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Sunday, October 18, 2020

Phantombilder

Wenn ich müde bin und einen langsamen Film anschaue, dann bilde ich mir manchmal ein, Bilder oder auch ganze Szenen zu sehen, die tatsächlich nicht auf dem Bildschirm (im Kino ist mir das, glaube ich, noch nie passiert) erschienen sind. Ich bin mir nicht sicher, wie das phänomenologisch abläuft; die Müdigkeit ruft das Phänomen hervor und verhindert gleichzeitig seine analytische Durchdringung. Sind das schlichtweg Traumbilder, die ich hinterher dem Film zurechne? Habe ich, während ich sie "sehe", die Augen geschlossen? (Ich glaube nicht.)


Oder ist es so, dass sich im müden Zustand die gedanklichen Abschweifungen, die mich auch im wachen Zustand beim Filmschauen gelegentlich überkommen, verfestigen und als geistiges Bild sich manifestieren? Das dann ebenfalls mit dem Filmbild amalgamiert. Einen Schritt weiter: Hieße das nicht, dass der Film in solchen Momenten zu meinem Welthorizont wird, dass er also nicht mehr nur ein "als ob", bzw "was wäre, wenn" ist, sondern die jeweils nächstliegende Referenz für alle Gedanken, die mir durch den Kopf gehen? Dürfte ich daraus schließen, dass ich in den Film tiefer eintauche, wenn ich ihn nicht allzu exakt wahrnehme? Einschränkend allerdings: Wenn ich meine halbbewußten Gedankenspiele auf den Film projiziere, bedeutet das sicherlich nicht, dass ich den Film mit der Wirklichkeit verwechsele. Eher ist es so, dass ich plötzlich nicht mehr zwischen zwei unterschiedlichen Formen von Fiktion unterscheiden kann.


Eine andere Hypothese: Habe ich diese Bilder in auch nur irgendeinem Sinne gesehen? Ist es nicht eher so, dass ich plötzlich denke, ich hätte gerade etwas gesehen? ("War da nicht gerade eine Szene, in der...?") Entstehen diese Phantombilder vielleicht immer nur retrospektiv, als gefälschte Erinnerungen? Was aber wäre dann ihr Auslöser? Etwas im Film oder etwas in mir oder die Verbindung von beidem? Überhaupt stellt sich die Frage, was der Film für die Bilder, die in ihm nicht enthalten sind, für eine Funktion hat. Ist er ihr Nährboden oder lediglich eine neutrale Projektionsfläche? Zeigen die Bilder einen Mangel an oder einen Reichtum / ein generatives Potential?


Wie auch immer diese Bilder entstehen: Manchmal sind sie so plastisch, dass ich tatsächlich im Film zurückspringe, um zu überprüfen, ob ich die Szene nun gesehen oder mit nur eingebildet habe. Es stellt sich dann jedesmal heraus, dass die Szene nicht im Film ist, das heißt schon die Unsicherheit darüber, ob ein Bild Teil des Films war, ist ein Indiz dafür, dass das nicht der Fall ist. Wie müsste ein Film beschaffen sein, dass er wiederum diesen Effekt simuliert?


Es wäre schön, wenn es mir gelänge, eine Sammlung anzulegen, einerseits der Phantombilder und andererseits der Bilder, die von den Phantombildern zugedeckt oder zumindest überlagert werden.

Friday, January 23, 2015

Reprise, Herve Le Roux, 1995

Das sonst ewig flüchtige revolutionäre Subjekt hat für einmal einen Körper gewonnen; oder jedenfalls das Bild eines Körpers: Hervé Le Roux hat es in einem agitatorischen Kurzfilm aus dem Jahr 1968 entdeckt: Eine junge, sehr, sehr wütende Frau mischt sich da in Diskussionen zwischen Arbeitern, Gewerkschaftlern und linksbewegten Studenten ein, die darum kreisen, ob nach einem Streik die Arbeit wiederaufgenommen werden soll. Es bricht regelrecht aus ihr hinaus: Unter welch fürchterlichen Bedingungen sie und ihre Kolleginnen (am Fließband arbeiten ca. 70% Frauen) arbeiten müssen, wie unzureichend die wenigen Zugeständnisse der Betriebsleitung im Zuge des Streiks sind, wie hilflos sie sich fühlt. Alle Umstehenden und auch die Kamera und auch alle, denen Le Roux den Film knapp 30 Jahre noch einmal vorführt, bemerken sofort, dass mit diesem Menschen etwas Besonderes passiert in diesen paar Minuten.

