Der vierjährige Kun spielt mit dem Familienhund im Garten, als die ersten Schneeflocken fallen. Er bemerkt es nicht sofort, und auch wir Zuschauerinnen und Zuschauer brauchen einen Moment (aber, und das ist wichtig: nicht so lang wie er), bevor wir die kleinen weißen Punkte entdecken, die sich über die Leinwand bewegen. Weil Mamoru Hosodas Mirai ein Animationsfilm ist, ist der Schnee in erster Linie genau das: eine Abfolge weißer Punkte, die sich von oben nach unten durch den Bildraum bewegen. Oder, anders herum: Streng genommen ist jede einzelne Schneeflocke einfach nur eine punktuelle Abwesenheit von Farbe. Ein Stück “freie”, weiße Leinwand, die nur deshalb als Schnee wahrgenommen wird, weil drumherum eine kontinuierliche Welt gezeichnet ist. Schnee ist ins Negative gewendete Konfetti: weißes Nichts, das in eine bunte Welt hineinfällt, die Farben zudeckt, die Konturen auslöscht.
Diese weißen Punkte machen etwas mit Kun. Wenn er sie, nach ein paar Sekunden, bemerkt, hält er im Spiel inne. Er wendet den Blick vom Hund ab und dem Himmel zu und streckt erst eine, dann beide Hände aus. Er versucht, eine Schneeflocke zu fangen, aber als er meint, dass es ihm gelungen ist und neugierig die geschlossene Faust öffnet, ist nichts zu sehen. Kun übt in diesem Moment, vielleicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben, einen ästhetischen Blick auf die Welt ein; einen Blick, der nicht auf Informationsgewinn zielt, der nicht auf ein Bedürfnis reagiert und auch nicht gleich in Handlung übersetzt werden kann, sondern den Blickenden erst einmal stillstellt. Und er lernt eben auch gleich, dass Ästhetik nichts “handfestes” ist, dass sie einem buchstäblich in den Händen zerfließt. Oder eben, das ist ein weiteres Mal der spezielle Clou des Trickfilmkinos: dass Ästhetik möglicherweise von Anfang an keine Substanz hat, dass sie eher eine Leerstelle im Gefüge der Welt ist als eine positiv besetzte Attraktion. Den Schnee kann man, wie jedes Kunstwerk, nicht besitzen, man kann sich jedoch von ihm affizieren lassen. Sanft legen sich die Flocken auf die dunklen Haare des Jungen.
Mit dieser Erkenntnis ist die Szene, eine der schönsten des bisherigen Kinojahres, aber noch nicht zu Ende. Das Geräusch eines ankommenden Autos reißt Kun aus der Kontemplation. Hektisch rennt er ins Haus zurück, blickt aus dem Fenster (er haucht gegen die Scheibe und wischt das beschlagene Glas mit dem Ärmel frei, definiert sich selbst ein Sichtfeld). Er sieht den Wagen der Eltern einfahren und läuft das Treppenhaus hinab, gen Wohnungstür. Im Hintergrund sieht man, wie durchs offene Fenster ein paar Schneeflocken in die Wohnung geweht werden. Der Schnee legt eine visuelle Spur durch die ganze Szene.
Tatsächlich gelangen auch, und das ist mein Lieblingsbild im gesamten Film, wenn die Tür sich öffnet, zunächst nicht die Eltern, sondern wieder einige der kleinen, weißen Punkte in die Wohnung. Kein Mensch ist in diesem Moment auf der Leinwand zu sehen, nur ein Teil des Treppenhauses, ein Teil der Tür - und die Schneeflocken, die in diesem Fall direkt von einer Verzauberung, oder wenigstens von einer radikalen Veränderung der Welt künden. Die Schneeflocken werden, vor unbewegtem Hintergrund, zur reinen Differenz und damit zu einer Metapher für die weltverändernde (aber gleichfalls substanzlose) Macht der Kunst.
