Wednesday, March 28, 2007

Sürü, Zeki Ökten, 1978

Ein tieftrauriger Film aus den Weiten der ländlichen Türkei, noch während der Hochzeit der türkischen Filmindustrie entstanden, gleichzeitig, in einer wohl äußerst peripheren Position, in ihr und - so ist zu vermuten - gegen sie. Auch wenn der Film 1979 auf der Berlinale zu sehen war (natürlich im Forum), ist er meilenweit entfernt vom Festivalkino heutiger Tage.
Wenn Kino überhaupt wirklich politisch sein kann, dann ist Sürü ein politischer Film - einer unter sehr wenigen, vermutlich. Und das gerade weil Ökten und Drehbuchautor Yilmaz Güney nie versuchen, die Handlung direkt zu politisieren. Zwischen der marxistischen Theorie, genauer gesagt zwischen der Ausformulierung ihres dialektischen Prinzips, und dem Alltagsleben der Schäfer klafft eine Lücke, die der Film nicht auf der Ebene der Handlung zu schließen versucht.
Wenn die Schäfer des Hochlandes in die Städte ziehen, sieht man im Hintergrund einen Traktor einen Pflug ziehen. Doch erst anschließend folgt eine fast eisensteinsche Montagesequenz, die den Alltag der Hirten mit der maschinellen Zukunft konfrontiert, die ihre gesamte Lebensart zerstören werden. Und in der Stadt bleibt es einem altklug daherredenden Kind vorbehalten, auf die Wiedersprüche der bestehenden Gesellschaftsordnung hinzuweisen. Die eigentlichen Protagonisten sind nicht nur in der alten Ordnung der Familienfehden und Ehrenmorde gefangen, sondern in einem weiteren Sinne auch in ihrem eigenen Körper.
Immer bleibt eine nicht zu schließende Lücke bestehen zwischen dem konkreten, sinnlichen wie sozialen Erleben einerseits und dem unerbittlichen politischen Projekt des Films andererseits, dem das Volk hier tatsächlich im deleuzeschen Sinne fehlt, erzwungendermaßen und unwiederbringlich.
Eine lange Bahnfahrt verbindet Land und Stadt. Mithilfe punktgenauer Beobachtungen durchquert Öktens Film den geografischen wie den sozialen Raum. Hier erreicht der Film eine Intensität und Dringlichkeit, wie sie das Kino im postfordistischen Zeitalter in Westeuropa wohl nie wieder erreichen kann - oder höchstens in postkolonialen Zusammenhängen. Die radikale Verschiedenheit der Hirtendörfer einerseits und Ankaras hat Auswirkungen auf alle filmische Register. Doch beiden Lebensformen entsprechen spezifische sinnliche Konfigurationen. Und diese sind miteinander absolut unkompatibel.
In der Stadt angekommen werden die Hirten mit einer Warenform jenseits der traditionellen Tauschgeschäfte konfrontiert: Sie starren die - für sie unerschwinglichen - Elektrogeräte einer Ladenauslage an. Und die Heizungen und Backöfen starren zurück.
Sürü ist kein marxistischer Thesenfilm, auch wenn er deutlich in jeder Szene von marxistischer Theorie durchdrungen ist. Sürü ist das tieftraurige, unendlich bewegende Dokument des Untergangs einer präkapitalistischen Gesellschaftsform, ohne Hoffnung auf Errettung durch Transformation, da sie mit einer spezifischen sinnlichen Konfiguration, einer somatischen realität verbunden ist, die vom Kapitalismus radikal konsequent vernichtet wird. Und zu allererst ist Sürü ein Film, der gesehen werden muss. Wer in Berlin wohnt, kann ihn sich in Kürze im Videodrom auf DVD ausleihen.
Mehr (und kompetenter) zu dem Film hier: http://www.sensesofcinema.com/contents/cteq/04/32/suru.html

No comments: