Tuesday, February 26, 2019

Konfetti 29: Peter W. Jansen

“Statt Kinderpornographie vor dem Internet ist [Stanley Kubricks] Lolita das Internet vor der Kinderpornographie, kalt statt heiß, Medium statt Message, Datenbank statt Daten, Darstellung eines Beziehungsgeflechts eher als die Beziehung selbst, Parallelogram der Kräfte der Geometrie der Machtverhältnisse, Schachspiel wieder, in dem jede Figur von der Bewegung der anderen Figuren bewegt wird.”

Der Satz ist zu lesen in Peter W. Jansens zuerst 1997 im Filmbulletin erschienenen und nun im von Rolf Aurich und Wofgang Jacobsen herausgegebenen Band “Peter W. Jansen. Publizist und Filmkritiker” wiederabgedruckten Text “Wege zu Lolita. Kubrick/Friedkin - Losey/Waters - Kubrick/Lynch”. Er exemplifiziert eine Form von Sprachwitz, die sonderbarerweise gleichzeitig ornamental und ökonomisch ist und außerdem bringt er zwei Stilmittel zusammen, die Jansens Prosa prägen. Zunächst die Invertierung eines adverbial gebildeten Ausdrucks, eine Umdrehung, die nicht einfach eine Umkehrung ist, sondern eher als die Rekombination einer gegebenen semantischen Gesamtmenge beschrieben werden kann: Alle Elemente und auch Allusionen des Ausdrucks werden wiederaufgenommen, aber in ein neues Verhältnis zueinander gesetzt. Anschließend folgen, in der grammatikalischen Form der Aufzählung, eine Reihe von Variationen des Ausgangsgedankens; der sprachgestalterische Freiheitsgrad wächst dabei sukzessive, gleichzeitig bewegt sich das Argument, gleichfalls schrittweise, vom Allgemeinen zum Spezifischen. Die Metaphernkonstellation Internet/Kinderpornographie wird übersetzt in eine Filmanalyse nah am Material.

Nun sind Stilmittel, auch das zeigt dieser Satz, stets mehr als nur Stilmittel; sie sind immer auch Denkmittel. Was mich an Sätzen wie dem zitierten begeistert, ist, dass es in ihnen zuerst die Sprache selbst ist, die denkt, indem sie autonom wird. Insbesondere die Invertierung ist keineswegs Teil einer logisch schlüssigen argumentativen Kette (genauer gesagt: das erste Wort, "statt", ruft das Register des Vergleichs auf, dem sich die Invertierung entzieht, weil sie sich dem gemeinsamen Nenner verweigert), sondern zunächst nur ein Sprachspiel. Durch das aber eben doch Sinn entsteht, wo vorher keiner war. Es ist immer wieder zu lesen, dass die Sprache ein unzureichendes Hilfsmittel sei, um sich Filmen zu nähern, dass das Wort zwingend und unhintergehbar mangelhaft und ärmlich sei verglichen mit dem Bild, auf das es sich beziehe. Jansens Satz zeigt, dass das Gegenteil der Fall ist: Die Sprache, und insbesondere der niedergeschriebene Text, fügt den Filmen (und auch anderen Gegenständen) etwas hinzu, etwas, das ohne sie schlichtweg keine Existenz hätte.

Der Text ist mehr als der Film und der Satz ist mehr als der Text, mehr als sein Thema vor allem. Das Thema, der “Aufhänger” von “Wege zu Lolita” ist, dass drei Regisseure (William Friedkin, John Waters und David Lynch) jeweils einen Lieblingsfilm (Paths of Glory, Boom!, Lolita) genannt haben. Man kann darüber streiten, ob die Frage, was die jeweilige Wahl mit den “Handschriften” der drei Regisseure zu tun haben könnte, eine herausragend interessante ist. Tatsächlich ist das fast der einzige Text Jansens im nun erschienenen Band, der zumindest vorderhand nicht von der Faszination für einen Gegenstand ausgeht, sondern eben von einem “Aufhänger”, einer Ausgangsfrage, die vielleicht etwas zu feuilletonistisch gedacht, zu konstruiert ist. Vor allem, weil das Fazit eh schon feststeht: Selbstverständlich findet Jansen Friedkin in Kubrick, Waters in Losey und Lynch in gleich noch einmal Kubrick wieder.

Nur, dass das beim Lesen kaum ins Gewicht fällt. Der Text emanzipiert sich vom selbstgesetzten Programm. Und letztlich ist es Jansen vielleicht nur um die Möglichkeit gegangen, den zitierten Satz über Lolita schreiben zu können, sowie einige weitere, ähnlich reichhaltige, über Paths of Glory: “Nichts Unvorhergesehenes ist zugelassen, weil anders das Unvorhergesehene nicht stattfinden kann.”

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“Die sich um ihre eigene Provokation betrügenden Provokateure hätten [...] fürchten müssen, als Taktiker zu erscheinen, die sich einer der bürgerlichen Ordnung inhärenten Taktik bedienen und damit womöglich nicht nur die Brauchbarkeit jener Taktik bestätigt hätten, sondern auch die Brauchbarkeit jener Ordnung. Das Muster der Solidarisierung lässt keine Freiheit (...).”

