Friday, January 17, 2020

Ein Buch des letzten Sommers: Niemand ist eine Insel von Johannes Mario Simmel

"Wie würden die deutschen Kritiker mich bestenfalls etikettieren?" fragte ich.
"Als einen vor nichts, aber auch vor gar nichts zurückschreckenden Trivialautor", sagte Ruth Reinhardt.

Simmel schreckt vor nichts, aber auch vor gar nichts zurück, nur dauert es eine Weile, bis man das merkt, beziehungsweise bis man merkt, was das bedeutet. Die ersten paar Kapitel sind langsam und ausgesprochen geschwätzig. Eine Ambulanz fährt durch Paris in Richtung Krankenhaus, es geht um Leben und Tod, aber sie kommt trotzdem höchstens mit zwei Minuten pro Seite voran, der Erzähler lässt sich von allem und jedem ablenken, eine Beschreibung, Seitenbemerkung, Charakterisierung jagt die nächste. Vielleicht geht es darum, uns einzuüben in eine Prosa, die zu allem und jedem etwas zu sagen und eine Meinung hat.

Nach 50, 60 Seiten nimmt die Erzählung Fahrt auf und ist fortan nicht mehr zu stoppen. Kein Wunder, es geht schließlich um viel. Simmel hat das Buch geschrieben, das ist auf der ersten Seite zu lesen, um auf das Leid behinderter Kinder aufmerksam zu machen, auf die Schwächsten der Schwachen. Das klappt nur, in sich ist das schon logisch, wenn man keine Hemmungen kennt.

Es geht also um behinderte Kinder, der Erzählbarkeit zuliebe erst einmal nur um eines, das ist dann allerdings nicht irgendeines, sondern die Tochter der schönsten Frau und populärsten Schauspielerin der Welt, einer Diva sondergleichen, von der außerdem eine Tonbandaufnahme existiert, auf der zu hören ist, wie sie - damals war ihre Tochter noch gesund - über, ausgerechnet, behinderte Kinder herzieht. Mit dieser Aufnahme wird sie jetzt erpresst, während sie in Cinecitta an einem neuen Film arbeitet, einer Adaption von Brechts "Der kaukasische Kreidekreis", die sich in Simmels Beschreibung absolut fürchterlich liest, aber natürlich zum erfolgreichsten Film aller Zeiten avanciert, noch vor Gone With the Wind und Star Wars. Das ist erst der Anfang. Später wird der Plot, nur unter anderem, mit einer Reihe von Doppelgängern angereichert und das Ganze endet, wunderbarerweise, in einer Nürnberger Bahnhofsabsteige, wo der nimmermüde Simmel auf den letzten Seiten eine der besten Figuren des Films aus dem Hut zaubert, eine geradezu exaltiert ordinäre, breit fränkelnde Prostituierte.

Simmel ist ein Überzeugungstäter des Trivialen. Wie Til Schweiger vielleicht, aber umfassender interessiert an der Welt und vor allem technisch besser. Nach dem zähen Krankenwagenstart wird das Buch zum waschechten page turner, perfekt montiert ist es vor allem, Cliffhanger, Ellipsen, Rückblenden, alles sitzt. Der Exzess an Geschwätzigkeit und Meinung zu allem und jedem ist bald schon kein Ballast mehr, sondern Gleitmittel. Ab und an schwingt sich Simmel gar zu Miniaturen romantischer Poesie auf, insbesondere dann, wenn er das Loblied singt auf diejenigen, die im Dunkeln gutes Tun und keinen Dank dafür erwarten.

Die im Dunkeln, die im Hellen. Das verweist einerseits wieder auf die Doppelgängermotivik, andererseits auf die Abgründigkeit der Prosa. Denn die Erzählperspektive ist von Anfang an und rettungslos schief: Der da schreibt, das ist der Geliebte der Schauspielerin, ein Frauenheld und Taugenichts, der sie nicht liebt und nur an ihrem Geld interessiert ist. Der Erzähler selbst ist moralisch korrupt und er weiß es auch. Er weiß sogar, dass seine moralische Korruption die Prosa mitkorrumpiert, und er schreibt an einer Stelle, dass nur manchmal, ab und an, ein paar Zeilen lang, eine andere, bessere, echtere Prosa durch die falsche hindurchschimmern wird. Die Welt der Guten und Wahren bleibt ansonsten im Dunkeln, während er selbst die Welt der Schlechten und Falschen hell erstrahlen lassen wird, Satz für Satz, Seite für Seite.

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