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Wednesday, July 11, 2012

Kaçıklık diploması, Tunç Başaran, 1998

Das Verrückten-Diplom bekommt Nur, die Hauptfigur, am Ende des Films - und damit ihre Freiheit. Gegen drei Männer hat sie sie erkämpfen müssen: gegen ihren spielerisch repressiven, politisch rechten Vater, gegen ihren träge repressiven, alkoholisierten, politisch linken Ehemann und gegen Kemal Atatürk, den Übervater der Nation. Mit letzterem ist am Ende eine Aussöhnung möglich, mit den beiden ersten nicht. Nicht einfach nur zeigt der genuin aufklärerische Film (inszeniert von einem Altmeister des türkischen Kinos) Kaçıklık diploması die Geisteskrankheit als angemessene Reaktion auf die Schizophrenie des Realen: Vor allem nimmt er ganz unbedingt Partei für die individuelle Psychose und gegen die kollektive.

Kaçıklık diploması ist ein ziemlich toller Film, der die Psychiatrie, in die Nur mehrmals mit eher unklaren Symptomen (so ungefähr: bipolare Störung cum Schizophrenie; eine nationale Psychose, die nicht zu trennen ist von einem sehr konkreten Unterdrückungszusammenhang) eingeliefert wird, zuerst als Hölle auf Erden einführt, von der aus der Film sich als Traumaerzählung in die Vergangenheit hinein ausbreitet; und der diese Anordnung dann so konsequent umstülpt, dass am Ende die Psychiatrie als der einzige Ort sichtbar wird, an dem Nur menschliche Bindungen aufrecht erhalten und vor allem einüben kann: mit einer wohlwollenden Ärztin, vor allem aber auch mit den anderen Patientinnen, die vom Film nicht ausgebeutet werden als "weitere Fallbeispiele" in einem psychosozialen Gruselkabinett, sondern an denen nur der individuelle - individuierende - Ausdruck von Leid interessiert.

Der Film ist demnächst im Videodrom entleihbar.