Eine andere Jansen-Passage, aus dem Text “Kino. Rebellion” (Merkur 243, 1968). Es geht um Filmpolitik, genauer gesagt um den Skandal, der sich auf dem Kurzfilmfestival Oberhausen an Hellmuth Costards Besonders wertvoll entzündet. Der Film war als Reaktion auf ein neues, von Costard und anderen als zu industrienah empfundenes Filmfördergesetz entstanden, in Oberhausen sollte er im Wettbewerb laufen, wurde dann aber aufgrund pornografischer Inhalte von einem Staatsanwalt als unzüchtig im Sinne des § 184 StGB befunden, weshalb das Festival ihn wieder aus dem Programm nahm. Woraufhin sich weite Teile der übrigen eingeladenen Filmemacherinnen und Filmemacher mit Costard solidarisch erklärten und ihre Beiträge ebenfalls zurückzogen. Oder so ähnlich zumindest, es ist nicht ganz einfach, die Interessenlagen und vor allem die Chronologie nachträglich zu rekonstruieren.

Jansen ist nicht solidarisch. Und zwar, weil er im bloßen Akt der Solidarisierung kein Bekenntnis zur (künstlerischen, gesellschaftlichen) Freiheit zu erkennen vermag, sondern nur die Fortschreibung eines Musters: Die Reaktion der sich selbst ausladenden Regisseurinnen und Regisseure ist für ihn genauso mechanisch wie die Entscheidung des Festivals, einen Film, der einen erigierten Penis zeigt, aus dem Programm zu nehmen. Beides gehorche der “Struktur des Ornaments” - und zwar solange, wie beide Seiten sich weigern, ihr je eigenes Referenzsystem in Frage zu stellen und sich stattdessen damit begnügen, immer wieder die “Intoleranz” respektive die “Obszönität” der Gegenseite zu “beweisen”. In der reinen, unreflektierten, wechselseitigen Negation bestätigen sich das System und die Rebellion gegenseitig.

Das Zitat oben treibt das Argument sogar noch weiter, vermittels sprachlicher Wiederholungsstrukturen: Die Provokateure betrügen sich um die Provokation (ergänze: und zwar gerade im Akt des Provozierens); sie haben Angst, als Taktiker zu erscheinen, die im Gebrauch der Taktik eine Taktik bestätigen (ergänze: und die doch, gerade in dieser Überlegung, selbst Taktiker sind); und in der Kommunikation mit der Ordnung eine Ordnung (ergänze: wodurch sie freilich eine andere, beide Seiten umfassende Ordnung stabilisieren). Im politisch-semantischen Feld, das Jansens Text umreißt, sind Begriffe wie Provokation, Taktik und Ordnung nicht mehr geeignet, produktive Unterscheidungen zu treffen, sie dienen nicht mehr dem Erkenntnisgewinn, sondern verweisen andauernd und ausschließlich auf sich selbst.

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Ob Jansen, der für eine innersystemische anstatt außersystemische Opposition und letztlich, nicht nur in diesem Text, für eine sozialdemokratische Position argumentiert, inhaltlich richtig lag? Wer will das heute noch entscheiden ... Zweifellos sind viele Texte Jansens zeitgebunden - aber eben auch, kläglicher Versuch eines Jansenismus: gebundene Zeit. “Ein Jahr Kinorebellion” (Merkur 248, 1968) zum Beispiel ist eine frühe Chronik der politischen Desillusionierung einer ganzen Generation, noch im vermeintlichen Revolutionsjahr erschienen.

Ich erinnere mich in diesem Zusammenhang an ein Uniseminar, es ging, eine Sitzung lang leider nur, um die Geschichte der deutschen Filmkritik, und insbesondere um die Zeitschrift filmkritik in den 1960er Jahren, noch konkreter um die Auseinandersetzung zwischen der “ästhetischen Linken” und der “politischen Linken”. Auf einen Hinweis darauf, dass die “politischen Linken” damals aus der Zeitschrift gedrängt worden seien, meinte der Dozent (in einem fast schon aufbrausenden Gestus, als gelte es, alte Kämpfe noch einmal auszufechten), man müsse da keineswegs Mitleid haben, die geschassten Redakteure seien schließlich anschließend den Weg durch die Institutionen gegangen und hätten sich in allen denkbaren Gremien eingenistet. 

Jansen zählte zur politischen Linken. Ich glaube, der erste Text, den ich von ihm gelesen hatte, war ein offener Brief als Antwort auf ein Pamphlet der ästhetischen Rebellen (filmkritik 3/1969), in dem er vor dem Primat der “Sensibilität” warnt. Im nun erschienene Band ist dieser Text nicht enthalten, die gesamte Diskussion taucht nur in Wolfgang Jacobsens Vorwort auf, was mir sofort einleuchtet; die Konzentration des filmpolitikhistorischen Diskurses auf die innerredaktionellen Fronstellungen einer einzigen Filmzeitschrift verdeckt, habe ich den Eindruck, insgesamt mehr, als sie enthüllt. Neu war mir beispielsweise, dass nicht ein Vertreter der ästhetischen Linken, beziehungsweise der “Sensibilisten”, sondern eben Jansen einen der schönsten Texte über May Spils’ Zur Sache, Schätzchen geschrieben hat (filmkritik 2/1968): “(...) [den Film] interessiert nicht der Genotyp, ihn interessiert der Phänotyp. Und der verhält sich zur gesellschaftlichen Wirklichkeit wie eine Kamera: da wird zwar ein Film belichtet, aber die Bilder, die aufgenommen werden, verändern die Kamera nicht. Sie verbraucht sie allenfalls, wird ramponiert und alt.” (Stimmt der letzte Satz? Ist nicht gemeint: Sie – also die Kamera – verbraucht sich? Oder sind es die Bilder, die die Kamera verbrauchen? Oder aber ist es doch so gemeint, wie es hier steht: Die Kamera verbraucht sich, indem sie die Bilder, die sie aufnimmt, ihrerseits verbraucht? Wieder entwickelt die Sprache ein Eigenleben...)

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