Das revolutionäre Subjekt hat ziemlich sicher im Jahr 1968 am Fließband der Batterienfabrik "Wonder" gearbeitet, und zwar "bei den Kohlen", wo es besonders schmutzig zuging und wo eine besonders unerbittliche Vorarbeiterin die Fließbänder überwachte. Wahrscheinlich war es ebenfalls für kurze Zeit Mitglied in der kommunisitischen Gewerkschaft. Wahrscheinlich ist es, nachdem die Urabstimmung der Belegschaft, bei der es möglicherweise nicht mit rechten Dingen zugegangen ist, wieder zum Arbeitsplatz zurückgekehrt. Möglicherweise hat es dabei Tränen in den Augen. Vielleicht trägt es den Namen Jocelyn, vielleicht hat es im Nachbarort geheiratet, vielleicht auch (aber wahrscheinlich doch nicht) einen bärtigen Arbeiter, der im Bild neben ihr steht und der seinerseits "ein Gorilla, ein ziemlicher Aufreißer" war; vielleicht hat es kurz nach der Heirat eine Tochter bekommen, die es nach einer Freundin auf den Namen Nenette taufte.

Dass Le Roux am Ende zwar fast alle anderen Personen, die damals vor und hinter der Kamera aktiv waren, aufgestöbert und größtenteils auch gefilmt hat, dass es ihm aber nicht gelungen ist, dem revlutionären Subjekt selbst, das natürlich ohnehin keines mehr wäre, leibhaftig und nicht nur als Bild zu begegnen, ist die von weitem absehbare (und deshalb ohne schlechtes Gewissen spoilerbare) Pointe des Films. Aber beileibe nicht das, worauf es eigentlich ankommt. Es ist auch, nebenbei bemerkt, überhaupt nicht wichtig, ob Le Roux tatsächlich primär am politischen Subjekt Jocelyn interessiert ist, oder ob nicht am Anfang der Untersuchung die erotische Anziehugskraft stand, die durch das grobkörnige Filmmaterial hindurchwirkt, wenn die junge Frau mit Pony und Hochsteckfrisur gleichzeitig aufbrausend und in sich gekehrt zu ihren Tiraden ansetzt. Ihr Gesicht wirkt sozusagen gesteigert formbar, inbesondere, wenn sie den Mund im Affekt aufreist, wird es sofort und zur Gänze zum Medium eines ohne jede Vermittlung (stimmt natürlich nicht) nachfühlbaren Affekts. Vielleicht wollte Le Roux, und das wäre ein sehr integres Motiv, die Frau auch einfach nur aus der paternalistischen Rahmung lösen, in die sie in einer Szene des Films eingebettet ist, wenn gleich zwei besserwisserische Gewerkschaftsfunktionäre (kein bisschen möchte und kann ich Partei ergreifen in der Sachfrage um die es in der Szene geht, in der Frage, ob die Wiederaufnahme der Arbeit letzten Endes gut und schlecht für die Arbeiterinnen und Arbeiter war) ihr gut zureden, ihr von links ein Arm auf die Schulter, ihr von rechts ein anderer auf ihren eigenen gelegt wird.

Viel mehr geht es um das, was bei den Gesprächen sonst alles einerseits erzählt, andererseits (am Sprechenden, an der Gesprächssituation) sichtbar wird; also darum, wie wir in der Gegenwart an diese Vergangenheit (an diese spezifisch gerichtete Vergangenheit) anschließen können. Um eine oral history des Arbeits- und sonstigen Alltags in der Pariser Industrieperipherie geht es, um das Flohmarktviertel von Saint-Ouen, um den Arbeitsprozess, um die Arbeiterinnensolidarität, um den faschistischen Betriebsleiter, um diverse innerlinke Zerwürfnisse, um Frauen an den Fließbändern, die sich nicht betatschen ließen, um Bürokräfte, bei denen man sich da nicht so sicher ist, um den paternalistischen Chef, der der Sekretärin schonmal Kartoffeln fürs Wochenende mitgibt, der aber zu geizig ist, der Belegschaft auch nur ausreichend Seife anzuschaffen (die wird, nachdem sie doch angeschafft wird, mit Sägespänen gestreckt), um einen Vorfall Jahre später, kurz vor der endgültigen Schließung des Werkes, schließlich, bei dem eine Vorarbeiterin dem Abwicklungschef eins mit dem Regenschirm über den Kopf gegeben hat.

