Mit dem analogen Kino verschwinden seine Artefakte – all die Schrammen, Laufstreifen und sonstigen Fehler, die eigentlich keine Fehler sind, sondern Gebrauchsspuren. Beziehungsweise Verbauchsspuren. Einen Film vorführen heißt, ihn zu zerstören. Wie Narben auf dem Körper eines Soldaten verweisen die Artefakte des analogen Bilds auf vergangene Einsätze. Und wie die Narben auf dem menschlichen, können auch die auf dem filmischen Körper schön sein. Vielleicht könnte man sogar sagen: Wenn man sich lange genug mit den Narben des analogen Kinos beschäftigt, werden sie fast alle schön. Klar: manche mehr, manche weniger. Ein dicker Laufstreifen im Zentrum des Bildess sicherlich eher weniger; da überträgt sich der Akt der Aggression, dem der Filmstreifen einst einheimgefallen war, fast ungefiltert auf die Zuschauerin.
Das schönste Artefakt auf dem diesjährigen 18. außerordentlichen Kongress des Hofbauerkommandos, einem der analogen Filmprojektion verpflichteten Off-Festival im Kommkino Nürnberg, ist dezenter, es ziert ein paar Minuten des atmosphärischen, dabei weniger hypnotischen als selbst etwas schläfrigen Exorzistenfilms L‘osceno desiderio (Giulio Petroni, 1978). Auf der Leinwand erscheinen plötzlich zwei grünliche Flecken. Sie befinden sich auf der rechten Bildhälfte, senkrecht übereinander, mit gleichbleibendem Abstand voneinander. Vom Fleck bewegen sie sich nicht, aber sie sind auch nicht ganz stabil. Sie flackern und morphen, mal sind sie fast rund, mal schlagen sie ein bisschen zur Seite aus, vor allem nach rechts oben, mal strecken sie sich in die Länge und bilden einen Winkel. Insbesondere in letzterem Zustand ähneln sie zwei Vögeln, die flügelschlagend durch den Film gleiten. Oder vielleicht eher, weil sie sich ja nicht vom Fleck bewegen: Der Film gleitet um sie herum. Sie, nicht der Film, sind der (doppelte) Fixpunkt der filmischen Welt.
Bei einer früheren Vorführung muss, lasse ich mir erklären, der Filmstreifen aus seiner Laufbahn gesprungen und von einem der Zahnräder des Projektors erfasst worden sein. So lässt sich die relativ scharf umrissene Form der Schädigung erklären, ihre stabile Stellung im Bild, sowie der stabile Abstand der beiden Schädigungen. Es ist also die den Filmstreifen antreibende Mechanik, die einige Szenen lang direkt im Bild aufscheint. Genauer: Sichtbar werden – im Moment und aufgrund ihres vorübergehenden Zusammenbruchs – die mechanischen, regelhaften, mathematisch exakt durchkalkulierten physischen Voraussetzungen des in sich deutlich amorpheren, variableren, weicheren ästhetischen Erlebnisses Film.
Wobei die Pointe darin besteht, dass auch der mechanistische Überschuss im Bild sich im Moment der Projektion in ästhetischen, nichtmechanischen Mehrwert verwandelt. Eben, weil mich die Schrammen, sobald sie nicht mehr als physische (potentiell ertastbare) Makel des Zelluloidstreifens, sondern als auf die Leinwand projizierte Lichtphänomene erscheinen (die Leinwand selbst ist schließlich nicht beschädigt), an wie von Zauberhand in den Illusionsraum hineinprojizierte abstrakte Vogelkreaturen erinnern.
Nicht zuletzt passen sich diese Artefakte perfekt ins Farbschema des Films ein; oder genauer: ins Farbschema der Kopie. Die hat, wie viele aus dieser Zeit, inzwischen einen gehörigen Rot-, beziehungsweise Rotbraunstich. Das passt gar nicht so schlecht zum somnambulen Minimalismus eines Films, der die Erwartungen, die das zeitgenössische Publikum an Genrekino dieser Art gestellt haben dürfte, weitgehend gar nicht erfüllt: wenig Nacktheit und Sex, noch weniger Horror, zumindest bis kurz vor den Exorzismus nicht einmal allzu viel Hysterie. Stattdessen zumeist nur eheliche Tristesse in schummrig-großbürgerlichen Interieurs, schöne aber kaum wagemutige Siebzigerjahrekleidung mit vielen Stickereien, außerdem ein ziemlich verrücktes Bett, an dessen Kopfseite strudelartige Holzstrahlen befestigt sind. Jetzt hat sich, dem Lauf der Zeit und den photochemischen Eigenschaften des Zelluloidmaterials sei es gedankt, auch visuell alles saftig Grelle aus dem Film verabschiedet, insbesondere die Blau- und Gelbtöne sind fast komplett verschwunden. Nur das Grün ist noch weitgehen erhalten, es stemmt sich gegen die rote Flut und wird zum entscheidenden Element der Formgebung. In den Innenszenen ornamentalisiert das hier dezent eingesetzte Grün die Garderobe und die Inneneinrichtung, in den wenigen Außenszenen überschwemmt es das Bild komplett, lässt es, aufatmen, Energie tanken.
