Monday, June 13, 2022

Hochformat

 

Ich drehe mich um und sehe das Reh, beziehungsweise ist es gerade dabei, aus dem Wald heraus auf den Waldweg zu treten, ein gutes Stück von mir entfernt. Es ist Hochsommer und der Abend ist noch fern, aber der Himmel ist düster, die Stimmung der Luft ist gedämpft und gespannt zugleich, es wird früher oder später regnen, aber jetzt noch nicht, vielleicht in zehn Minuten, vielleicht auch erst in einer Stunde. Diese zusätzlichen 50 Minuten wären freilich ein Wunder und ein Geschenk, genau wie das Reh. Wo das Reh steht ist der Wald lichter, die wenige verbleibende Helligkeit des Tages reicht aus, um das Waldbild, in das das Tier hineingetreten ist, in leichten, sanften Grüntönen aufscheinen zu lassen.

Das Reh läuft ein paar Schritte auf dem Weg, auf mich zu glaube ich, vielleicht bäugt es sich zu einem Strauch und beißt ein paar Blätter ab, es ist ein wenig zu weit entfernt, um Genaueres zu erkennen. Schon bald jedoch kommt es zum Stehen und dreht, da bin ich mir nun erstaunlicherweise ziemlich sicher, den Kopf in meine Richtung. Ich stehe ohnehin still. So sicher wie ich weiß, dass das Reh mich anschaut, weiß ich auch, dass kein Mensch außer mir auf dem Weg ist; vielleicht ist kein einziger im ganzen Waldgebiet. Versuchsweise gehe ich zwei Schritte auf das Reh zu, aber ich merke sofort, dass das keine gute Idee ist. Einmal den Weg der Annäherung eingeschlagen, werde ich nur immer näher heran wollen und das Tier früher oder später vertreiben.

Stattdessen hole ich mein Mobiltelefon aus der Tasche und öffne das Kameraprogramm. Auf dem Bildschirm aber ist zunächst da, wo das Reh steht, nichts zu sehen. Nur ein grünes Waldbild, vorne dunkler, hinten heller, der Waldweg auf dem ich und das Reh stehen, verliert sich in der Tiefe der Bildmitte. Nur, dass das Reh nicht auf dem Bild des Waldwegs zu sehen ist. Mein Handy ist alt und schrottig, die Kamera dementsprechend. Ein basales Medium zur Aufnahme von Dingen und Menschen, die direkt vor ihr platziert sind, unter normalisierten bis idealisierten Lichtverhältnissen. Das Reh in der mittleren Ferne hingegen verwandelt sich in der Linse dieser Kamera in ein Geistergeschöpf. Anders als ich kann die Kamera den Blick des Tiers nicht erwidern. Oder vielleicht ist das Bild, das ich auf dem kleinen Bildschirm sehe, das Bild ohne Reh, die Antwort.

Die Kamera müht sich. So kenne ich sie schon. Oft zoomt sie in einer Ansicht, die ich ihr gebe, viele Sekunden lang herum. Ein wenig hilflos, wenn nicht gar verzweifelt wirken diese Anstrengungen stets und so auch jetzt. Zunächst jedenfalls, denn nach einer Weile erscheint in der Bildmitte doch noch ein brauner Fleck, der zumidnest rehähnlich ausschaut. Zumindest denke ich, dass er rehähnlich ausschaut, denn nachdem ich den Auslöserknopf antippe und mir die entstandene Aufnahme anschaue, bin ich mir keineswegs sicher, ob da wirklich ein Fleck ist; und ob der Fleck, falls er existiert, auf das Reh verweist, das mir im Wald begegnet ist. Das Reh existiert im Bild nur in Form meiner Unsicherheit.

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