Wednesday, January 18, 2012

Ay Büyürken uyuyamam, Şerif Gören, 2011

Lebendiges world cinema sehe ich zur Zeit nicht allzu oft am Potsdamer Platz (wo die Berlinale-vorab-Pressevorführungen laufen), dafür finde ich es im Neuköllner Cineplex Carli. Vier türkische Filme laufen dort zur Zeit, zwei habe ich die letzten Tage gesehen. Kurtuluş Son Durak kam zuerst, das ist eine gut geölte, feministische Mainstreamkomödie (deren Regisseur Yusuf Pirhasan vorher ausschließlich Internetserien aus dem lonelyfirl15-Umfeld inszeniert hatte) um einige Hausfrauen, die mal mehr, mal weniger aus Versehen ihre Männer umbringen und am Ende einenlandesweiten Aufstand gegen häusliche Gewalt in die Wege leiten.
Eine Art Meisterwerk war dann Ay büyürken uyuyamam. Ein vielsträngiges Melodram, drei Frauen in einer Kleinstadt an der Ägäis (Balıkesir, die liberale Nachbarstadt Izmir ist als Sehnsuchtsort ein fester Bezugspunkt), die Mutter und zwei Töchter inmitten eines erotischen Mahlstroms, der alles mit sich reist und am Ende die Frauen selbst aus der Stadt spült.
Ay büyürken uyuyamam ist eine Literaturverfilmung, er scheint tatsächlich geprägt von einem "erzählerischen Exzess": Die unterschiedlichen Parallelhandlungen wechseln sich nicht fein säuberlich, parallelmontagenhaft, ab, sie reihen sich auch nicht einfach hintereinander auf, sondern sie überschlagen sich, mal drängt die eine, mal die andere nach vorne, manche nur für eine Einstellung, die nächste dann gleich für eine Viertelstunde. Es ist also genauer gesagt ein Exzess der Erzähllust, kein Exzess des Erzählraffinements (wie bei Raoul Ruiz), passend natürlich für eine Erzählung über Lustexzesse.
Vielleicht strukturiert die Lust, das Begehren selbst den Film. Er lässt sozusagen jedes Begehren zu seinem Recht kommen und das intensivste Begehren, das der Mutter Melek, bekommt dann wie selbstverständlich den meisten Raum. Fast alle größeren Handlungsstränge hängen an ihr. Der eine sollte ihre Tochter lieben, liebt aber sie, der andere liebt tatsächlich ihre (andere) Tochter, aber sie dennoch ihn, ein dritter begehrt sie und startet nach der Zurückweisung einen Aufstand des religiösen Mobs, ein vierter sucht ihre Träume heim und so weiter. Der Film lässt das Begehren zu seinem Recht kommen: das heißt auch, dass er noch nicht von Anfang an weiß, was er zulassen kann und was nicht. Dass er als "Episodenfilm" beginnt, sich dann verengt auf die Bäckerei Meleks und ihrer Töchter (auch in Berlin, unnütze Nebeninformation, gibt es eine Bäckereikette mit dem Namen Melek), auf den Laden, die darüberliegende Wohnung und die lästernden Männer in den Cafes gegenüber, dass er sich dann noch weiter verengt auf Melek selbst, auf ihre Fieberträume von Liebe und Eifersucht, die kein Ende zu nehmen scheinen (immer wieder die Nähe des Mannes, immer wieder die Tochter, die die Lust der Mutter betrügt, immer wieder im selben Bett aufwachen - ein anderes Mal fängt sie einfach so an, ein Lied zu singen, begleitet von der Musik des Films: Sie möchte das Recht haben, zu singen, sagt sie, der Film steht da, wie auch sonst, ganz auf ihrer Seite), dass er sich dann am Ende wieder weitet, jetzt aber auf eine politische Perspektive hin, auf eine dezidiert antiislamistische genauer gesagt, die auf die schrittweise Abschaffung des Laizismus in der Türkei unter Erdoğan reflektiert (aber auch auf die unterschiedlichen Oppositionen gegen diese Abschaffung); dass damit also ein soziales Panorama durch ein individuelles Begehren transformiert wird in eine Erzählung über Selbstermächtigung: das kann man hinterher so konstatieren und natürlich wird das irgendwann auch so entworfen worden sein, vielleicht schon vom Autor der Vorlage, vielleicht erst von Drehbuchautor und Regisseur Şerif Gören (einem Altmeister des türkischen Kinos, der für Güney Yol inszenierte und dessen Almanya acı vatan mich vor ein paar Jahren ziemlich begeistert hatte - Ay büyürken uyuyamam ist seine erste Regiearbeit seit 18 Jahren). Aber "inmitten des Films" ist diese Struktur nebensächlich, viel wichtiger sind die Seufzer, die Tränen, die Blicke in jedem einzelnen Moment.
Vielleicht ist "Melodram" schon falsch, zumindest soweit, wie das Genre von einem "zu spät" erzählt, das aus ein, zwei zentralen Beziehungen resultiert, also eigentlich aus Relationsverhältnissen, die vom Einzelnen immer etwas zu schnell absehen und die unproblematische Kommunizierbarkeit von Verlangen (noch, wenn sie dessen Scheitern zeigen) voraussetzen. In Ay büyürken uyuyamam lebt jeder in seiner eigenen Zeitlichkeit, die Figuren bleiben sich einander stets so fremd, wie Menschen sich eben tatsächlich einander fremd sind (Luhmanns doppelte Kontingenz), es gibt zwar misslungene Begegnungen und so weiter, aber der gefühlte melodramatische Exzess ist keiner, der aus einer Relation entsteht, er bleibt stets im strengen Sinne individueller Ausdruck.
Ein wundervoller, lichtdurchfluteter Film ist Ay büyürken uyuyamam, ein Film, in dem es manchmal ganz sonderbar regnet, wie gezeichnet sieht das fast aus in einer Szene, auch der Neben ist theaterhaft und einmal, am Ende, scheinen die Bilder selbst aufreißen zu wollen.

Friday, June 11, 2010

Yahşi Batı, Ömer Faruk Sorak, 2010

Dem türkischen Kino geht es, nach einer schwerwiegenden Rezession Anfang der Neunziger Jahren, als jährlich kaum ein halbes Dutzend Filme produziert wurden, wieder ausgezeichnet. Und zwar nicht nur dank den neuen Autorenfilmern um Nuri Bilge Ceylan. Mindestens ebenso eindrucksvoll wie deren Festivalerfolge gerät die Renaissance des populären Kino. Jahr für Jahr reüssieren zahlreiche Blockbuster an den türkischen Kinokassen, der Marktanteil einheimischer Produktionen übersteigt in manchen Jahren 50% - ein Wert, der in den meisten europäischen Ländern nicht einmal annähernd realisierbar scheint. Kulturelle und anderweitige Übersetzungsschwierigkeiten sorgen dafür, dass die Mehrzahl dieser Filme außerhalb der Türkei praktisch überhaupt nicht wahrgenommen wird. Außer natürlich in den umfangreichen Auslandsgemeinden: In deutschen Großstädten kann man sich dank Verleihern wie "Maxximum Film und Kunst", die - oft zeitgleich zum türkischen Kinostart - deutsch untertitelte Kopien in Berlin, München und anderen Städten vertreiben, ein recht umfassendes Bild des populären türkischen Kinos machen. Wie wenig sich die deutsche Presse mit diesem parallelen Kino auskennt, konnte man 2006 anlässlich der hysterischen Reaktionen auf den Actionfilm Kurtlar Vadisi - Irak beobachten. Die Aufregung war damals schnell verflogen und dass in den Folgejahren zwei weitere Kurtlar Vadisi-Filme (Kurtlar vadisi - Muro, 2008 & Kurtlar vadisi - Gladio, 2009) sowie eine Kurtlar Vadisi-Parodie (Maskeli Beşler – Irak, 2007) in den deutschen Kinos starteten, hat bereits kaum jemand mehr mitbekommen.

