Sunday, March 24, 2019

Konfetti 31: Spaltung

Eine weitere Lieblingsszene des Jahres 2018, diesmal eine, die leider mit ziemlicher Sicherheit nie in den deutschen Kinos zu sehen sein wird; denn der kurze Bollywoodboom der Nullerjahre ist längst abgeklungen, bestenfalls ein, zwei indische Filme schaffen es bei uns pro Jahr auf die Leinwand und die denen das gelingt, sind fast stets besonders spektakuläre Musical- und Actionblockbuster, wie zuletzt etwa S. Shankars 2.0. Keine Chancen haben hingegen leise, stimmungsvolle, fast meditative Liebesfilme wie Shoojit Sircars October einer ist.

October sei “kein Liebesfilm, sondern ein Film über Liebe”, ist allerdings in einer indischen Besprechung des Films zu lesen. Es geht, genauer gesagt, um eine unmögliche Liebe, um eine Liebesgeschichte, die bereits zuende ist, bevor sie begonnen hat. Oder, noch genauer und paradoxer: Es geht um eine Liebe, die erst im Moment ihrer Unmöglichkeit entsteht. Denn bevor Shiuli (Banita Sandhu) während einer Feier vom Dach des Hotels, in dem sie arbeitet, stürzt, hatten Dan (Varun Dhawan) sie kaum wahrgenommen. Als sie nach dem Unfall im Krankenhaus landet, weicht er jedoch nicht mehr von ihrer Seite.

Dass Shiuli überhaupt noch lebt ist ein Wunder, aber fortan liegt sie im Koma und kann nicht reagieren auf die unbedingte Zuwendung Dans, der seine eigene Karriere als Koch gefährdet, nur, um sooft wie irgend möglich an ihrem Krankenbett zu wachen. Er hat eigentlich nicht den geringsten Grund, hier zu sein, und gerade das, die Grundlosigkeit seiner Liebe, wird zum Zentrum des Films. Äußere Handlung gibt es darüber hinaus kaum. Der Film verschreibt sich ganz der doppelten Hilflosigkeit seiner Hauptfiguren, die im toten Raum der Cinemascopekompositionen ihren visuellen Ausdruck findet. Mit Dan gemeinsam scheint sich October Schritt für Schritt aus der Welt zurückzuziehen, alles konzentriert sich auf das in matten, unterkühlten Farben schimmernde Krankenhauszimmer Shiulis, ein Raum der reinen Innerlichkeit, in dem sich ein von einer grundsätzlichen, eleganten Hoffnungslosigkeit durchdrungenes Kammerspiel entfaltet, an dem neben Dan und Shiuli noch Shiulis Mutter Vidya (Gintanjali Rao) Teil hat. Die kann nicht verstehen, weshalb der ihnen vorher komplett unbekannte junge Mann sein eigenes Leben der Sorge um ihre Tochter widmen möchte. Gleichzeitig beginnt sie sich an ihn zu gewöhnen, die beiden finden vorübergehend aneinander Halt.

Meine Lieblingsszene ergibt sich direkt aus dieser Konstellation. Es ist Nacht. Zunächst ist eine Tür zu sehen, die sich nach Innen öffnet. Die Kamera schwenkt mit der sich bewegenden Tür mit, bis rechts im Bild Vidya auftaucht. Sie steht vor einem Fenster, spätestens jetzt wird klar, dass wir uns ein weiteres Mal im zentralen Raum des Films, am Bett der Schwerverletzten, befinden. Die Tür nimmt die Hälfte des Bildraumes ein, das Licht ist maximal heruntergedimmt, ein blaugrünes Schimmern zeichnet die Umrisse Vidyas in das Bild ein. Der Film ist an einer Art Nullpunkt angekommen, nicht nur Handlungsoptionen sind blockiert, sondern auch der bloße visuelle Zugriff auf die Welt. 




Und auch die Verbindungen zwischen den Figuren sind gekappt. Obwohl sich alle drei Hauptfiguren, Dan, Vidya und Shiuli, im selben Raum befinden, bleiben sie im Bild isoliert. Auf die Türeinstellung folgt ein Schnitt auf Shiuli, die im Bett liegt, fahl beleuchtet ins Nichts starrend. Und während Vidya Dan - der seinerseits die gesamte Szene über hinter der Tür verborgen bleibt, nie voll ins Bild tritt - bittet, in Zukunft nicht mehr ins Krankenhaus zu kommen und sein eigenes Leben zu leben, wechselt der Film mehrmals zwischen diesen beiden Einstellungen hin und her: Vidya am Fenster und Shiuli im Bett. Wie, als würde ein Schnitt gelegt durch den Raum, wie, als wäre es (uns? Oder Dan?) unmöglich, beide Frauen gleichzeitig visuell zu erfassen. Dazu auf der Tonspur das Piepsen eines medizinischen Apparats, rhythmisch und auch die Blilder rhythmisierend. Eine Struktur des allseitig unerfüllten, aber auch kategorisch unerfüllbaren Begehrens, die in der subjektlosen Blickmontage (das Subjekt bleibt im Verborgenen, hinter der Tür), einen wunderschönen und tieftraurigen Ausdruck findet. 



Wir befinden uns im intimsten Inneren des Films, und doch findet selbst dieser Abschiedsblick (dass es sich um einen solchen handelt, weiß man sofort, und dass der Film danach noch ein wenig weiterläuft, dass es sogar zu weiteren Begegnungen der drei kommt, ändert daran nichts) nicht zu jener imaginären Ganzheit, die aus einem der schönsten Filme über Liebe, die ich in den letzten Jahren gesehen habe, nur einen weiteren Liebesfilm machen würde. Erst, wenn Dan sich zurückzieht und die Tür hinter sich schließt, schneidet Sircar in eine Totale, die die beiden Frauen im nun plötzlich viel prosaischer anmutenden Krankenzimmer gemeinsam zeigt. Der Dritte, der ein ganz normales, alltägliches Leid durch seinen unvernünftigen, unerklärlichen Blick in ein gewissermaßen abstraktes Melodrama verwandelt hatte (in ein Melodrama ohne Drama, möchte man fast sagen) ist verschwunden und geht seinem eigenen, einsamen Leiden entgegen.