Das iranische Kino erschließt das Soziale in einigen seiner besten Filme (meine Kenntnis des Kinos ist zu gering für genauere Aussagen, hier beschränke ich mich auf einige wenige Filme und lasse andere, an die ich mich nicht gut genug erinnern kann aus - u.a. Makhmalbafs Marriage of the Blessed -, obwohl sie in dem, an das mich erinnern kann, durchaus ins Bild passen) über soziale Differenzen. Es ist ein Kino der Eindringlinge. Die Filme entsenden Spione in gegebene Milieus und machen sie erst durch diese Bewegung und die in ihnen reflektierte Differenz lesbar. Diesem Vorgehen haftet immer etwas Selbstreflexives an, denn der Eindringling - meist ein Mensch aus einer reltiv niedrigeren sozialen Klasse - ist immer auch eine in den Film eingeschriebene Repräsentantion wahlweise des Zielpublikums oder des Regisseurs.
Kiarostami
Den höchsten Grad an Selbstreflexion erreicht, wen wundert's, Abbas Kiarostami. In Close-Up gibt sich der Eindringling direkt als Filmregisseur aus und erschleicht sich Zugang zur bourgeoisen Lebenswelt. Freilich wird die Repräsentation des Sozialen, die aus dieser Konfiguration entsteht, gleich mehrmals gebrochen, insbesondere dadurch, dass Kiarostami selbst im Film auftaucht und den Eindringling von aussen (durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle) portraitiert. Der Film verwandelt sich so langsam aber sich in ein Spiegelkabinett der Repräsentation und gleichzeitig des Sozialen. Ein einfacheres, aber gleichzeitig eindrücklicheres Modell entwirft Kiarostami in seinem besten Film ...and Life Goes on. Diesmal ist er selbst der Eindringling. Im Auto fährt er durch die nach einem Erdbeben verwüstete Gegend um Guilan, auf der Suche nach den Schauspielern eines früheren Films. Der teheraner Intellektuelle Kiarostami richtet die Kamera auf die Landbevölkerung und spricht sie dabei direkt an. Damit wird der Film zum Gegenstück des Akulina-Prinzips von Close-up: Die im Vorgängerfilm unendlich gebrochenen und vervielfältigten ästhetischen Vermittlungsinstanzen fallen so komplett weg wie in keinem anderen Film. Der Film wird als Ganzes zur direkten Erfahrung der Differenz im Sozialen. Gleichzeitig etabliert Kiarostami das Automobil als ein zentrales Moment seines Kinos. Der kiarostamische PKW ist die Materialisierung eines bestimmten Begriffes von Interaktion im sozialen Raum, einer Verbindung von Distanzierung und Offenheit. Im Gegensatz zur Idee vom Auto als maschineller Repräsentanz des weberschen stahlharten Gehäußes oder noch einfacher der Monadisierungstendenz in der bürgerlichen Moderne, wie sie sich beispielsweise in Petzolds Wolfsburg artikuliert, ist das kiarostamische Auto zuerst und ganz im Gegenteil Vermittlung, ein Medium der, fast Voraussetung von Kommunikation. Das Auto wird zur Metapher des gesamten Kinomodell Kiarostamis. Der entscheidende Teil des PKWs ist bei Kiarostami das Fenster und das ist meistens geöffnet. Das Autofenster erlaubt Kontaktaufnahme ohne Berührung, es betont einerseits die Gemeinsamkeiten im Bereich des Diskursiven und andererseits die Unterschiede im Bereich des Sozialen. Das Auto dient trotz einiger gleichbleibender Merkmale in den verschiedenen Filmen ganz unterschiedlichen Zwecken. In Taste of Cherry wird es zum spirituellen, in Ten zum subversiven Raum. In ... and Life goes on wird es zum Vehikel des Eindringlings, zum Medium des Eindringens. Was Close-up und ...and Life Goes on verbindet, ist der offen selbstreflexive Gestus. Kiarostamis Kino isoliert Figuren und Methoden, nicht zuletzt durch die automatisch distanzierende Form des Interviews, die im iranischen Kino insgesamt durchaus auch vorhanden sind, aber selten in derselben Reinheit der Artikulation.