Die Wiederbelebung des türkischen Kinos ist allerdings primär nicht dem B-Actionfilm, sondern einem ganz anderen Genre zu verdanke: der Komödie. Die Dorfklamotte Vizontele aus dem Jahr 2001 darf als einer der wichtigsten Filme für die Wiederbelebung Yeşilçams (die türkische Filmindistrie wird Yeşilçam genannt nach der Istanbuler Straße, in der zahlreiche Filmstudios ihren Sitz hatten) gelten. Cem Yılmaz war in Visontele in einer Nebenrolle zu sehen. Während die meisten Comedy-Stars des türkischen Kinos ihre Sporen im Fersehen verdienten, machte sich Cem Yılmaz als Stand-up-Komiker einen Namen. Seit seiner Science-Fiction-Farce G.O.R.A. (2004) ist Yılmaz der einzige türkische Comedystar, der hierzulande einem etwas breiteren Publikum ein Begriff ist. Seine Formel ist ebenso einfach wie einleuchtend: alles kann und muss türkisiert werden. In G.O.R.A. war das Weltall und die Zukunft an der Reihe, im Nachfolger A.R.O.G. (2008) die Steinzeit. Gemeinsam mit G.O.R.A.-Regisseur Ömer Faruk Sorak überträgt Yılmaz sein Erfolgsrezept nun auf einen ganz anderen Zusammenhang: Yahşi Batı ist ein Western mit Postkutschen, Totempfählen und auch sonst allem drum und dran. Und während G.O.R.A. seinerzeit unter seinem eigenen für türkische Verhältnisse extrem hohen Büdget zu ersticken drohte, ist Yılmaz / Sorak diesmal eine gut geölte Mainstreamkomödie gelungen, die nicht nur auf ein beachtliches Produktionsniveau, sondern auch auf handwerkliche Routine verweist.

Eine rudimentäre Rahmenhandlung in der Gegenwart führt in den Film ein: Anlässlich eines Verkaufsgesprächs erzählt ein übereifriger Geschäftsmann eine Räuberpistole aus vergangenen Zeiten. Es geht um zwei Abgesandte des Sultans, Aziz Efendi (Cem Yılmaz) und Lemi Bey (Ozan Güven), die dem amerikanischen Präsidenten einen faustgroßen Diamanten als Geschenk überbringen sollen. Nachdem die ersten Dialoge auf englisch vorgetragen werden, beschwert sich ein Zuhörer und der Film wechselt - per eingeblendetes DVD-Sprachauswahlmenu - ins Türkische. Dass die Banditen, die in dieser Szene Aziz' und Lemis Postkutsche überfallen, türkisch sprechen ist in diesem Film nur konsequent. Der Humor resultiert eben gerade nicht daraus, dass Aziz und Lemi mit einer ihnen völlig fremden Kultur konfrontiert würden. Statt dessen lauert hinter jeder Indianerfedern und unter jedem Cowboyhut immer schon die Türkei und wartet nur darauf, von den Neuankömmlingen aktiviert zu werden. Wenn die beiden Helden die Poststation betreten, begrüßt sie der Postbeamte mit Wangenküsschen und reicht ihnen Tee. Der Bösewicht des Films, der gleichzeitig Sheriff und Pastor ist, hat einen starken südostanatolischen Dialekt und die Indianer tragen allesamt Namen Istanbuler Fast-Food-Restaurants. Ein running gag greift währenddessen die vor einigen Jahrzehnten in der Türkei populäre Theorie auf, dass Indianer und Türken dieselben zentralasiatischen Vorfahren gehabt hätten und dass deshalb Indianer irgendwie auch Türken seien und die in einer langen Reihe steht mit ähnlich gelagerten Selbstbetrachtungen des Türkentums. In Filmen wie Yahşi Batı allerdings wird Kultur gerade nicht mehr essenzialistisch und identitär, sondern spielerisch verhandelt.

So kalauern sich Aziz und Lemi durch einen der Unternehmung angemessen kulissenhaft ausgestalteten wilden Westen, bandeln mit einem Calamity-Jane-Verschnitt an ("Dein Schnurrbart ist interessant" - "Deiner auch, meine Süße"), nehmen an einem türkischen Ringkampf teil und landen am Ende tatsächlich im weißen Haus, wo ein schwarzer Diener auf die Frage, was seine weiteren Pläne seien, antwortet: "Jetzt pisse ich nur in die Limonade, aber ich habe noch Großes vor".

