Thursday, October 03, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (3)

Deniz Ohde, Streulicht. Erschreckend präzise Erinnerungs- oder besser Wiederbegegnungsbilder, plastische Prosa, die einem (mir) den Atem nimmt, insbesondere in den rein beschreibenden Passagen, den Wegen zu Fuß durch den Heimatort, gleich zu Beginn und dann immer wieder. Fast schon Phantomschmerzlesen: Ich kenne den Ort nicht, von dem Ohde erzählt, kenne nicht einmal wirklich Orte wie diesen Ort - Industrieparks nur vom mit dem Zug daran vorbeifahren zum Beispiel; und doch erkenne ich die Ver- und Gebundenheit, die schicksalshafte Verfallenheit wieder in der Be- und Erschreibung der Heimat. Nur in den “Außenszenen” allerdings; sobald der Text ins Innere des Elternhauses führt, bin ich von der Erfahrung, die er vermittelt, radikal abgeschnitten. Das hat sozialstrukturelle und biografische Gründe, klar, aber es verweist auch auf die Differenz von Außen und Innen, geteilter symbolischer Ordnung und den diversen Selbst- und Gruppenabkapselungen, die in sie eingelassen sind. Toll, wie souverän der Text von einem zum anderen schaltet, den Schmerz der Nichtvermittelbarkeit mitkommuniziert, ohne je ins Lamentieren zu geraten.


Tijan Silas, Tierchen Unlimited. Nur allzu verständlich, dass Silas die Balance zwischen deutschen Nazischläger- und Frauengeschichten auf der einen und einem bosnischen Bürgerkriegsbildungsroman auf der anderen Seite nicht hält, dass letzterer durchweg mehr Raum und Gewicht beansprucht und die ersteren teils fast ganz aus dem Buch zu verdrängen droht. Balance um der Balance Willen einzufordern wäre natürlich auch öde, eh klar. Es ist nur leider so, dass mir selbst die Deutschlandpassagen besser gefallen, insbesondere all diese nicht mehr gar so fest in autfiktionalen Realitätseffekten verankerten, eher als schwer durchschaubare erotische Geister den Erzähler heimsuchenden Sarahs, Melanies, Graces, Murcias; es sind dann die sich vervielfältigenden und dann allesamt in Bosnien zugrunde gehenden Nazibrüder dieser deutschen Frauen (oder jedenfalls Deutschlandfrauen, Frauen, die zur Deutschlanderfahrung gehören), die, in Verbund mit einem bosnischen Nazi, die Verbindung stiften zu den Bürgerkriegs- und Jugendpassagen. Eine obendrein sprachlich angenehm fesselfreie Migrationsgroteske mit nazibruderförmiger Verklammerung - das ist schon ziemlich brilliant; nur würde ich halt noch gerner eine Version des Buches lesen, die stärker ins Phantasmagorische ausschlägt.


Ronya Othmann, Die Sommer. Ein großartiges Buch, das ich zunächst unterschätzt hatte. Zu schnell schien der Text mir in den beschreibenden Passagen von einem Detail zum nächsten zu springen, wenig Tiefenschärfe, nicht allzu viel Topographie. Vom Ende des Buches betrachtet ergibt das Sinn: Was der Text uns in der ersten Hälfte gibt, ist, anders als etwa in Streulicht, keine betretbare Welt, sondern eine verschlossene, versiegelte. Eine Folge alter, vergilbter Fotografien, verkürzt auf ihr jeweiliges Punktum. Es würde nicht weit führen, diese Welt als eine gegenwärtige zu beschwören, erschließen lässt sie sich, wenn, dann nur (und stets nur ein bisschen) in der Vervielfältigung der Perspektiven: Entgrenzung des erzählenden Ich ins Familiennetzwerk, Lebensfäden, die sich verwirren, auf kein einzelnes, individuelles Erfahrungszentrum mehr zurückverweisen. In Deutschland dann die Entwirrung der Fäden, die Rekonstruktion des Ich in und als Isolation und Trauma. Das Leipzig-Kapitel lese ich weniger als zweiten Teil, denn als Epilog, als Resonanzraum.

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