Figurationen des Eindringens
..and Life Goes on ist auch deshalb ein Einzelfall im iranischen Film, weil der Eindringling hier "von oben" kommt. Die Figur des Eindringlings und der damit einhergehende Differenz geht sonst fast immer von unten aus und blickt nach oben. Die soziale Stellung des Eindringlings ist im Regelfall niedriger als die der Menschen in dem Milieu, in welches er eindringt. Der umgekehrte Fall ist selten und bringt Probleme mit sich. Im Fall von Samirah Makhmalbafs Blackboards, in welchem eine Gruppe idealistischer Lehrer sich aufmacht, die verelendete Dorfbevölkerung zu unterrichten, scheitert nicht nur dieses Unterfangen, sondern mit ihm der ganze Film. Der Wunsch, in eine niedrigere soziale Sphäre als die eigene eindringen zu können, ist kein natürlicher (zumindest nicht in einem armen Land wie dem Iran, in der ersten Welt mag das anders aussehen, wenn der Akademiker die Würstchenbude aufsucht, mag man das durchaus als Ausdruck eines realen Verlangens - auch jenseits von dem nach Wurst - lesen und nicht ausschließlich als ironische Geste). Sie ist entweder Teil einer umfassenden, bewussten ethisch-politischen Weltsicht (wie in ...and Life Goes On) oder eben nicht (wie in Blackboards). Normalerweise geht die Bewegung in die andere Richtung. In Jafar Panahis Crimson Gold etwa dringt der Pizzalieferant Hussein in die Wohnung eines Mannes ein, der im amerikanischen Exil reich geworden ist. Kaum öffnet sich die Tür, gerät die Wahrnehmung des Eindringlings aus den Fugen und wird zum Problem. Der Film, der vorher Hussein strikt von außen beobachtete, wechselt mit einem Mal in die Subjektive. Verunsichert sucht sich die Kamera in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Die Passung zwischen Innen und Außen stimmt nicht mehr, der sich öffnende Innenraum ist mit der Lebenswelt Husseins genauso wenig kompatibel wie mit der neorealistischen Ästhetik des Films (dieser Neorealismus ist durchgängige ethisch-ästhetische Selbstpositionierung der Filme und oft das einzige Moment eines moralischen Werturteils). Die einzelnen Räume der Wohnung ergeben kein kohärentes Ganzes und Husseins Wandel vom Proletarier zum Kriminellen schließt direkt an diese Erfahrung von Differenz an.
Offside, ein weiterer Film Panahis, dreht sich ausschließlich um ein versuchtes Eindringen. In diesem Fall - und ich möchte argumentieren, dass sich darin eine Entwicklungstendenz im iranischen Film insgesamt artikuliert - geht es nicht vorrangig, nicht einmal primär, um eine Klassendifferenz. Statt dessen fordert eine Gruppe sozial heterogener Frauen das Recht ein, an einem gesamtgesellschaftlich identitätsstiftenden Ereignis, einem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft, teilnehmen zu dürfen. Ähnlich wie Close-up thematisiert auch Offside ein scheiterndes Eindringen als soziale Performanz: Die Frauen verkleiden sich als Männer und versuchen so ironischerweise gerade durch die völlige Verleugnung der Weiblichkeit, auf die tendenziell auch die strengen Kleidungsvorschriften im Iran zielen, Teilhabe am Sozialen zu erlangen und die Stadiontribüne zu erreichen. Nach dem Scheitern des Eindringens werde sie in einen ausgestellt künstlichen Raum knapp außerhalb des Stadions verbannt. Ein Großteil des Films behandelt dann die gleichzeitig spielerischen und in allegorischer Übertragung bitterernsten Versuche, diese willkürlich gezogene Grenze zu überwinden.