Sunday, January 04, 2009

Susuz yaz, Metin Erksan, 1964

Susuz yaz, Metin Erksan, 1964

Osman und Hassan, ein Brüderpaar in der Türkei, auf dem Land. Es geht um Wasser und um eine Frau. In welcher Reihenfolge, das wird nie ganz geklärt.
Das Wasser entspringt vom herrschaftlichen Grundstück der beiden Brüder und fließt von dort weiter in das Tal herunter, wo die Bauern aus dem Dorf ebenfalls ihre Felder bewässern müssen. Nun stellt sich die Frage, ob das Wasser Allgemeingut ist, oder ob die Brüder ein Besitzrecht haben. Die Obrigkeit schafft keine Klarheit, im Grunde geht es auch nicht um juristische Differenzierung, sondern um eine harte Opposition: Auf der einen Seite stehen die (nach eigenem Bekunden) trägen, hilflosen Feldarbeiter, die sich mit dem begnügen, was sie vorfinden und lediglich den Status quo bewahren wollen, auf der anderen Seite steht Osman, dem die Natur eine immer schon formbare ist, Material, das es zu bearbeiten - und vor allem sich anzueignen gilt. Eine quasifeudale Ordnung trifft auf einen Protokapitalisten.
Osmans Bruder Hassan, ein verträumter Idealist, würde gerne Frieden schließen mit den übrigen Bauern, doch sein Bruder lässt ihn nicht. Dafür bekommt Hassan die Frau, Bahar. Mithilfe von Osman entreißt er sie einer Familie aus dem Dorf, die sich genauso wenig dagegen zu wehren vermag, wie die Bauern etwas gegen den Staudamm anrichten können, den Osman ihnen vor die Nase gesetzt hat und der ihnen ihre Lebensgrundlage zu entziehen droht. Um die Besitzrechte an Bahar und an dem Wasser hinter dem Staudamm geht es dann immer wieder und in immer neuen Konstellationen.
Freilich wandelt sich Osmans Energie, sobald Hassan und Bahar sich fast vor seiner Nase miteinander vergnügen. Osman selbst ist Witwer und die ungeheure Energie, mit der er seinen Hof gegen die Dorfbewohner verteidigt, wird immer deutlicher umkodiert zur Kompensation sexueller Frustration. Einmal schneidet Erksan, der nicht nur in dieser Szene mit bunuelscher Präzision zu Werke geht, direkt vom neidischen Schlüssellochblick Osmans zur nächsten Szene, in der er mit einer Axt auf einen Baum eindrischt.
Erol Tas spielt seine Paraderolle, den Bösewicht, voller Innbrunst und lässt keinen Exzess aus, nicht einmal (freilich nur dezent angedeutet) Sodomie. Nach einem Schlangenbiss findet er schließlich eine Möglichkeit, zu Bahar vorzustoßen:



