielfilme. 60 Filme pro Monat anzuschauen ist so gesehen keineswegs ein Zeichen für ein irgendwie extremistisches Verhalten, sondern lediglich eine unter mehreren Alternativen für die Freizeitgestaltung.
Es geht mir aber gar nicht darum (oder, ok, ein bisschen vielleicht schon), das Vielsehen zu verteidigen. Mich interessiert eher, warum in cinephilen Diskussionen - längst nicht nur in dieser speziellen Facebookgruppe - die Idee des Zuvielsehens überhaupt so präsent ist. Teilweise könnte sich das zurückführen lassen auf eine nachträgliche Internalisierung elterlicher Verbote und Mahnungen: Junge, geh doch mal raus. Nur müsste es dann andere Bereiche der popkulturellen Unterhaltung wie insbesondere das Fernsehen oder Computerspiele ebenfalls, beziehungsweise noch viel mehr treffen.
Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Diskussion, zumindest in manchen ihrer Ausprägungen, kinospezifisch ist. Es scheint etwas am Kino, beziehungsweise an Filmen (denn wo und wie sie gesehen werden, spielt in diesen Debatten erst einmal keine Rolle) zu geben, das sie für Cinephile gleichzeitig zum Objekt der Begierde und verdächtig macht. Mehr als die exzessiven Nutzer anderer Produkte der Kulturindustrie sind Filmfans immer schon in Selbstrechtfertigungen verstrickt. Vielleicht, denke ich mir, liegt das an dem in mancher Hinsicht totalitären Anspruch, den Filme an ihr Publikum stellen. Anders als Fernsehen oder Musik fordern sie nicht nur unsere beiläufige, sondern unsere - zumindest halbwegs - konzentrierte Aufmerksamkeit und auch unsere körperliche Zugewendetheit. Sie etablieren ein recht eng gedachtes räumliches Verhältnis zwischen sich selbst und uns und zumeist fixieren sie uns dabei auf die eine oder andere Weise. Gleichzeitig geben sie uns, anders als Computerspiele oder, weniger deutlich, Bücher, nicht die Illusion, Kontrolle über sie erlangen zu können. Besonders deutlich ist das im Kinosaal, aber selbst zu hause vor dem Laptop stellt sich die Sache nicht grundsätzlich anders da. Natürlich kann ich den Film hier nach Belieben anhalten - aber dann ist er schlicht und einfach nicht mehr da, zumindest nicht mehr in all seinen Dimensionen.
Bühnenkünste wie das Theater wiederum mögen ein noch strengeres Regime für ihre Zuschauer etablieren. Aber es besteht da zumindest in der Theorie die Möglichkeit, die Bühne zu stürmen. Das projizierte Bild hingegen lässt sich von mir nicht beirren. Film ist, so gesehen, tatsächlich die asymmetrischste aller Kunstformen. Vielleicht lässt sich der Eingangssatz auch deshalb verallgemeinern: Cinephilie ist nicht zu trennen vom Unbehagen an der Cinephilie.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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