Wednesday, September 25, 2019

Konfetti 36: Silhouette

Nacktheit ist im Kino längst nicht mehr der Skandal, der sie einmal war. Dennoch stellt sie immer noch eine Art Grenz- oder Testfall des Visuellen dar. Der Nacktheit ist die Behauptung einer absoluten Sichtbarkeit inhärent, auch deshalb (und eben nicht nur aufgrund von historishen Zufälligkeiten wie Zensurbestimmungen oder Moralvorstellungen) ist sie nach wie vor mit einem Tabu belegt. Das sich allerdings längst nicht mehr in absoluten Bilderverboten äußert, sondern in einer Tradition des spielerischen Ent- und Verhüllens, die sich durch alle Epochen der Filmgeschichte verfolgen lässt.

Mich interessiert ein Sonderfall. Wenn ein nackter Körper nicht “direkt” vor der Kamera steht, sondern sich als Silhouette auf einer Oberfläche, zum Beispiel einem Vorhangstoff, abzeichnet: Was genau sehen wir dann? Den Körper oder nur ein Bild, das den Körper darstellt? (Sehen wir im Kino nicht ohnehin immer nur sein Bild?) Führt von der Silhouette nicht stets eine Spur zum realen Körper? (Eine Spur allerdings, die unter Umständen täuschen kann.) Könnte man anders herum vielleicht sogar sagen, dass die Silhouette eines nackten Körpers noch nackter ist als ein Bild des “echten” nackten Körpers? Schließlich muss der Film, der eine nackte Silhouette zeigt, diese Nacktheit ausstellen, damit sie überhaupt sichtbar wird, er muss also gerade das, was einen nackten von einem angezogenen Körper unterscheidet, in den Blick rücken.

Nicht zuletzt ist die nackte Silhouette fast schon automatisch ein Zeichen, das Nacktheit kommuniziert. Die nackte Person ist - zumindest vorläufig - nur noch ein Bild der / ihrer eigenen Nacktheit und als solches etwas, das auf eine andere, betrachtende Person verweist - das gilt selbst dann noch, wenn in der entsprechenden Szene keine andere Figur anwesend ist. In einem solchen Fall können wir kaum anders, als uns vorzustellen: stünde dort jemand, so würde dieser jemand genau dies jetzt sehen. Der nackte Körper selbst braucht kein Gegenüber, unverstellte, "direkte" Nacktheit kann zum Beispiel auch einfach auf den Naturzustand des Menschlichen verweisen; die Silhouette eines nackten Körpers ist ohne Gegenüber hingegen kaum interessant. Die Nacktheit hat die Sphäre des Kreatürlichen verlassen und ist in den Bereich des ästhetischen Spiels hinübergetreten.

Eine Szene, die solche und ähnliche Fragen aufwirft, findet sich in Frank Wisbars Barbara - Wild wie das Meer, einem bundesdeutschen Inselmelodram aus dem Jahr 1961, das in den letzten Jahren, im Verlauf mehrerer Sichtungen, zu einem meiner Lieblingsfilme avanciert ist. Die Silhouette taucht an einem neuralgischen Punkt der Handlung auf: Die Arztwitwe Barbara (Harriet Anderson) übernachtet gemeinsam mit Paul (Helmuth Grien), der die Praxis ihres verstorbenen Mannes übernehmen soll, in einem Landgasthaus. Da der Platz eng ist, schlafen Barbara und Paul im selben Zimmer, getrennt nur von einem Stofftuch und einer Art Gatter.

Dass die beiden sich zueinander hingezogen fühlen, wurde vorher ausreichend deutlich. Ein Liebespaar werden sie allerdings erst durch die Silhouette der nackten Barbara, die sich, bevor sie sich ins Bett legt, kurz auf dem Leintuch abzeichnet. Da es sich um einen noch weitgehend züchtigen Unterhaltungsfilm handelt, ist die Nacktheit nur Andeutung, aber eben: eine entscheidende Andeutung. Auf dem Stoff zeichnet sich ab, wie Barbara sich, aufrecht stehend, dabei die Rundungen ihres Körpers betonend, das Kleid über den Kopf zieht. Paul schaut zunächst in ihre Richtung, dann richtet er den Blick hilflos nach oben.