Friday, December 12, 2008

Kein Platz für Ağa

Züğürt Ağa, Nesli Çölgeçen, 1985

Ein Ağa ist, wenn ich das richtig verstanden habe, Bürgermeister und Lehnsherr in einer Person. Der Titel entstammt eigentlich dem osmanischen Reich und wurde dort von militärischen und zivilen Würdenträgern verschiedener Ränge geführt. Offiziell abgeschafft im Jahr 1934 überlebte er in der modernen Türkei informell überall dort, wo die feudalen Besitzverhältnisse bestehen blieben.
Der Ağa in Züğürt Ağa herrscht über ein kleines Dorf im Südosten der Türkei. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, beziehungsweise Paternalismus der alten Schule. Der Ağa ist nicht nur Dorfbesitzer- und vorsteher, sondern gleichzeitig trotz eher schmächtiger Gestalt Ringkämpfer und wird als solcher während der Kämpfe von seinen Untertanen pflichtschuldig bejubelt. Und er gewinnt natürlich auch, obwohl der sportliche Wert dieser Siege fragwürdig ist, schließlich bekäme ein Triumph seinem jeweiligen Kontrahenten schlecht.
Noch ist alles eitel Sonnenschein, wie gesagt. Etwas zu viel Sonnenschein freilich und zu wenig Regen, weshalb ein Imam aktiviert wird, der für Regenwasser beten soll. Mehr als eine winzige Wolke, die per Rückprojektion über den ansonsten glänzend blauen Himmel zieht (die archaischen special effects wirken in dem ansonsten technisch sehr ordentlich produzierten Film etwas anachronistisch) springt dabei jedoch nicht heraus. Der Imam verfolgt sowieso eigene Interessen und verkauft Grundstücke im Paradies an die Dorfbewohner gegen Wählerstimmen.
In der ausführlichen Exposition ist das größte Problem des Ağa die Geilheit seines Vaters, welcher bei jeder Gelegenheit lautstark seinen Wunsch kundtut, seine Gemahlin zu verlassen, um wieder mit jungen Frauen schlafen zu können. Der Ağa selbst flirtet zwar auch lieber mit der jungen Kiraz, als mit seiner Frau zu schlafen - was man ihm kaum vorwerfen kann, schließlich bezeichnet sogar diese selbst den ehelichen Sex als "Ringkampf" -, ist geschlechterpolitisch aber eher liberal unterwegs, zumindest gemessen an den realen Verhältnissen in seiner Umgebung. Auch als Ganzes positioniert sich der Film in vielen Disursen, von Religion bis Feminismus, liberal-humanistisch. Mehr als diese im Detail dann doch oft fragwürdige Ideologie (beispielsweise sind die Frauen im Film eigentlich fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Bildhintergrund gegenseitig an die Gurgel zu gehen) interessieren mich an Züğürt Ağa die eher impliziten Aspekte seines Gesellschaftsbilds, und die finde ich, wie es sich für einen ordentlichen Salonmarxisten gehört, natürlich im Bereich der Produktionsverhältnisse.
Nach der Exposition bricht die Sozialstruktur des Dorfes mit erstaunlicher Konsequenz und Radikalität zusammen. Weil Züğürt Ağa kommerzielles Kino ist, beginnt alles auf der symbolischen Ebene: Ein Ringkämpfer wurde nicht hinreichend bestochen und macht den Ağa gnadenlos platt. Noch sind die Dorfbewohner zwar loyal und jagen den Sieger gemeinsam zum Teufel, doch fortan geht alles schief. Denn weil Züğürt Ağa gutes kommerzielles Kino ist, beschränken sich die Veränderungen nicht auf die symbolische Ebene. Es geht Schlag auf Schlag. Der Vater stirbt, die Ernte ist mieß, die Dörfler gehorchen bei der Wahl nicht der eigentlich verbindlichen Empfehlung ihres Ağa und wählen statt dessen wegen der Grundstücke im Paradies den Kadidaten des Imams (vielleicht ist in dieser Entscheidung schon prophetisch der Elitenwechsel von den Kemalisten zu den Islamisten vorgezeichnet, der in der realen Türkei erst ein Jahrzehnt später einsetzte), daraufhin kürzt der Ağa ihnen die Getreideration, was die Bauern wiederum dazu veranlasst, die Scheune zu stürmen und mit der Beute nach Istanbul durchzubrennen.
Das alles ist in humorvolle Vignetten verpackt, die jedoch nie die fast mechanische und selbst im Detail folgerichtige Dynamik der Destruktion einer ganzen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung, die sie antreibt und der sie Bilder leihen, verleugnen können, oder auch nur wollen. Bald steht der Ağa vor den Trümmern seines feudalistischen Paradieses und verkauft es alsbald an den Höchstbietenden. Auch er macht sich auf nach Istanbul.
Hier, in Istanbul, spielt der zweite Teil des Films. In Istanbul ist alles anders. Züğürt Ağa postuliert einen ähnlich radikalen Bruch zwischen Land und Stadt wie Yilmaz Güneys Meisterwerk Sürü. Natürlich verklebt der Mainstreamfilm Züğürt Ağa die beiden Filmhälften auf der Ebene des Genres - durch ein rührseliges Melodram um Kiraz etwa -, wo Güney und sein Regisseur Zeki Ökten den Bruch auf allen filmischen Ebenen suchten. Die soziale Erfahrung, von der die Filme berichten, ist aber erkennbar dieselbe. Çölgeçen hat sehr wohl einen Begriff von dieser Erfahrung und er vermittelt sie auch, obwohl nicht als Begriff.
Für die Komik sorgt jetzt der Ağa selbst, nicht mehr sein Vater. Für letzteren wäre in Istanbul sowieso kein Platz, doch auch sein Sohn tut sich schwer. Geschäft um Geschäft geht vor die Hunde, bald müssen die Möbel verkauft werden und die Ehefrau wird immer ungeduldiger.
Der Ağa trifft in der Stadt auf seine ehemaligen Untergebenen. Als er ihr Cafe betritt, funktionieren die alten Reflexe, aber sie sind nur noch nutzlose Muskelerinnerung, nicht mehr die Verkörperlichung der Produktionsverhältnisse. Statt dessen kollidieren sie mit der großstädtischen Dingwelt (die macht dem Ağa sowieso, auch darin ist der Film ganz kommerzielles Kino, am meisten zu schaffen in der neuen Umgebung). Wie in der Heimat möchten sie sich im Halbkreis um ihren Boss herum aufstellen, aber im engen Cafe will das nicht so recht funktionieren. Im Stühleklappern manifestiert sich ein qualitativer Sprung.
Die Unterwerfung ist sowieso nur noch Charade und wird bald aufgegeben. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse ist eine asymetrische. Der Paternalismus des Ağa überlebt länger als die Loyalität seiner ehemaligen Untertanen. Doch seine wohlwollenden Gesten sind nicht mehr die symbolische Belohnung für die realen Leistungen der Untergebenen, sondern gehen ganz im Gegenteil dem Ağa ganz real an den Geldbeutel, während er sich umgekehrt von nur noch symbolischen Unterwerfungsgesten(und selbst die verschwinden, wie gesagt, alsbald) nicht ernähren kann.
Das Ergebnis ist gleichzeitig flüssig erzähltes, lustiges und technisch gutes kommerzielles Kino (inklusive, das sei nebenbei angemerkt, einem schönen funky Leitmotiv auf der Tonspur) und das nachvollziehbare, erstaunlich komplexe Selbstbild einer Gesellschaft, die bis heute stark von sozialen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Ideologische blinde Flecken gibt es natürlich auch (welcher Film hat die nicht?) und zwar nicht zu knapp, aber Züğürt Ağa scheint doch auf einer ganz fundamentalen Ebene sehr ehrlich über die Gesellschaft nachzudenken, aus der er entstammt.

