Saturday, January 17, 2009

Berlinale 2009: Mental, Kazuhiro Soda, 2008

"Teilnehmende Beobachtungen" nennt Kazuhiro Soda seine Dokumentarfilme, die zu den interessanteren Entdeckungen des Forums in den letzten Jahren gehören. Diese Selbstbeschreibung verweist weniger auf einen ethnologischen Impetus, denn auf einen spezifischen Ethos des Blicks. Es geht, genauer gesagt, um eine Mischform aus Teilnahme und Beobachtung. Die subjektive Investition des Dokumentarfilmers in seinen Gegenstand soll nicht geleugnet, sondern produktiv gemacht werden, ohne gleichzeitig das abstrahierende Moment der Beobachtung, die dem Kamerablick inhärente Distanzierung von eben diesem Gegenstand, zu verleugnen (der Kamerablick ist weniger an und für sich schon Distanz, als dass er, vermittelt durch die Projektion, Distanz schafft, räumliche wie zeitliche).
Sodas Erstling, Campaign, war 2007 im Forum zu sehen und portraitierte Wahlkampf eines von den innerparteilichen Machtstrukturen sichtlich überforderten Provinzpolitiker der japanischen Dauer-Regierungspartei LDP. Das neue Werk heißt Mental und widmet sich einer ambulanten psychiatrischen Klinik in Okayama.
Eine kleine Klink ist das, ein Privatunternehmen, das hauptsächlich von einem einzigen Arzt und seinem Idealismus gestemmt wird. Die Klinik ist die letzte Anlaufstelle für Intensivpatienten, die teilweise seit Jahren hospitalisiert sind und nicht mehr weiter wissen. Eine Patientin zeigt Soda ihre gigantische Medikamentenpalette. An die hundert Tabletten für einen einzigen Tag.
Soda portraitiert einige Miniunternehmen, die von der Klinik gegründet wurden und den Patienten nicht nur eine regelmäßige Beschäftigung und damit einen strukturierten Tagesablauf ermöglichen sollen, sondern diesen gleichzeitig auch ein geringes Einkommen einbringen, welches sie bitter nötig haben. Immer wieder kommt in Mental das Gespräch auf Geld. Ein Patient meint einmal, das eben dieses Geld oft die beste Medizin für Psychiatriepatienten sei. Spätestens beim Anblick der ärmlichen Behausungen, in denen er und seine Leidensgenossen leben, ist man geneigt, ihm Recht zu geben.
Die ökonomischen Zwänge betreffen nicht nur die Patienten, sondern die gesamte Institution. Freimütig gestehen die Angestellten ein, dass die finanzielle Situation schwierig ist und dass sie selber mehr verdienen, als ihr Chef, dessen spärliches Gehalt unter Sozialhilfeniveau liegt. Schnell wird klar, dass Soda mit Mental primär keinen Film über Psychatrie in Japan im Allgemeinen gedreht hat, genauso wenig, wie Campaign ein Film über den japanischen Wahlkampf im Allgemeinen war. Zwar funktionieren beide Filme auch auf dieser Ebene, freilich war der Titelheld aus Campaign alles andere als ein typischer LDP-Politiker und noch weniger ist das portraitierte Krankenhaus in Mental ein typisches Beispiel für Psychiatrie in Japan. Mental ist getragen von einer tiefen Sympathie für den Gegenstand, für den alten Arzt, der in seinen Behandlungsgesprächen den Patienten immer wieder lustige Schematas ihrer Psyche bzw ihres Gesamten Lebenswegs aufzeichnet, einerseits und für die Patienten und ihre Geschichten andererseits.
Der Film verzichtet auf Abstraktionen, um den Dargestellten einen Rest an Subjektivität zu belassen durch ein nicht besonders ungewöhnliches, aber doch genau geplantes dokumentarisches Setting. Kazuhiro Soda taucht selber in seinen Filmen zwar auf der Tonspur, aber nicht im Bild auf. Die Anwesenheit der Kamera wird zwar selten thematisiert, sie wird jedoch auch nie zum Problem. Statt dessen positioniert sich die Kamera in kleinen Gesten zu ihrem Material. Wenn eine Patientin auf dem Hof vor der Klinik sitzt und erzählt, dass sie diesen Ort gerne aufsuche wegen den Bäumen über ihr, gleitet der Kamerablick sanft nach oben in ihre Blickrichtung, in Richtung der Bäume. Ein anderer Patient inszeniert eine kleine Show für die Kamera. Er erzählt poetische Anekdoten und unternimmt hhilosophische Exkurse. Irgendwann unterbricht er seinen Monolog und ruft "Cut!". Die Kamera gehorcht dieser Aufforderung zwar nicht sofort, aber doch nach ein paar Sekunden. Dieser spezielle Ethos des Blicks ist dem Film mindestens ebenso wichtig wie eventuelle Erkenntnisgewinne.
Sodas Kamera macht keinen Unterschied zwischen Patienten und Pflegekräften. Ob damit nun, wie wohl mancher behaupten wird, unbedingt der Unterschied zwischen psychisch erkrankten und gesunden Menschen infrage gestellt werden soll, möchte ich bezweifeln. Das sähe für mich eher so aus, als wolle man eine europäische Diskussion von außen auf diesen Film pfropfen. Eher geht es darum - und das sagt der Film auch recht explizit - den Sichtschutz zwischen dem funktionierenden Japan und dem Japan, das aus dem Takt geraten ist, niederzureißen, einen Sichtschutz, der nur schützen kann, weil er selbst ebenfalls unsichtbar ist. Ein Großteil dieses Sichtschutzes ist rein materiell-ökonomischer Natur. Und insbesondere dieser Teil des Sichtschutzes gelangt in Mental sehr eindrucksvoll ans Tageslicht.

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