Anders als Katsushika Hokusai und Utagawa Hiroshige, die beiden in Europa vermutlich berühmtesten japanischen Künstler der Vormoderne, ist der einer etwas älteren Generation entstammende Nagasawa Rosetsu (1754-1799) nicht für exzessiv farbige, aufwändig ausgestaltete, spektakuläre, zumeist panoramatisch angelegte, großformatige Bilder bekannt. Seine Arbeiten, selbst einige der bekanntesten, haben ganz im Gegenteil etwas Skizzenhaftes, Improvisiertes an sich, und in der Tat sind sie, Anekdoten zufolge, oft innerhalb weniger Minuten und außerdem im Sakerausch entstanden. Das Züricher Museum Rietberg widmet seinem Werk noch bis zum 4. November eine außerhalb Japans einmalig umfangreiche und unbedingt sehenswerte Ausstellung.
Rosetsus Kunst funktioniert weniger über Opulenz und Fülle, als über Auslassungen und Montage. Besonders deutlich wird das mit Blick auf das Kernstück der Züricher Ausstellung: eine Reihe von Zeichnungen auf Schiebetüren, die der Maler für den Muryōji-Tempel in Kushimoto angefertigt hatte. Die einzelnen Motive erstrecken sich über mehrere Türrahmen, sind aber keineswegs so angelegt, dass sie deren Fläche komplett ausfüllen. Einzelne Panels enthalten oft nur ein, zwei kleine Bildelemente (einen kleinen Vogelschwarm hoch am Himmel; ein Ast, der sich von rechts nach links durch den Rahmen streckt und so weiter), manche bleiben komplett unbemalt. Die Leere hat nichts Erdrückendes, eher wird sie bei Rosetsu zu einem Möglichkeitsraum, beziehungsweise zur Voraussetzung einer Kombinatorik, die in seiner Kunst vielleicht wichtiger ist als die (freilich ebenfalls enorme) Eleganz der einzelnen gezeichneten Motivs.
Die Themen der Bilder sind dem Alltagsleben abgeschaut, sie zeigen zumeist ländliche Szenen: Landschaften, Portraits von Pilgern und Gelehrten sowie immer wieder Tiere, durchaus realistisch gestaltet, mit vermeintlich einfachen, wirksamen Mitteln individualisiert (Menschen sind fast durchweg gröber, fast comicgleich, stilisiert). Die Arbeiten bestehen oft aus mehreren Elementen, die weder organisch in eine sie umschließende Welt eingefasst, noch einfach nur additorisch nebeneinander angeordnet sind. Vielmehr ist das Kompositionsprinzip ein protofilmisches. Rosetsu ist ein Meister der Montage. Ein riesenhafter Frosch neben dem legendären Dämonenbezwinger Shōki. Eine Konfrontation könnte man meinen, aber beim genaueren Hinsehen bemerkt man, dass der Frosch sich von Shōki kein bisschen aus der Ruhe bringen lässt. Man kann das Bild zehnmal ansehen und zehn unterschiedliche Kräfteverhältnisse zwischen den Kreaturen (und sogar unterschiedliche Realitätsebenen) wahrnehmen.
Besonders schön ist ein Tryptichon. Das linke Panel zeigt eine Katze, die entspannt tut, aber aus den Augenwinkeln nach rechts schielt; in der Mitte eine Maus, die einen Aussichtspunkt erklommen hat und ängstlich nach unten schaut; rechts eine Gruppe Sperlinge, die fröhlich und unbeschwert herumflattern. Weder die Maus, noch die Vögel sind unmittelbar in Gefahr, zwischen ihnen und der Katze tun sich ein, beziehungsweise zwei Leerräume auf, die durchaus Ähnlichkeiten haben mit der Praxis des Filmschnitts. Die drei Bildelemente sind
deutlich aufeinander bezogen, durch Blickachsen sogar; das räumliche, und auch das zeitliche Verhältnis der Tiere zueinander ist aber dennoch nicht fixiert, sondern frei (im Kopf der Betrachtenden) modellierbar.
Rosetsu beherrscht auch die Technik der Montage in einer einzigen Einstellung. So etwa, wenn er (schon wieder) einen frechen, struppigen Sperling und einen majestätischen Papagei - beide mit komplett unterschiedlicher Federführung und auch Farbigkeit ausgestaltet - nebeneinander auf einen Ast setzt. In jedem Bild gibt es derartige Spannungen, die den Blick am raschen Weitergleiten hindern. Auf einem fällt mir ein Vogelschwarm oben rechts anfangs gar nicht allzu stark ins Auge, aber irgendetwas irritiert mich doch an ihm, und zwar so lange, bis ich erkenne, dass auf den Vögeln menschliche Figuren stehen, majestätisch durch die Lüfte gleitend.
Rosetsu ist ein Meister des Details. Aber das Verhältnis vom Detail zum Ganzen ist ein anderes als in der klassischen europäischen Malerei, ein anderes auch als bei Hokusai und Hiroshige. Das Detail ist nicht etwas, das aus einem potentiell erdrückenden Gesamteindruck herausextrahiert, quasi errettet werden möchte. Es gibt überhaupt kein großes Ganzes, von dem sich das kleine Detail emanzipieren muss. Vielmehr sind die Bilder von Anfang an darauf angelegt, den Blick auf die Details zu lenken, auf eine Vielzahl miteinander kommunizierender Details.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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