Monday, February 04, 2008

Tatil kitabi / Summer Book, Seyfi Teoman, 2008

Der integre Teil des Weltkinos hat längst eine Filmgrammatik entwickelt, die mindestens ebenso konventionalisiert ist wie sein böses anderes, Hollywood. Tatil kitabi ist Teil dieses Kinos und sein Regisseur Seyfi Teoman beschreibt in seinem Director's statment mit bewundernswerter Präzision die dieser Filmform zugrundeliegende Ästhetik: "The combination of long wide shots with functional close-ups, amateur actors, minimal acting and natural lighting are the determing characteristics for the style and atmosphere of this film."
Selbstverständlich bietet diese Filmsprache - wie die Hollywoods - unendliche Variationsmöglichkeiten und so durchzieht Tatil kitabi denn auch ein völlig anderer Tonfall als beispielsweise die Filme der Berliner Schule oder, naheliegender, Nuri Bilge Ceylans. Mit letzterem verbindet Teoman die unaufdringliche Stilisierung des Dargestellten, oft mittels kunstvoller Schärfeverlagerung (beispielsweise während eines assymetrischen Blickwechsels, der für die eine Seite Beginn eines Flirts, für die andere höchstens ein kurzer Ausbruch aus dem ehealltag darstellt), allerdings steht diese weit weniger im Mittelpunkt. Stärker als Ceylan ist Teoman seinem Schauplatz verpflichtet, einer türkischen Provinzstadt, deren Porträt ist Tatil Kitabi im Grunde mehr als das der Großfamilie, welche im Zentrum der Handlung steht.
Die Parameter sind längst bekannt, Tatil kitabi orientiert sich wie andere gute neue türkische Filme (und wie nebenbei bemerkt noch fast jede Neue Welle der letzten 30 Jahre) in letzter Instanz am italienischen Neorealismus. Dennoch gefällt Teomans Film: Die Kamera weiß in jedem Moment, was sie tut, die Figuren geraten nicht ins Schwatzen, wollen uns nichts beweisen sondern höchstens einen kleinen ausschnitt ihres Lebens präsentieren.
Der Film, auch das gehört zum Konventionsarsenal dieses Kinosegments, findet keine inhaltliche, wohl aber eine formale Schließung. Insofern ist der Schluss von Teomans Director's statement eigentlich nur halb richtig: "I think a film should try to be as loose as life itself."
Natürlich existieren im "life itself" keine motivisch-zirkulären Schließungen wie in Tatil kitabi (obwohl: die wiederkehrenden Schulbänke am Ende der Sommerferien sind zumindest Teil einer Serie), keine stringende Motivik und so weiter. Und natürlich ist es letztlich willkürlich, Film auch nur irgendwie mimetisch einer so allgemeinen Kategorie wie dem Leben angleichen wollen. Was jedoch bleibt, ist ein Film, der ein Fenster zur Welt sein will, mit all den Problemen, die eine solche Konzeption mit sich bringt (unter anderem dem Verzicht auf jede falsche Unmittelbarkeit, da der Zuschauer sich immer schon auf der falschen Seite des fensters befindet). Und irgendwie ist ein Film wie Tatil kitabi vielleicht tatsächlich dieses Fenster.

