Wednesday, October 16, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (4)

Albrecht Selge, Silence. Vielleicht hat mich Wilhelm Genazino für Bücher wie dieses verdorben. Für Bücher, die auf Introspektion und inneren Monolog setzen, aber zu eng am Autoren-Ich angesiedelt sind, die zwar viele Genazino-artige Worte wie "Abschiedszerstückelung" oder "Gebrechlichkeitsgegenstand" enthalten, die die Introspektion letztlich gleichwohl zu wenig stilisieren. Die keine (mich ansprechende) Form finden für die eigene Passivität. Denn darin ähneln sich Selge und Genazino: Introspektion ist Ersatz für Aktion. Man horcht in sich hinein, weil sich etwas zwischen das Ich und die Welt geschoben hat, eine Blockade, die man weder weg-, noch umschreiben kann. Die entstehende Hilflosigkeit kann ich teils schon nachfühlen, und doch scheint es mir, als flüchte sich Selge nur allzu gern in Angelesenes oder auch in mich anödendes Rumgemeine etwa über John Cage. Vielleicht liegt mir schlicht auch persönlich die Genazino'sche Traurigkeit, die im Kern kleinbürgerliche Unerlöstheit mehr als die Selge'sche Passivaggressivität, das gereizte Nichterfülltsein trotz eines nach außen hin und ein Stück weit durchaus auch in der Eigenwahrnehmung gelungenen, in der Trias Sex, Familie und Musik aufgehobenen bürgerlichen Lebens.



Feridun Zaimoğlu, Ruß. Einerseits als Diegese erfahrungsgesättigt und materialdicht, vollgestellt mit physischen und sozialen minutiae, überquellend fast im Versuch, Taktilität, Rauhheit, Abgegriffenheit einer Welt zu vermitteln, die ganz eindeutig nicht die ist, in der das Buch seine Leser vermutet, die aber auf ihrer prinzipiellen Vorfindbarkeit besteht; andererseits im Sprachfluss, von Satz zu Satz, durch und durch künstlich, Welt als Spracherfindung, nie bloß dem Volk vom Maul abgeschaut, jedes Wort gesetzt als literarischer Eigenwert ohne Eins zu Eins Entsprechung im Ruhrpott oder sonstwo, eine Sprache, die die, die sie sprechen, nicht beglaubigt, sondern irrealisiert. Die Spannung zwischen beidem ist nicht auflösbar, auch nicht durch die Erzählung, die Zaimoğlu in ihr in Gang setzt, erst langsam, dann immer schneller und bestimmter. Alles reißt sie mit, die Erzählung, das Ruhrgebiet ist plötzlich nicht mehr Schlacke und Schicksal, ein paar griffige Sätze und es ist verschwunden und wir sind plötzlich in einer kinetischen Alpenfantasie. Alles, inklusive der Kausalitäten, wird maximal beweglich, dynamisiert, läuft auf einen totalen Gefährdungspunkt zu. Hilflos gleiten nicht nur die Figuren, sondern auch die Sätze dem Untergang entgegen. Derart abschüssig fühlen sich die letzten Seiten an, dass man merkt: allzu viel Halt kann es schon vorher nicht gegeben haben in diesem sonderbaren Buch.



Teresa Präauer, Kochen im falschen Jahrhundert. Ich kann mir nicht helfen, mit einer bestimmten Form von kulturbürgerlicher Selbstbespiegelung, die ziemlich en vogue zu sein scheint im Sample, kann ich nicht das geringste anfangen. Siehe auch: Anke Stelling, Barbi Marković. Hier ist das Setting noch einmal etwas enger, klaustrophobischer - praktisch die literarische und sicherlich kritisch-subversiver gemeinte Version einer Detlef-Buck-Diskurskomödie. Genuinem Erkenntnisinteresse gehorcht das selten bis nie, selbst das Motiv "Kochen als segmentierte soziale Erfahrung" bleibt Gimmick, es geht lediglich um ein sanftes Rearrangement des in den eigenen Kreisen eh Vorausgesetzten. Sprachlich fließt die linksliberale Wohlstandsgesellschaftsaufstellung bei Präauer viel variabler, wendiger als bei Stelling und Marković, umso mehr ärgere ich mich über die schematischen, von Anfang an zum Abschuss freigegebenen Figuren. Es gibt einen Kurzschluss von beobachtetem Verhalten und Innerlichkeit in diesem Buch, der persönliche Freiheit ebenso knallhart einschränkt wie literarische.



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