Er selbst hatte sich vorher, ganz ohne Silhouette, das Hemd ausgezogen. Sein nackter Körper ist im Bild deutlich präsenter als der ihre. Aber anders als seine ist ihre eine kommunikative, kalkulierte Nacktheit: Während er sich einfach nur auszieht, kontrolliert sie, was er von ihr sehen darf. Im nächsten Schritt kontrolliert sie, was er von ihr berühren darf. Nachdem sie eine Weile still nebeneinander liegen, gleichzeitig getrennt von und vereint durch Wisbars Montage, die die beiden auf Kopfkissen gebetteten Köpfe zeigt, in Großaufnahmen isoliert, schiebt Barbara eine ihrer Hände durch einen Spalt in der Stoffwand und lässt sie von Pauls Hand einfangen. Anschließend steht sie auf und blickt, durch einen anderen Spalt, zu ihm herunter. Weiterhin ist sie ihm nur als ein Bild verfügbar, allerdings nun als ein Bild, das Annäherung zulässt. Durch die Latten des Gatters hindurch küssen sie sich, und erst dann öffnet Barbara eine hölzerne Tür - es öffnet sich, anders ausgedrückt, ein dritter Spalt, der ihn, so steht zu vermuten, zu ihr führen wird.

Eine Verführungsszene, in der sich der Körper in ein Kommunikationsmittel verwandelt, über das souverän verfügt wird. An die Stelle der Wucht sexuellen Begehrens, die geläufigen Vorstellungen zufolge idealerweise vom ganzen Körper in all seinen sinnlichen Dimensionen und außerdem gewissermaßen in einem Ruck Besitz ergreifen soll, setzt Wisbars Film eine Abfolge erotischer Dispositive, die auf einzelne Sinne (Blick; Tastsinn) und isolierte Körperteile, beziehungsweise -aspekte (Gesicht, Hand, Nacktheit) verweisen; diesen korrespondiert eine Abfolge von Öffnungen, die metaphorisch den Geschlechtsakt vorwegnehmen.





















Außerdem verweist die Szene auf eine andere, frühere im Film. Während einer feuchtfröhlichen Feier landet Barbara mit einem spanischen Matrosen in einem Stall. Erst streckt sie sich einladend im Stroh aus, aber als er sich auf sie legt und sie stürmisch zu küssen beginnt, streckt sie ein Bein aus - und öffnet mit ihren Zehen ebenfalls ein Gatter. Hinter dem sich eine Gruppe von Schafen befindet, die sogleich das Liebesnest stürmt und den Matrosen vertreibt. Geht es also darum, dass Barbara die “tierische” Sexualität ablehnt zugunsten einer verfeinerten und letztlich fast körperlosen Liebeskunst? Wohl kaum, sowohl Barbara als auch Wisbar haben einfach nur ein filmisches, effektbewusstes Verhältnis zum Sex.
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Tuesday, September 17, 2019

Zu den Sternen, hierher


Es mag, der beiden "wilde Tiere auf verlassenen Raumstationen"-Szenen zum Trotz, dem Zufall geschuldet sein; aber mich interessiert doch die sonderbare Ähnlichkeit von High Life und Ad Astra. Schon die Ausgangssituation: In beiden Filmen wird die Hauptfigur mit einer neuen, posthumanistischen Ordnung des Wissens konfrontiert , die sie zurückweisen muss, zugunsten von primären Bindungen, die den Massstab des Menschlichen respektieren. (Ein zentraler Unterschied, allerdings: in High Life geht es um den posthumanistischen Gehalt, in Ad Astra um die posthumanistische Form dieser neuen Wissensordnung). Insofern sind beides skeptische, vielleicht auch konservative Filme und Ad Astra ist zwar der pragmatischere, aber nicht unbedingt der weniger pessimistischere. Eben weil sich am Ende keine neue Schöpfung andeutet, sondern eine resignative Anerkennung der Welt als eine beschädigte. Der Ausweg in die Biologie ist verschlossen, es genügt, wenn man die psychologische Evaluierung wieder besteht. Mir ist das, glaube ich, näher.

Wednesday, September 11, 2019

Konfetti 35: Liebesbriefe

Es ist nicht unbedingt ein Akt der Notwehr, aber doch einer der bestimmten Ablehnung: Ich wünsche mich, während ich Peter Farrellys Green Book sehe, in einen anderen Film. In einen, der im realexistierenden Green Book als Ahnung enthalten ist, aber sich nicht entfalten kann. Und zwar wünsche ich mich in einen Film, der seinen Ausgangspunkt nicht bei der Konzertreise nimmt, die den schwarzen, distinguierten Pianisten Don Shirley (Mahershala Ali) und dessen weißen working-class-Chauffeur Tony Vallelonga (Viggo Mortensen) durch den amerikanischen Süden führt, oder jedenfalls nicht bei der Freundschaft, die sich zwischen den beiden ungleichen Reisenden nach initialen Spannungen erwartungsgemäß entwickelt; sondern bei einem Briefwechsel, der eine dritte Figur ins Spiel bringt: Tonys Frau Dolores (Linda Cardellini).