Thursday, April 05, 2007

Umut, Yilmaz Güney, 1970

Ein weiteres Meisterwerk Yilmaz Güneys, dem Vernehmen nach sein erstes und gleichzeitig sein Abschied vom Genrekino.
Umut beginnt im Stil eines verschärften Neorealismus. Der naheliegendste Vergleich ist De Sicas Fahraddiebe, allerdings spielt Güneys Werk nicht zwischen römischen Bürgerhäusern, sondern in der türkischen Peripherie, nahe der syrischen Grenze in einer Szenerie, in der die Weite beengt, weil sie darauf verweist, dass selbst diejenigen, die es zu etwas bringen, keine großen Häuser bauen, oder sich sonst in irgend einer Weise um die Stadt, wenigstens in architektonischer Hinsicht, bemühen.
Der Kutscher Cabbar, gespielt von Güney selbst, scheint mit seiner vielköpfigen Familie an einem Ort zu leben, der vieles ist, aber kein Haus imeigentlichen Sinne. In gewisser Weise erinnert das - immer tendenziell etwas zu weitläufige - Durcheinander aus Mauerresten, Wäscheleinen und Straßenschrott, in dem er und die seinen leben, an die Hirtenunterkünfte im acht Jahre später entstandenen Sürü (oder auch an die Unterkunft der Bekannten der Hirten in Ankara im letzten Drittel dieses Films, einer zwar bewohnten, aber nicht zu eigen gemachten, unmöblierten und verdreckten Etage in einer designierten Luxuswohnung, die bald den eigentlichen Besitzern übergeben werden wird). Güneys Protagonisten scheitern bei ihren Versuchen, in die bürgerliche Gesellschaftsordnung einzusteigen, bereits an einer derer elementarsten Voraussetzungen, dem Bewohnen eines Hauses. Nur zwangsläufig sind in den 80er Jahren die Helden seiner letzten beiden Filme Gefängnisinsassen. In Duvar findet sich schließlich das andere Extrem: Das Haus des Gefängnisses verwandelt sich in einen Mikrokosmosxder buchstäblich kein Aussen mehr kennt, aber auch in das bürgerliche Hau per se, in welchem Mann, Frau und Kind punktgenau beschränkte Räume zugeteilt sind.
Neben dem Setting ist es im ersten Filmabschnitt vor allem ein formales Merkmal, welches die Filme von den unterschiedlichsten Neorealismen abhebt. Die bestimmende Kameraperspektive (zwar nicht die häufigste, aber doch die akzentuierteste) ist die Aufsicht. Immer wieder verlässt Güney die perspektivische Wahrnehmung der Normalsicht und wechselt in eine deutlich erhöhte Position. Dies ist nicht die kontrollierende, einschreibende Kamera Kubricks, auch wenn sie mit dieser möglicherweise zumindest insoweit verwandt ist, als das ihre unmittelbare Wirkung reichlich deprimierend erscheinen kann. Statt dessen ist es eine Kamera, die sich zu allererst für Laufwege, Verbindungen und Interaktionen interessiert. Der Kamerastandpunkt ist nie so hoch, dass die Personen von der Umgebung erdrückt werden, wohl aber hoch genug, dass die Figuren, allen voran Cabbar, nicht mehr als autonom handelnde erscheinen können, sondern nur noch als Teil eines Netzwerkes, aus dem sie aus eigenem Antrieb keinen Ausweg zu finden in der Lage sind. So erinnert diese Kamera stärker an Sembenes Moolaade und auch, wenn Umut auf den ersten Blick dessen Didaktik nicht zu teilen, ja durch die konsequente Ignoranz ausnahmslos aller Protagonisten fast zurückzuweisen scheint, wird schemenhaft ein politisches Projekt deutlich, das in Sürü einige Jahre später etwas deutlicher zu Tage treten wird (jedoch auch dort ohne Hoffnung auf baldige Durchführung).
Überhaupt ist der Film letztlich näher am dritten Kino Sembenes oder Rochas als an europäischen Kunstkinotraditionen welcher Art auch immer. Deutlich wird dies vor allem in der zweiten Filmhälfte, einer halluzinatorischen Reise ins Nichts, in ein Land voller vertrockneter Bäume, zwischen denen irgendwo ein Schatz vergraben soll. Dre Menschen in der Wüste, drei Menschen, die langsam den Verstand verlieren und im Niemandsland an einer Flussbiegung verzweifelt versuchen, nicht nur ihren eigenen Lebensumständen, sondern auch ihrem Sensorium zu entkommen. Spätestens hier wird Umut zu einem kraftvollen, visionären Meisterwerk, zu einem Werk voller ungestümer und zu großen Teilen noch unkanalisierter Energie.
Und ja, auch Umut ist ein Film, der gesehen werden muss. Und auch den gibt es im Videodrom.

Wednesday, March 28, 2007

Sürü, Zeki Ökten, 1978

Ein tieftrauriger Film aus den Weiten der ländlichen Türkei, noch während der Hochzeit der türkischen Filmindustrie entstanden, gleichzeitig, in einer wohl äußerst peripheren Position, in ihr und - so ist zu vermuten - gegen sie. Auch wenn der Film 1979 auf der Berlinale zu sehen war (natürlich im Forum), ist er meilenweit entfernt vom Festivalkino heutiger Tage.
Wenn Kino überhaupt wirklich politisch sein kann, dann ist Sürü ein politischer Film - einer unter sehr wenigen, vermutlich. Und das gerade weil Ökten und Drehbuchautor Yilmaz Güney nie versuchen, die Handlung direkt zu politisieren. Zwischen der marxistischen Theorie, genauer gesagt zwischen der Ausformulierung ihres dialektischen Prinzips, und dem Alltagsleben der Schäfer klafft eine Lücke, die der Film nicht auf der Ebene der Handlung zu schließen versucht.
Wenn die Schäfer des Hochlandes in die Städte ziehen, sieht man im Hintergrund einen Traktor einen Pflug ziehen. Doch erst anschließend folgt eine fast eisensteinsche Montagesequenz, die den Alltag der Hirten mit der maschinellen Zukunft konfrontiert, die ihre gesamte Lebensart zerstören werden. Und in der Stadt bleibt es einem altklug daherredenden Kind vorbehalten, auf die Wiedersprüche der bestehenden Gesellschaftsordnung hinzuweisen. Die eigentlichen Protagonisten sind nicht nur in der alten Ordnung der Familienfehden und Ehrenmorde gefangen, sondern in einem weiteren Sinne auch in ihrem eigenen Körper.
Immer bleibt eine nicht zu schließende Lücke bestehen zwischen dem konkreten, sinnlichen wie sozialen Erleben einerseits und dem unerbittlichen politischen Projekt des Films andererseits, dem das Volk hier tatsächlich im deleuzeschen Sinne fehlt, erzwungendermaßen und unwiederbringlich.
Eine lange Bahnfahrt verbindet Land und Stadt. Mithilfe punktgenauer Beobachtungen durchquert Öktens Film den geografischen wie den sozialen Raum. Hier erreicht der Film eine Intensität und Dringlichkeit, wie sie das Kino im postfordistischen Zeitalter in Westeuropa wohl nie wieder erreichen kann - oder höchstens in postkolonialen Zusammenhängen. Die radikale Verschiedenheit der Hirtendörfer einerseits und Ankaras hat Auswirkungen auf alle filmische Register. Doch beiden Lebensformen entsprechen spezifische sinnliche Konfigurationen. Und diese sind miteinander absolut unkompatibel.
In der Stadt angekommen werden die Hirten mit einer Warenform jenseits der traditionellen Tauschgeschäfte konfrontiert: Sie starren die - für sie unerschwinglichen - Elektrogeräte einer Ladenauslage an. Und die Heizungen und Backöfen starren zurück.
Sürü ist kein marxistischer Thesenfilm, auch wenn er deutlich in jeder Szene von marxistischer Theorie durchdrungen ist. Sürü ist das tieftraurige, unendlich bewegende Dokument des Untergangs einer präkapitalistischen Gesellschaftsform, ohne Hoffnung auf Errettung durch Transformation, da sie mit einer spezifischen sinnlichen Konfiguration, einer somatischen realität verbunden ist, die vom Kapitalismus radikal konsequent vernichtet wird. Und zu allererst ist Sürü ein Film, der gesehen werden muss. Wer in Berlin wohnt, kann ihn sich in Kürze im Videodrom auf DVD ausleihen.
Mehr (und kompetenter) zu dem Film hier: http://www.sensesofcinema.com/contents/cteq/04/32/suru.html

