Tuesday, October 01, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (2)

Ab sofort in der Reihenfolge der Lektüre

Ulrike Sterblich, Drifter. Ein Buch, das von der sympathischen und vermutlich korrekten Prämisse ausgeht, dass die ergiebigsten Zeitungsseiten jene sind, über denen “Vermischtes” steht. Schön auch als ein Versuch, über die Onlinekommunikation der Gegenwart zu schreiben, ohne in paranoide Doomsday-Fantasien abzugleiten; ich habe die Vermutung, dass das funktioniert, weil die sehr gegenwärtigen Social-Media/Meme-Culture-Oberflächen, um die es vorderhand geht, mit einer soliden Dosis Web-2.0-Nostalgie unterfüttert sind. Letztlich blickt hier, glaube ich, eine ältere Netzkultur auf eine jüngere und freut sich darüber, dass sie sich immer noch zumindest in Teilen wiedererkennt. Was natürlich die Frage aufruft, ob es sich dabei nicht auch um ein Verkennen handeln könnte. Ich bin mir da nicht so sicher, manches wirkt doch etwas arg gutartig cutesy. Über die Frage, warum das alles ausgerechnet in Romanform dargeboten werden muss, mache ich mir hingegen nicht allzu viele Gedanken. Die Figuren sind erkennbar als world delivery machines angelegt, und als solche machen sie sich gut.


Clemens Meyer, Als wir träumten. Wieder, wie bei Stanišić, frage ich mich: Kann ich ernsthaft einem Buch seine handwerkliche Brillanz zum Vorwurf machen. Und doch, am Ende bleibt mit kein Maßstab außerhalb meines eigenen ästhetischen Empfindens, und deshalb bleibt es wohl dabei, dass mir diese unpolitischen Baseballschlägerjahre eben deshalb nicht gefallen, weil alles so fugendicht verarbeitet ist; weil die Motive und Episoden dermaßen perfekt ineinander greifen, dass der zugrundeliegende Bauplan stets sichtbar (fühlbar?) bleibt; weil mich auch im Kleinen ein Übermaß an Wohlgeformtheit unangenehm anspringt, insbesondere in Form von Montagetechniken, etwa wenn zwei Boxkämpfe parallel laufen, ein televisueller in der Gegenwart, ein handfest erlebter in der Vergangenheit, und natürlich müssen beide bis zum bitteren Ende auserzählt werden… was bei mir, sobald ich merke, worauf Meyer hinaus will, ein fürchterliches Fadheitsgefühl erzeugt. Anders als bei Stanišić wird die Lektüre nicht zur Qual, hineingezogen werde ich bei Meyer schon in die Geschichte, aber, wie soll ich’s beschreiben: mein eigenes Genießen missfällt mir.


Thomas Meinecke, Selbst. Interessant, wie widerspruchsfrei sich der ja doch ungemein spezifische und im medialen Alltag kulturkämpferisch bedrängte post-gender-Diskurs selbst zu inszenieren weiß - oder zu inszenieren wusste, 2016 ist doch schon lange her, merke ich beim Lesen. Keine Hierarchien, keine energetische Differenz zwischen direkt Übernommenem, Recherchiertem und Hinzuerfundenem - das ist erkennbar Programm, die Abwesenheit einer Außenperspektive oder auch nur inneren Widerstands ist etwas, das man aushalten lernen muss. Ich suche im Text trotzdem nach kleinen Widerhaken, Absetzbewegungen, die eher habituell als intellektuell funktionieren: Naturwissenschaftler mögen wir nicht und Spießer in Swinger Clubs können wohl kaum die sexuelle Avantgarde sein. Freilich: Texanische Kommunisten, Bettina von Arnim, Anaïs Nin, Stoya, das ist eine Konstellation, in der ich mich gerne verliere. Die Nominalstilexzesse französischer Theoriebildung (oder lediglich ihrer deutschen Übersetzer?) hingegen, hm. Und: Was fügt die Fiktion um Eva, Genoveva und Venus dem allem hinzu außer einen dezenten Soft-Porno-Touch? Die gesteigerten Freiheitsgrade, die erfundene Figuren mit sich bringen, scheinen Meinecke jedenfalls nur sehr bedingt zu interessieren.

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