Die bittet ihren Mann vor dessen Reiseantritt: Bitte schreibe mir doch regelmäßig. An Tonys brummeliger Antwort ist abzulesen, dass das geschriebene Wort nicht gerade seine Stärke ist (während er in seinen wasserfallartigen Redefluss gelegentlich durchaus rhetorische Perlen einfließen lässt: “I'm not worried. In fact, when you see me worried, you'll know”). So kommt es, dass er sich die Briefe nach hause bald von Don diktieren lässt. Wodurch sich deren Inhalt und Form radikal verändern. Aus - so steht zu vermuten - grobschlächtigen, kurz angebundenen Wasserstandsberichten werden über Nacht glühende Liebesbriefe, geschliffen formulierte Sehnsuchtspoesie.

Im Film ist das, wie gesagt, nur eine Nebenhandlung. Die sich, das ist das zentrale Problem, das ich mit Green Book habe, rückstandslos einfügt in eine Ökonomie der soziokulturellen Aushandlung. Wie Tony dem Pianisten Street-Smartness beibringt, erweckt Don in seinem Chauffeur den Sinn für das Wahre, Gute und Schöne (und nebenbei werden, wieder und wieder, Alltagsrassismen symbolisch besiegt und Klassenschranken, genauso symbolisch, eingerissen). Dieses Gegeneinanderaufrechnen sorgt dafür, dass der Briefwechsel, wie alles andere, eine rein funktionale Drehbuchidee bleibt, ein Rädchen in einem Plotgetriebe, das letztlich keine Verwendung hat für die leise, ironische Perversion, die in diesem für sich selbst genommen schönen Einfall angelegt ist.

Denn schließlich kann man die Sache auch so sehen, dass Tonys Briefe, sobald er sie sich von Don diktieren lässt, gar nicht mehr Tonys Briefe sind; sondern eben Dons. Tony ist gar nicht Beteiligter, sondern lediglich ein Medium dieser Kommunikation. Tatsächlich macht eine Szene spät im Film deutlich, dass Dolores genau weiß, aus welchem Kopf die poetischen Ergüsse stammen, die sie über mehrere Wochen hinweg erhalten hat: Als Don nach dem Ende der Konzertreise Tonys Wohnung aufsucht, umarmt sie den Besucher und flüstert ihm ihren Dank ins Ohr. In dem auf Oscartauglichkeit optimierten Film, der Green Book leider ist, verweist diese Botschaft einzig auf Dolores’ Freude darüber, dass Don ihrem Mann “neue Horizonte eröffnet” hat, die möglicherweise auch auf das Eheleben ausstrahlen. In dem anderen, besseren Film, den ich mir ersehne, könnte diese Umarmung eine ganz neue, verborgene Welt evozieren.

Es ist das erste und einzige Treffen der beiden im Film. Vorher, wenn Don die Briefe diktiert, hat er nur eine vage Ahnung von der Empfängerin, und auch Dolores weiß kaum etwas über den eigentlichen Autor der Worte, die sie liest. Gerade in diesem doppelten Nichtwissen liegt das Potential dieser Briefe. Es ermöglicht beiden Seiten, die Kommunikation zu überformen mit eigenen Projektionen. Der allein in einem extravagant ausgestatteten New Yorker Appartment lebende Don ist, das macht eine weitere Szene des Films (auch die eingebaut in die aufdringliche Ökonomie soziokultureller Aushandlung) deutlich, schwul, die reale Dolores dürfte ihm kaum - aber natürlich kann man sich auch da nicht sicher sein - als ein Objekt erotisch-ästhetischer Anbetung taugen. Was ihn am Briefeschreiben fasziniert, ist vielleicht eher der Wunsch, mit seine Kunstfertigkeit für einmal einen Menschen ganz persönlich, intim zu berühren. Dolores wiederum sehnt sich weniger nach dem konkreten männlichen Körper Dons, als nach einem Ausbruch aus ihrer engen Lebenswelt. Die Briefe sind Elemente einer doppelt verfehlten Kommunikation - die aber trotzdem stattfindet und eine Funktion erfüllt, weil sie die Erfahrungswirklichkeit zweier Menschen verändert und die von identitären Zuschreibungen überformte Realität um einen Möglichkeitsraum erweitert. Oder hätte erweitern können, wenn der Film denn bereit gewesen wäre, es zuzulassen.