Der Film sollte in jedem post-68-er-Filmprogramm laufen. Zu den üblichen Autorenkino-Erinnerungsfilmen von Garrel bis Assayas / Bertolucci usw verhält er sich wie ein Realitätscheck. Und zwar nicht etwa, weil es für einmal tatsächlich um die Arbeiter (und dann auch noch: um Arbeiterinnen) geht, die in den fast durchweg aus (männlicher) Studentenperspektive erzählten übrigen Filmen im Off bleiben, als zu agitierendes, aber dann wohl doch nicht ausreichend agitiertes revolutionäres Verfügungsmaterial. Tatsächlich gibt es diese Perspektive in dem Film auch: Einer der (sympathischsten) Interviewten war 68 ein Gymnasiast, der die Arbeiter zum Weiterstreiken anstacheln wollte und im Film von Gewerkschaftsfunktionären mit sanfter Gewalt ins Abseits, an den Bildrand gedrängt worden war. Heute verleiht er Surfbretter an der Bretagne (?), freut sich sichtlich über die eigene, wiedererwachende Erinnerung. Was Le Roux' Film von den anderen 68er-Erinnerungsfilmen unterschiedet, ist nicht die politische Perspektive, sondern ein spezifischer Materialismus filmischer Aufmerksamkeit, seine Art, Gesten, Möbel, Orte, Welt zu registrieren.

Denn es geht auch um die Gegenwart, um das, was aus den Arbeiterinnen und Arbeitern knapp dreißig Jahre später, im Jahr 1995, geworden ist. Fast interessanter als die Regenschirmgeschichte ist die Art und Weise, wie die betroffene Frau heute über die Vergangenheit redet, wie sie zittert, nervös den Blick abwendet, immer wieder hektisch nachfragt, die Regenschirmepisode derart panisch verdrängen möchte, dass sie selbst doch unwillkürlich immer wieder auf sie zusteuert. Die meisten anderen sind entspannter. Teilweise finden die Gespräche draußen statt, auf Campingstühlen oder Parkbänken. Die meisten Männer sind gemütliche Rentner, die meisten Frauen weiterhin äußerst aktiv. Eine der ehemaligen Fließbandarbeiterinnen (eine von sechs oder sieben Schwestern, die alle in der Batteriefabrik arbeiteten; eine zweite will nicht vor die Kamera; das Gespräch findet in einem Bistro statt und ist eines der schönsten des Films) konnte damals, kann auch heute noch nicht viel mit dem Streik anfangen. Le Roux fragt sie mehrmals, ob sie denn mitgestreikt habe, oder ob sie drinnen arbeiten war. Sie meint jedesmal: "Ich musste streiken, weil ich nicht hineingehen konnte". Sie bekommt beides nicht auseinander.

Besonders toll sind jene Sequenzen, in denen Le Roux seinen Gesprächspartnern den historischen Film zeigt. Der läuft auf einem kleinen Fernseher, der meist behelfsmäßig, oft ebenfalls im Freien aufgebaut ist und sofort alle Blicke bannt. Wütend ist niemand mehr, aber distanzieren will sich auch keiner von seiner politischen Vergangenheit, viele lachen lauthals los, der faschistische Betriebsleiter wird von jeder/m einzelnen erkannt und benannt (wie, als wolle man durch Namensnennung nachträglich einen Fluch bannen), zweimal zeigen Mütter ihren ebenfalls vor dem Fernseher sitzenden Kindern den Arbeitsplatz. Fast alle dauern exakt eine Filmrolle lang, sobald die Abnutzungserscheinungen der Kopie deutlicher sichtbar werden, weiß man, jetzt kommen bald die Überblendzeichen und dann ist das Gespräch zu Ende, dann wird Le Roux (ein schlacksiger, ironischer, äußerst sympathischer Typ) weiter fahren, zum nächsten Gesprächspartner.