Auch, wenn ich nicht genug gesehen habe, um ein hinreichend abgesichertes Urteil bilden zu können, möchte ich behaupten, dass das Motiv des Eindringens im iranischen Kino in den letzten Jahren tendenziell seine klassenkäpferischen Konnotationen verliert. Oder diese zumindest erweitert um andere Dimensionen. Im Fall von Offside geht es um das Geschlechterverhältnis (das freilich im Iran noch deutlicher als anderswo ein Machtverhältnis ist), Ashgar Farhadis Fireworks Wednesday gewinnt aus dem Blick des Eindringlings so etwas wie eine Innenansicht der Mittelklasse und ihrer feingliedrigen, eher durch kulturelles denn durch ökonomisches Kapital strukturierten Hierarchien. Auch hier besteht eine soziale Differenz zwischen dem Eindringling, der jungen Haushaltshilfe Rouhi und dem Milieu, in das sie eindringt. Allerdings ist diese Differenz nur eine von Nuancierungen innerhalb der Mittelklasse und sie artikuliert sich ausschließlich über den Habitus, am direktesten vielleicht über die Differenzen in Sachen Make-up. Als Roohi zum ersten Mal das Domizil ihrer Arbeitgeber betritt, bietet dies objektiv weitaus mehr Anlass zur Verwirrung als das, welches Hussein in Crimson Gold betritt. Es herrscht eine Unordnung sondergleichen, große Teile der Wohnung sind mit Plastikfolie überzogen. Doch Roohi lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, statt dessen gelingt ihr die Adaption an die neuartigen Verhältnisse äußerst schnell. Sie hat begriffen, dass in der Welt der Mittelklasse scheinbar geringe Fortschritte im Habitus auf den ersten Blick unüberbrückbare Differenzen einebnen können. Nicht zufällig begibt sie sich schnell in einen im Mietshaus ansässigen Schönheitssalon. Auch Fireworks Wednesday nutzt das Motiv des Eindriglings und die mit diesem verbundene Differenz, allerdings nutzt der Film diese weniger für eine direkte nationale / sozialpolitische Allegorie denn für psychologisch komplexes Erzählkino, das dem neorealistischen Erbe auf formaler Ebene zwar treu bleibt, aber einen gänzlich anderen Bezug zu seinen Figuren aufweist als die Filme Panahis oder Kiarostamis. Letztere greifen auf das Soziale identifizierend zu, die Eindringlinge dienen als Fixpunkte, von denen aus ein Machtverhältnis analysiert werden können. Freilich findet sich in diesem Modell kein Raum für echte Transformationen, soziale Performanz ist zum Scheitern verurteilt. Die Performanz Roohis dagegen ist eine gelingende und das gesellschaftliche System innerhalb des Mietshauses ein dynamisches, kein statisches.
Was nicht heißen soll, dass Farhadis Modell das überlegenere wäre, oder auch nur eine konsequente Weiterentwicklung darstelle. Es beinhaltet seine eigenen, vielleicht komplementären, Beschränkungen. Wo Kiarostami und Panahi (Offside steht in mancher Hinsicht zwischen beiden Positionen und nähert sich insbesondere am Ende der zweiten an) die Totalität des Sozialen als statische präsentieren, entwickelt Fireworks Wednesday einen Ausschnitt des Sozialen (und eben nicht dessen Totalität) als dynamischen.
3 comments:
Bahram Beyzaies Film, nur als Hinweis, funktionieren da ganz anders. Sie suchen sozialistische/feministische Positionen. Es gibt da Beschleunigungen und Bewegungen ganz anderer Art. (Für Makhmalbaf père gilt das zum Teil auch.) Bei Beyzaie: Starke Bezüge auf westliches Genre-Kino. (Er nennt Bergman und Hitchcock als Vorbilder. Was etwas ganz anderes ist als Antonioni und Rossellini. Persisches und anderes Theater kommt ohnehin noch dazu.) Beyzaie ist für meine Begriffe mindestens so interessant wie Kiarostami - leider ist es unendlich schwer, an Sachen ranzukommen. Was mit den oft klischierten Vorstellungen westlicher Festivals wahrscheinlich mehr zu tun hat als mit Widerständen im Iran selbst, an denen es Beyzaie gewiss auch nicht mangelt. Etwas mehr über ihn hier: http://www.epicplayers.com/bahram
Vielen Dank für den Hinweis, von Beyzai kenne ich in der Tat noch gar nichts. Das ist natürlich eine eng begrenzte Filmaufwahl über die ich schreibe und sie repräsentiert nur eine unter mehrere Strömungen im iranischen Gegenwartskino (noch dazu stammt das Skript zu Panahis Crimson Gold von Kiarostami, da gibt also ganz direkte Verbindungen).
Freilich glaube ich nicht, dass ich die Filme beider Regisseure und erst recht Fireworks Wednesday mit Antonioni in Verbindung bringen möchte (mit Rossellini vieleicht schon, aber auch da eher Germania anno zero als Viaggio in Italia). Selbst Kiarostamis Kino bleibt ja sogar in seinen manieriertesten Momenten grundsätzlich eines der Kommunikation und beschreibt fast das exakte Gegenteil von Entfremdung (worauf man Antonioni auch nicht reduzieren sollte, klar, aber dennoch).
Ja, der Antonioni ist mir da von einer anderen Diskussion her reingerutscht; das war eine der Müdigkeit geschuldete Schludrigkeit. Würde ich auch sagen, dass das erst mal nichts damit zu tun hat. (Andererseits soll Antonioni in der anderen Diskussion - bei New Filmkritik - mit erstaunlich Vielem zu tun haben.)
Von Bezyaie (oder Beyzai) sind immerhin "Bashu" (bei, äh, you know) und "Travellers" (als DVD bei Facets) greifbar. Beide dringend zu empfehlen. "Bashu" scheint auf den ersten Blick - als Film mit Kind in der Hauptrolle - Kiarostami-nah. Auf den zweiten Blick ist alles anders.
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