Und dann sind da eben noch die beiden grünen Zahnradvögel. Die fügen sich perfekt ein in die gedämpfte Visualität von L‘osceno desiderio; aber natürlich ohne je komplett mit dessen Illusionsraum zu verschmelzen. Eher sind das Urzeitvögel, Zeugen einer anderen, älteren bildlichen Dimension, die durch einen Riss in der audiovisuellen Matrix geschlüpft sind, sich ein wenig in einem vergessenen italienischen Genrefilm der späten 1970er umsehen – und bald wieder spurlos verschwinden.
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Das schönste Artefakt auf dem diesjährigen 18. außerordentlichen Kongress des Hofbauerkommandos, einem der analogen Filmprojektion verpflichteten Off-Festival im Kommkino Nürnberg, ist dezenter, es ziert ein paar Minuten des atmosphärischen, dabei weniger hypnotischen als selbst etwas schläfrigen Exorzistenfilms L‘osceno desiderio (Giulio Petroni, 1978). Auf der Leinwand erscheinen plötzlich zwei grünliche Flecken. Sie befinden sich auf der rechten Bildhälfte, senkrecht übereinander, mit gleichbleibendem Abstand voneinander. Vom Fleck bewegen sie sich nicht, aber sie sind auch nicht ganz stabil. Sie flackern und morphen, mal sind sie fast rund, mal schlagen sie ein bisschen zur Seite aus, vor allem nach rechts oben, mal strecken sie sich in die Länge und bilden einen Winkel. Insbesondere in letzterem Zustand ähneln sie zwei Vögeln, die flügelschlagend durch den Film gleiten. Oder vielleicht eher, weil sie sich ja nicht vom Fleck bewegen: Der Film gleitet um sie herum. Sie, nicht der Film, sind der (doppelte) Fixpunkt der filmischen Welt.
Bei einer früheren Vorführung muss, lasse ich mir erklären, der Filmstreifen aus seiner Laufbahn gesprungen und von einem der Zahnräder des Projektors erfasst worden sein. So lässt sich die relativ scharf umrissene Form der Schädigung erklären, ihre stabile Stellung im Bild, sowie der stabile Abstand der beiden Schädigungen. Es ist also die den Filmstreifen antreibende Mechanik, die einige Szenen lang direkt im Bild aufscheint. Genauer: Sichtbar werden – im Moment und aufgrund ihres vorübergehenden Zusammenbruchs – die mechanischen, regelhaften, mathematisch exakt durchkalkulierten physischen Voraussetzungen des in sich deutlich amorpheren, variableren, weicheren ästhetischen Erlebnisses Film.
Wobei die Pointe darin besteht, dass auch der mechanistische Überschuss im Bild sich im Moment der Projektion in ästhetischen, nichtmechanischen Mehrwert verwandelt. Eben, weil mich die Schrammen, sobald sie nicht mehr als physische (potentiell ertastbare) Makel des Zelluloidstreifens, sondern als auf die Leinwand projizierte Lichtphänomene erscheinen (die Leinwand selbst ist schließlich nicht beschädigt), an wie von Zauberhand in den Illusionsraum hineinprojizierte abstrakte Vogelkreaturen erinnern.
Nicht zuletzt passen sich diese Artefakte perfekt ins Farbschema des Films ein; oder genauer: ins Farbschema der Kopie. Die hat, wie viele aus dieser Zeit, inzwischen einen gehörigen Rot-, beziehungsweise Rotbraunstich. Das passt gar nicht so schlecht zum somnambulen Minimalismus eines Films, der die Erwartungen, die das zeitgenössische Publikum an Genrekino dieser Art gestellt haben dürfte, weitgehend gar nicht erfüllt: wenig Nacktheit und Sex, noch weniger Horror, zumindest bis kurz vor den Exorzismus nicht einmal allzu viel Hysterie. Stattdessen zumeist nur eheliche Tristesse in schummrig-großbürgerlichen Interieurs, schöne aber kaum wagemutige Siebzigerjahrekleidung mit vielen Stickereien, außerdem ein ziemlich verrücktes Bett, an dessen Kopfseite strudelartige Holzstrahlen befestigt sind. Jetzt hat sich, dem Lauf der Zeit und den photochemischen Eigenschaften des Zelluloidmaterials sei es gedankt, auch visuell alles saftig Grelle aus dem Film verabschiedet, insbesondere die Blau- und Gelbtöne sind fast komplett verschwunden. Nur das Grün ist noch weitgehen erhalten, es stemmt sich gegen die rote Flut und wird zum entscheidenden Element der Formgebung. In den Innenszenen ornamentalisiert das hier dezent eingesetzte Grün die Garderobe und die Inneneinrichtung, in den wenigen Außenszenen überschwemmt es das Bild komplett, lässt es, aufatmen, Energie tanken.
Und dann sind da eben noch die beiden grünen Zahnradvögel. Die fügen sich perfekt ein in die gedämpfte Visualität von L‘osceno desiderio; aber natürlich ohne je komplett mit dessen Illusionsraum zu verschmelzen. Eher sind das Urzeitvögel, Zeugen einer anderen, älteren bildlichen Dimension, die durch einen Riss in der audiovisuellen Matrix geschlüpft sind, sich ein wenig in einem vergessenen italienischen Genrefilm der späten 1970er umsehen – und bald wieder spurlos verschwinden.