Sunday, February 23, 2014

Berlinale 2014: Chiisai ouchi / The Little House von Yoji Yamada

Wie schon 2013 war auch 2014 der letzte aktuelle Film, den ich auf der Berlinale gesehen habe, ein neues Werk des japanischen Klassizisten Yoji Yamada. Anders als Tokyo Family ist The Little House nicht unbedingt ein Meisterwerk; aber doch ein schöner, kluger Erinnerungsfilm. Die Rahmungen (die am Ende auf interessante Art überhand nehmen), bezeichnen die inzwischen auseinandergebrochenen Familienbanden (eindrücklich vorgeführt in Tokyo Family) sehr beiläufig, ganz eigentlich erst im Kontrast mit der noch eng verbundenen Hausgemeinschaft der Rückblende.

Der Schließung der Hausgemeinschaft, um die es geht - eine junge Frau, die sich in ihrer Ehe unwohl fühlt, eine Affäre mit einem Kollegen ihres Mannes beginnt; der Mann, der nichts ahnend sich ausgerechnet für die Verheiratung des Liebhabers seiner Frau zuständig fühlt; schließlich die Erzählerin der Geschichte, die Großtante, die bei dem Ehepaar als Hausmädchen angestellt ist - entspricht die Schließung der melodramatischen Form. (Und demenstprechend laufen die in der Gegenwart angesiedelten Rahmungen ins Offene aus...) Die Erzählführung ist hochökonomisch; die Jugendzeit der Großtante im Norden Japans wird durch eine einzige Einstellung im meterhohen Schnee repräsentiert, fast unmittelbar danach wechselt der Film in das "kleine Haus", das er dann kaum noch einmal verlässt.

Nostalgisch ist wenig an der Rückblende, die sich als Erinnerung der uralten Großtante entfaltet, die allerdings, auch da sind die schachtelartigen Rahmungen sehr klug gewählt, gleichzeitig den ganzen Film über schon tot ist - fast scheint mir, dass alle Nostalgie auf den etwas außerweltlichen knallroten Glanz der Dachziegel des Hausdachs verschoben ist. Die Rückblende setzt ein während der frühen Phasen des Pazifikkriegs und endet (zumindest fast) mit der Bombardierung Tokyos, die wiederum in einer einzigen Einstellung repräsentiert wird; in einer ziemlich sonderbaren Einstellung, genauer gesagt, in der dieser sonst ganz besonders deutlich (nämlich durchaus im Sinn eines Aufrufens von klassischen Frauenmelodramen; zum Beispiel der Filme Mikio Naruses) am klassischen japanischen Erzählkino orientierte Film plötzlich für einen kurzen Moment in ein modernistisches Register zu wechseln scheint.

Nostalgisch ist wenig an dem Film, weil die Großtante in ihrer Erinnerung nicht die Vergangenheit (und damit den Militarismus) verklärt, sondern ihre höchstpersönlichen Erfahrungen gegen die Geschichte setzt. Der Großneffe, der der innerdiegetische Adressat der Erzählung (aber vielleicht der Co-Autor der Rückblende?) ist, wirft ihr genau das einmal vor: Du kannst nicht über Deine Jugend als eine glückliche Zeit sprechen, wenn parallel dazu die Gesellschaft faschistisch wurde und brutale Vernichtungskriege in China geführt wurden. Die Rückblende allerdings ist klüger, sowohl als die Nostalgie der Großtante, als auch als der Vorwurf des Großneffen: In ihr werden die Rituale und Alltagskonventionen des japanischen Faschismus, die "Banzai!"-Rufe, das Japanfahnenschwenken, das Marschliedergegröhle nicht etwa verborgen; sie nehmen im Gegenteil viel Platz ein im Film, werden aber konfrontiert mit Gesten der Intimität, die mit ihnen absolut unvereinbar sind - weil sie sich jeder Verallgemeinerung und Vergemeinschaftung entziehen: ein Kniff in den Oberarm, ein verstohlener Blick, eine gestreifte Berührung im Vorbeigehen. Und im Zentrum ein Begehren, das noch nicht einmal in solchen Gesten sich entäußern kann, weil es sich selbst nicht erkennt.

Wednesday, January 01, 2014

Report from the Interior von Paul Auster

Die vier Teile des Buchs ("Report From the Interior", "Two Blows to the Head", "Time Capsule" und "Album") heben sich streng voneinander ab. Den letzten Teil, der Fotografien mit Zitaten aus den ersten drei Teilen auf langweilig literale Art kombiniert und der mir auch sonst nicht recht einleuchten will (die Montagen gelingen teils ganz gut, immerhin), beiseite gelassen, scheint mir das Buch da am interessantesten, wo es literarisch am problematischsten ist. Und da am uninteressantesten, wo es literarisch am stärksten oder wenigstens am rundesten ist.

