Friday, October 25, 2019

Konfetti 39: Schützengraben

Der Erste Weltkrieg war nicht nur der historisch erste (große) Krieg, der vom Kino umfangreich reflektiert wurde, in gewisser Weise ist er bis heute der Inbegriff des kinematografischen Krieges geblieben. Keine andere kriegerische Auseinandersetzung in der Geschichte ist so eng mit einem spezifischen Arsenal an Bildern und dramatischen Situationen verbunden. Eben diese im Ersten Weltkrieg geprägten Bilder und Situationen sind heute die Kriegsfilmbilder und Kriegsfilmsituationen schlechthin, haben sich also bis zu einem gewissen Grad von ihrem Ursprung emanzipiert.

Das gilt vor allem für ein zentrales Rolle Motiv: Der Schützengraben ist nicht nur der privilegierte Schauplatz des Ersten Weltkriegs, sondern garn allgemein die Welt des Krieges en miniature. In ihm hat das Kino eine Möglichkeit gefunden, sowohl die Schrecken als auch den Thrill des Krieges audiovisuell handhabbar zu machen. Der Schützengraben ist ein Raum, der problemlos im Studio nachgebaut werden kann, er ist in seiner physischen Form überschaubar (bzw.: gerade nicht überschaubar, deshalb kann ein kleiner Bereich pars pro toto für den gesamten Graben, für die gesamte Front stehen), aber in seinen dramaturgischen Potentialen schier unerschöpflich. Zum Beispiel, weil er gleichzeitig ein Ort der klaustrophobische Einschließung und des unberechenbaren Chaos ist. Kaum jemand kann sich ungestört drei Schritte nach links oder rechts bewegen, aber gleichzeitig kann jederzeit aus dem Off des Bildes eine Granate genau vor meine Beine geflogen kommen.

Außerdem wird Krieg im Schützengraben in erster Linie über die Verteilung von Sicht- und Hörbarkeit, beziehungsweise, noch wichtiger, Nichtsichtbarkeit und Nichthörbarkeit, prozessualisiert. Konkreter ist im Schützengraben Sichtbarkeit, also die wichtigste sinnliche Basis des Filmischen, direkt mit dem Tod assoziiert. Besonders deutlich wird das in einer Szene, die in der einen oder anderen Variation fast in jedem Film, der im Ersten Weltkrieg spielt, auftaucht: Soldaten kauern im Schützengraben, während ein paar hundert Meter weiter, in den gegnerischen Stellungen, ein Scharfschütze lauert. Oder vielleicht nur gelauert hat, denn schließlich können die Soldaten im Graben das nicht überprüfen, ohne sich selbst in die Schusslinie zu begeben. Zumindest nicht direkt, visuell. Selbst sichtbar werden dürfen sie nicht, aber sie können das Feld des Sichtbaren manipulieren. Zum Beispiel mithilfe eines Helms, der, auf der Spitze eines Gewehrs balanciert, einen sich unvorsichtig weit aus der Deckung herauswagenden Soldaten simuliert. Fast immer läuft das darauf hinaus, dass der Helm eine Kugel einfängt - ein treffendes Bild dafür, dass und wie die moderne Kriegsführung vom Menschen abstrahiert: Der direkte Augenkontakt der Kontrahenten im Kampf Mann gegen Mann wird ersetzt durch den Einschlag eines Projektils auf einem gepanzerten Kopfschutz, unter dem sich kein Kopf mehr befindet.

Auch eine der eigenartigsten Schützengrabenszenen, die mir je untergekommen ist, beginnt mit einem derartigen Helmtest. In Steve Sekelys My Buddy (1944), einer faszinierenden, ziemlich abstrusen B-Produktion, die sich nur kurz dem Ersten Weltkrieg selbst widmet und anschließend eine Kriegsheimkehrerbiografie entwirft, die in einem Gangsterfilm mündet, kauert Eddie (Don Barry) gemeinsam mit seinem Schlachtgefährten Spats (Jay Norris) im Graben, belauert von einem deutschen Scharfschützen, der den in die Höhe gehaltenen Dummyhelm denn auch bei erster Gelegenheit durchlöchert. Eddie zieht daraus die richtigen Schlüsse, Spats allerdings nicht. Genauer gesagt bekommt der von seiner Umwelt überhaupt nicht mehr viel mit, weil er sich von dem Gespräch über die Heimat hat mitreißen lassen, das er und Eddie inmitten der Kriegswirren führen.

Eddie hatte ihm von dem Mädchen berichtet, das in Chicago auf ihn wartet. Spot ist schon von dieser Erzählung so agitiert, dass er aufzuspringen versucht. Noch kann Eddie ihn zurückhalten. Aber gleich anschließend beginnt Spats davon zu schwärmen, wie er in Amerika als Musicalstar auf der Bühne gestanden habe. Als er dann auch noch anfängt, zu singen, und zwar den Titelsong des Films, wendet Eddie sich kopfschüttelnd ab. Spats ist so komplett gefangen in seiner Performance, dass er sich bald, wie auf der Bühne, zu voller Größe aufrichtet. Es folgt ein Schnitt auf den Sniper, der das Gewehr anlegt, dann ein zweiter auf Eddie, der halb resigniert, halb belustigt in die Gegend blickt - und gleich darauf freilich aufschrickt, weil ein Schuss fällt, just als Spats bei den Worten “My Buddy” angelangt war.

Es geht noch weiter: Im Sterben gesteht Spats seinem Kumpel, dass seine Performance nicht auf einer Erinnerung, sondern auf einer Fiktion basiert. Er habe, erzählt er, während er seine letzten Atemzüge tut, in seinem Leben noch nie auf einer Bühne gestanden, stattdessen sei er als “soda jerk” in einer Apotheke angestellt gewesen. Seinen Traum von künstlerischer Selbstverwirklichung, von öffentlicher, stolzer Sichtbarkeit hat er erst jetzt verwirklicht, in der ungünstigsten aller möglichen Situation. Aber möglicherweise gleichzeitig: in der für ihn einzig möglichen. Vielleicht waren die nervernzerfetzende Hoschpannung und die Allgegenwart des Todes im Schützengraben notwendige Voraussetzung dafür, dass er sich in ein anderes Leben hineinimaginieren konnte. Der Schützengraben war für ihn die einzig mögliche Bühne. Wenn auch nur für ein paar kostbare Sekunden. Wiederum nur ein paar Sekunden nach Spats’ Tod stürmen jubelnde Soldaten die Szene - der Krieg ist aus.

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