Tuesday, January 19, 2021

Große Lüge

Hannah Arendts "The Origins of Totalitarianism", das ich in den letzten Tagen der Trump-Präsidentschaft ohne konkreten Anlass (ich wollte schreiben: zufällig; aber was liest man schon zufällig?) gelesen habe, ist vielleicht tatsächlich geeignet, etwas von dem greifbar zu machen, was am Trumpismus eben doch neu ist, oder zumindest nicht ganz in der Pragmatik zynischer konservativer Machtpolitik aufgeht. Es handelt sich dabei, glaube ich, nicht bloß, wie gerade Timothy Snyder schreibt, um den bloßen Hang zur Kontrafaktik, um die vielen kleinen Lügen, die nun in der einen großen sich zuspitzen; die Wahlbetrugsvorwürfe, so lächerlich sie auch sind, negieren das System letztlich doch nicht komplett. Die Behauptung, die Wahl sei unfair verlaufen, kann sich nicht ganz vom Ideal der fairen Wahl emanzipieren. Dass das zugrundeliegende Fantasma etwas mit Rassismus zu tun hat, ist sicher richtig; aber eben deshalb verbleibt es noch in einer historischen Kontinuität, von der sich der Trumpismus insgesamt tendenziell löst. Die tatsächliche große Lüge, das exakte Äquivalent der "Protokolle der Weisen von Zion" und der stalinistischen Verschwörungstheorien, ist nicht der Wahlbetrug, sondern Qanon. Die taktische, strategische Lüge über den Wahlbetrug verweist als einfache Negation auf die Welt, das auf Fiktion gegründete, aber in sich schlüssigen Lügengebäude der Verschwörungstheoretiker hingegen kapselt sich von ihr ab. Gefählich ist gerade das Krude und Unverhältnismäßige, fast schon Clowneske an Qanon; weil es darauf verweist, dass da eine neue Sprache entstanden (oder vielleicht erst im entstehen begriffen) ist. Der Putsch sei, liest man nun, an Trumps erratischem Politikstil gescheitert. Der nächste Trump, ob nun in den USA oder sonstwo, würde sicher überlegter vorgehen. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall. Vielleicht ist uns das Schlimmste nur deshalb erspart geblieben, weil der Trumpismus nicht weit genug gegangen ist in seinem Wahnsinn, weil Trump und Qanon nie komplett zusammengefunden haben.

(Eine sonderbare Lektüre ansonsten, im Ganzen und in vielen Passagen brilliant, aber es gibt immer wieder diese ziemlich quälenden, komisch aufdringlich repetitiven Passagen, die sich von der Rekonstruktion politischer Geschichte lösen und ins Anthropologische überwechseln, stets verbunden mit einem Dringlichkeitsgestus, der dem Gedankenfluss äußerlich bleibt.)

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