Was nicht heißen soll, dass mir der erste Teil, der so heißt, wie das Buch insgesamt, die Erinnerungs/Innerlichkeitssplittermontage (das ist die besondere Crux: erinnert werden soll nicht zuerst das äußere, sondern dessen Rückhall im Innern) "Report From the Interior", nicht gefallen hätte. Von Anfang an hat mir der offenherzige Tonfall zugesagt, der weitgehende Verzicht auf Selbststilisierung, auf Originalitätsbehauptungen auch: Ein Leben erst einmal wie jedes andere, alle Spezifizierungen und Besonderungen müssen irgendwoher kommen, von irgendwelchen Sinneseindrücken und von irgendwelchen Erlebnissen, beides nicht mehr zugänglich für den Autor, der notwendig in seiner Gegenwart schreibt. Deshalb hat jede Auswahl, die aus dem Pool der Erinnerungen getroffen wird, einen Aspekt von willkürlicher Setzung. Auch in dieser Hinsicht hat mir Austers Entscheidung eingeleuchtet, nicht in der ersten, sondern in der zweiten Person zu schreiben, sich selbst als einen anderen, aber in der direkten Hinwendung zu konstruieren. Ebenfalls sympathisch ist die Konsequenz, die diese Entscheidung bis in die Inkonsequenz durchhält: Da Auster auf einen Diskurs hinstrebt, der auf sich selbst hin durchsichtig ist (was natürlich stets umso augenfälliger scheitert, je angestrengter es versucht wird) schreibt er auch über sein aktuelles Schreiben und nennt auch den aktuellen Schreiber: "You". Wo genau die Grenze zwischen "You" und "I" liegen könnte, wird immer unklarer, erst recht in Teil 3.
Was an Teil 1 manchmal problematisch ist: Dass es erkennbar zwei widerstrebende Bemühungen gibt, weil zum einen die Erinnerungs/Innerlichkeitssplitter als Splitter, also losgelöst und freischwebend präsentiert werden sollen, dass andererseits aber doch die Geschichte einer Prägung erzählt wird, noch ärger, einer Prägung, deren Resultat das Schreibende Ich zu kennen glaubt (und gleichzeitig schiebt das schreibende Ich dieses Wissen im Wechsel zum "You" wieder von sich weg...). Und dass dieses Widerstreben selbst nicht deutlich herausgearbeitet ist, nicht selbst Form wird.

Die beiden folgenden Kapitel lösen das Problem, indem sie Widerstände einbauen in Form von Objekten, die sich außerhalb der literarischen Selbstgesprächs befinden. Teil 2 "Two Blows to the Head" besteht aus zwei Filmberichten: Der junge Paul Auster war erst von Jack Arnolds "The Incredible Shrinking Man" tief beeindruckt, ein paar Jahre später von Mervyn LeRoys "I Am a Fugitive from a Chain Gang". Durchaus irritierenderweise sind das jeweils eher Filmnacherzählungen als Filmerlebnisnacherzählungen: Genaue Beschreibungen der Handlung und (seltener) der formalen Gestaltung, durchsetzt lediglich mit eher kurzen Hinweisen auf damals besonders eindrückliche Szenen und, ein wiederkehrendes Motiv, Antezipationen, die dann vom Film wiederlegt werden: Aha, jetzt wird also alles doch noch gut. Und dann kommt der Film und macht alle Hoffnung zunichte. Denn darum geht es, folgt man der Rekunstruktion Austers, in beiden Filmen: Um die Zertrümmerung aller Sicherheiten, aller metaphysischen Sicherheiten im Fall des Arnold-Films, aller sozialen Sicherheiten im Fall des LeRoy-Films. Erst aus Perspektive dieser Filmlektüren gewinnen auch die Motive des ersten Buchteils stärker Kontur, die Prägung nicht als ein Sich-Verankern in der Welt fassen, sondern ganz im Gegenteil als einen Sturz ins Nichts.
Offensichtlich hat Auster die Filme, bevor er das Kapitel geschrieben hat, noch einmal gesehen. Vielleicht sogar: während er es geschrieben hat, Szene für Szene. Er beschreibt das Kondensat einer wiederholten und wiederholbaren Seherfahrung, an die nur gelegentlich jene Erinnerungs/Innerlichkeitssplitter andocken, die im ersten Kapitel etabliert worden waren. Anders als im deutlich uninteressanteren (abgesehen vom Kapitel zu Barthes) Filmerinnerungsbuch "The Remembered Film" von Victor Burgin geht es nicht darum, zu zeigen, dass die Erinnerung selektiv auf Filme zugreift, sie zersetzt und dadurch verändert etc. Der Punkt bei Auster ist gerade, dass der Film ist bleibt, was er ist und dass er in all seine felsenfesten Konstanz dazu geeignet ist, ganz im Gegenteil das Subjekt, das mit ihm Konfrontiert wird, zu verstören, wenn nicht zu zertrümmern. Das wäre eine geeignete grammatikalische Kippstelle: Das "I" vor dem Film ist nicht dasselbe "I" wie das "I" nach dem Film und wird deshalb zum "You".