Die Szene ist auch ein erzählerischer Wendepunkt: Kuns Eltern kommen mit einem neugeborenen Kind, mit Kuns kleiner Schwester, nach hause. Der Schnee hatte also, wie in manchem christlichen Krippenspiel, eine Geburt angekündigt. Tatsächlich sehen Vater und Mutter, wenn der Junge zu ihnen aufblickt (filmisch aufgelöst ist das als - zeichnerisch simulierter - Schwenk), ein wenig aus wie zwei Engel, die, immer noch von Schneeflocken umflort, den Menschen ein Geschenk darreichen. Das Baby selbst erscheint, wenn es gleich darauf erstmals seinem Bruder präsentiert wird, fast wie ein schneegeborenes Lichterwesen: auf glänzend weißem Leintuch gebettet hebt sich sein blasses Gesicht noch kaum von der Umgebung ab. Der “echte” Schnee wiederum ist ab sofort ausgesperrt, er ist nur noch kurz hinter einem Fenster sichtbar und verschwindet bald ganz. Er hat Kuns Schwester als ein ästhetisches Wesen markiert, damit ist seine Schuldigkeit getan. Anders als die Schneeflocken verschwindet das Baby allerdings, merkt Kun gleich darauf, nicht, wenn man es berührt. Kun legt seinen Finger in die Hand der Schwester, die damit erstmals jene materielle Evidenz gewinnt, mit der er sich den restlichen Film über herumschlagen muss.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
Diese weißen Punkte machen etwas mit Kun. Wenn er sie, nach ein paar Sekunden, bemerkt, hält er im Spiel inne. Er wendet den Blick vom Hund ab und dem Himmel zu und streckt erst eine, dann beide Hände aus. Er versucht, eine Schneeflocke zu fangen, aber als er meint, dass es ihm gelungen ist und neugierig die geschlossene Faust öffnet, ist nichts zu sehen. Kun übt in diesem Moment, vielleicht zum ersten Mal in seinem jungen Leben, einen ästhetischen Blick auf die Welt ein; einen Blick, der nicht auf Informationsgewinn zielt, der nicht auf ein Bedürfnis reagiert und auch nicht gleich in Handlung übersetzt werden kann, sondern den Blickenden erst einmal stillstellt. Und er lernt eben auch gleich, dass Ästhetik nichts “handfestes” ist, dass sie einem buchstäblich in den Händen zerfließt. Oder eben, das ist ein weiteres Mal der spezielle Clou des Trickfilmkinos: dass Ästhetik möglicherweise von Anfang an keine Substanz hat, dass sie eher eine Leerstelle im Gefüge der Welt ist als eine positiv besetzte Attraktion. Den Schnee kann man, wie jedes Kunstwerk, nicht besitzen, man kann sich jedoch von ihm affizieren lassen. Sanft legen sich die Flocken auf die dunklen Haare des Jungen.
Mit dieser Erkenntnis ist die Szene, eine der schönsten des bisherigen Kinojahres, aber noch nicht zu Ende. Das Geräusch eines ankommenden Autos reißt Kun aus der Kontemplation. Hektisch rennt er ins Haus zurück, blickt aus dem Fenster (er haucht gegen die Scheibe und wischt das beschlagene Glas mit dem Ärmel frei, definiert sich selbst ein Sichtfeld). Er sieht den Wagen der Eltern einfahren und läuft das Treppenhaus hinab, gen Wohnungstür. Im Hintergrund sieht man, wie durchs offene Fenster ein paar Schneeflocken in die Wohnung geweht werden. Der Schnee legt eine visuelle Spur durch die ganze Szene.
Tatsächlich gelangen auch, und das ist mein Lieblingsbild im gesamten Film, wenn die Tür sich öffnet, zunächst nicht die Eltern, sondern wieder einige der kleinen, weißen Punkte in die Wohnung. Kein Mensch ist in diesem Moment auf der Leinwand zu sehen, nur ein Teil des Treppenhauses, ein Teil der Tür - und die Schneeflocken, die in diesem Fall direkt von einer Verzauberung, oder wenigstens von einer radikalen Veränderung der Welt künden. Die Schneeflocken werden, vor unbewegtem Hintergrund, zur reinen Differenz und damit zu einer Metapher für die weltverändernde (aber gleichfalls substanzlose) Macht der Kunst.
Die Szene ist auch ein erzählerischer Wendepunkt: Kuns Eltern kommen mit einem neugeborenen Kind, mit Kuns kleiner Schwester, nach hause. Der Schnee hatte also, wie in manchem christlichen Krippenspiel, eine Geburt angekündigt. Tatsächlich sehen Vater und Mutter, wenn der Junge zu ihnen aufblickt (filmisch aufgelöst ist das als - zeichnerisch simulierter - Schwenk), ein wenig aus wie zwei Engel, die, immer noch von Schneeflocken umflort, den Menschen ein Geschenk darreichen. Das Baby selbst erscheint, wenn es gleich darauf erstmals seinem Bruder präsentiert wird, fast wie ein schneegeborenes Lichterwesen: auf glänzend weißem Leintuch gebettet hebt sich sein blasses Gesicht noch kaum von der Umgebung ab. Der “echte” Schnee wiederum ist ab sofort ausgesperrt, er ist nur noch kurz hinter einem Fenster sichtbar und verschwindet bald ganz. Er hat Kuns Schwester als ein ästhetisches Wesen markiert, damit ist seine Schuldigkeit getan. Anders als die Schneeflocken verschwindet das Baby allerdings, merkt Kun gleich darauf, nicht, wenn man es berührt. Kun legt seinen Finger in die Hand der Schwester, die damit erstmals jene materielle Evidenz gewinnt, mit der er sich den restlichen Film über herumschlagen muss.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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