Der dritte Teil des Buchs, "Time Capsule", ist der problematischste, aber vielleicht gleichzeitig der interessanteste. Er besteht aus Briefen, die Auster Anfang 20 seiner ersten Frau geschrieben hat, teils während Reisen in verschiedenen Teilen der USA, teils während eines mehrmonatigen Paris-Aufenthalts. In den Briefen wird das "You" der ersten beiden Teile, das gleichwohl in einordnenden Passagen ebenfalls präsent bleibt, zum "I". Wo die Filmerfahrungen nur kurz und betont oberflächlich kontextualisiert werden, beschäftigt sich der dritte Teil explizit mit "biography building", die Vorbemerkungen zu den Briefen sind nicht selten deutlich länger als diese selbst. Wiederum, wie in Teil 1, ist schön, dass der Auster von heute den Auster von damals nicht stilisiert, auch nicht zu entschuldigen sucht, dass er auch dann nicht peinlich berührt von ihm zu sein scheint, wenn es durchaus Anlass dazu gäbe.
Noch deutlicher als in Teil 2 tritt das (produktive) Missverhältnis zwischen den (Selbst-)Imaginationsakten der Erinnerung und der Evidenz von Objekten (das im vierten Teil des Buches für meine Begriffe grundfalsch aufgelöst wird; aber vielleicht sehe ich da auch irgendetwas nicht), an die sich Erinnerungen binden, hervor. Die Briefe können, anders als Filme, nicht nur nacherzählt, sondern wortwörtlich zitiert werden. Noch dazu handelt es sich jetzt um Evidenzen, die direkt auf Innerlichkeit verweisen. Und die von Auster, das ist irritierend, aber möglicherweise die große Stärke dieses Kapitels, auch genau so behandelt werden: Als materielle Beweisstücke, die einen Blick in die sich selbst fremd gewordene Seele erlauben. Die "bei Licht betrachtet" (aber das Licht wäre ein falsches) nur wenige Wochen dauernde und nicht allzu spektakuläre Paris-Episode, in der Auster das Studium abbricht, sich einem obskuren Filmprojekt zuwendet und schließlich doch wieder die sichere Variante wählt (USA, Fortsetzung des Studiums), wird in den Briefen zu einem weiteren existenziellen Abgrund, zu einem weiteren Sturz ins Nichts. Und der Auster von heute erkennt, dass er kein Recht hat, da irgendetwas wegzuerklären oder zu relativieren.

Wednesday, July 20, 2011

Jump'n Run (Erinnerte Computerspiele 2)

Am liebsten gespielt habe ich Adventure-Games, am häufigsten und längsten aber vermutlich die jump'n run-Klassiker: Super Mario Brothers, Kirby's Dreamland, Donkey Kong, Prince of Persia. Computerspiele sind - das zu erkennen, macht einen noch nicht zum Kulturpessimisten - immer auch Ersatzbefriedigung, gleichzeitig Symptom und Agent der Entfremdung von Natur und physischer Erfahrung. Nirgends sind sie das so eindeutig wie im jump'n run, nicht, weil diese Spiele besonders eskapistisch wären, sondern, ganz im Gegenteil, weil sie die Differenz durch Minimierung, durch Mimesis an die tatsächlichen Fähigkeiten, die Erfahrungswelt des Spielers, erst sichtbar, vielleicht in Maßen für den Spieler selbst prozessierbar machen: Anstatt draußen zu springen und zu rennen, sitzt man drinnen vor dem Computer oder vor dem Fernseher und lässt einen Avatar springen und rennen. Es ist nur ein Schritt (der Druck eines Knopfes) von drinnen nach draußen (auf dem Gameboy, den ich selber nie besessen, aber bei anderen exzessiv mitbenutzt habe, stellt sich das noch einmal deutlicher dar); die Bewegung auf dem Bildschirm fließt manchmal tatsächlich wieder in echte Bewegung zurück. Auch umgekehrt: Wie kann der Schritt von draußen nach drinnen prozessiert werden? Vielleicht auch als Reflexion der eigenen Bewegung / der eigenen Beweglichkeit? Auch die Unzulänglichkeiten der Simulation werden in diesem Abgleich viel direkter erfahren: Der digitale Sprung fühlt sich nicht wie der echte an, er ist immer defizitär, genau wie die Kästchenförmige Welt Marios, der ihre Programmiertheit direkt ästhetisches Programm geworden zu sein scheint (klar, in der Hinsicht sind die jump'n runs nicht alleine, das trifft fast noch stärker auf viele Strategiespiele zu), immer schon defizitär erscheint in Bezug auf die Wiesen, Bäche und Felder, die nur wenige Minuten vom Computer entfernt warten. Ich hatte das Glück, in einem Dorf aufwachsen zu können; die fast rührend naiven, exotischen Schauplätze der Spiele werden aber auch Stadtkindern kaum als echte Sehnsuchtsorte dienen können. (Die schönste Welt ist vielleicht das "dreamland" aus den Kirby-Spielen, das sich einsaugen, sich einverleiben und dann wieder ausspucken lässt; bleibt davon etwas übrig, wenn man das Spiel ausstellt und wieder nach draußen geht, von dieser Idee der Interaktion, der Selbstüberschreitung? Und funktionieren Träume am Ende tatsächlich so?)
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(Eine Einstellung in James Bennings Meisterwerk Ruhr kommt mir da in den Sinn, die zeigt eine gewöhnliche Straße, irgendwo in Bochum glaube ich. Die mehr oder weniger gleichförmig errichteten Häuser und Parkplätze auf beiden Seiten sind, das zu bemerken braucht die Zeit, die der Film einem gibt, gegenläufig symmetrisch angeordnet: wo auf der einen Seite ein Haus steht, ist auf der anderen ein Parkplatz und umgekehrt. Eine bedrückende, irgendwie ebenfalls "computerlogische" Modularisierung des urbanen Raums, der die Passanten, die immer wieder durchs - selbst ja auch digitale - Bild laufen, sehr grundsätzlich untergeordnet, unterworfen sind. Die traurigste, härteste Einstellung in einem traurigen, harten Film.)
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Jump'n runs scheinen eine durchlässigere Membran zur Welt zu haben als andere Formen des Computerspiels. Der jump'n-run-Spieler kapselt sich nicht ab, auf Netzwerkpartys (heute: auf den großen Onlineservern) wird nicht Super Mario Brothers gespielt, das glaube / hoffe ich zumindest. Jump'n runs sind primär für Joystick und Konsolen-Controller gemacht, also für Formen von Interface, die noch eher gleichzeitig auch Objekte im vollen Sinne sind - die verloren gehen, um die man sich streitet - als die Tastatur, die da so flach und passiv vor dem Computer liegt, als wolle / solle sie eigentlich gar nicht physikalisch existieren. (Fifa spielen zu zweit auf einer Tastatur)
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Pasolini: "Die Montage bearbeitet das Material des Films, wie der Tod das Leben bearbeitet". Ohne den Tod wäre das Leben deswegen eine unendliche Plansequenz. Und in dieser Hinsicht ist das jump'n run nicht nur nahe am, sondern auch ein Bild fürs Leben. Eine Serie ewiger Plansequenzen, pro Level / "Leben" eines. Die Kamera, die keine ist, hält gleichmäßig Abstand, zentriert auf den Avatar, sie ist dabei aber etwas träge, vollzieht nicht jede Bewegung nach. Das hat eher etwas vom falsch individualisierenden pan & scan der Kinoverschandlung im TV als von der "Ethik der Kamerabewegung" bei Ophüls oder den Stadtpassagen in Pasolinis Mama Roma. Die Plansequenzen des jump'n run könnnen nicht "bearbeitet" werden, wie das Leben durch den Tod oder der Film durch die Montage. Sie sind verdammt zur ewigen Wiederholung in ihrem eigenen Code (siehe auch das Autoren-Computerspiel The Passage).