Saturday, February 17, 2007

Berlinale 2007: Rıza, Tayfun Pirselimoğlu, 2007

Soziale Entwurzelung, Sprachlosigkeit, Melancholie: Der türkische Autorenfilm scheint sich mit ähnlichen Themen zu beschäftigen wie seine westeuropäischen Pendants (nicht nur im Fall von Rıza und der Filme des türkischen Cannes-Auteurs Nuri Bilge Ceylan, sondern auch beispielsweise in dem des ausgezeichneten Melegin Düsüsü, der vor zwei Jahren im Forum lief). Auch die Form ist durchaus verlgeichbar, wie man an einer Einstellungsfolge wie nachstehender ablesen kann: Alter Mann sitzt auf einem Stuhl und starrt in die Leere / Alter Mann steht vor dem Spiegel und knöpft sich das Hemd zu / Alter Mann läuft – selbstverständlich sehr langsam – eine Treppe hinauf, setzt sich auf einen Stuhl, schaltet den Fernseher an / Türkisches Teleshopping.
Im Grunde ist Rıza vergleichsweise konventionell inszeniert. Blicke triggern mit schöner Regelmäßigkeit Point of View Shots, Gespräche werden in Schuss-Gegenschuss Sequenzen aufgelöst. Oft ist der Film auch entsetzlich langweilig. Wahrscheinlich ist ein Streifen wie Rıza innerhalb des Festival-Trubels, also tendenziell auch immer zwischen zwei anderen Filmen, die noch oder bereits so präsent sind, dass sie alles, was nicht laut genug schreit, überlagern, denkbar schlecht aufgehoben. In einem kleinen Programmkino in einer lauen Sommernacht könnte der Film aber durchaus einen ganz speziellen Reiz entfalten. Zumindest ein schwacher Abglanz desselben stellte sich bei mir jedoch auch während des Festivalscreenings ein.
Die Hauptfigur, nach der der Film benannt ist, ist auf den ersten Blick just another loser in his late fifties, wie es sie auf der Berlinale zu Dutzenden zu bewundern gibt (die türkische Variante dieses Antiheldentypus eignet sich jedoch noch weitaus weniger als Identifikationsfigur als vergleichbare Helden anderer Produktionen, so abgrundtief böse und unmoralisch wie Rıza sich darstellt), und entwickelt doch eine eigenartige Form von Präsenz. Genauer gesagt zeichnet sie sich in den entscheidenden Augenblicken durch eine seltsame Art von Nicht-Präsenz aus. Wenn Rıza im gleißenden Sonnenlicht Istanbuls die Straße überquert, scheinen die Umrisse seine weißen Hemdes sich tendenziell im Schimmern des Asphalts aufzulösen. Einen ähnlichen Entgrenzungsprozess vollzieht die Filmhandlung als Ganzes. Nachdem die Hauptfigur den Hammer auspackt, scheint der Plot, der anfangs kaum als solcher isolierbar ist, langsam Fahrt aufzunehmen, nur um sich im letzten Filmdrittel auf recht sonderbare Art und Weise wieder selbst aufzulösen und zwar durch eine Verschiebung in Richtung auf das türkische Fersehprogramm, auf Unterhaltungssendungen und Sportreportagen.

Tuesday, October 10, 2006

Zwei Mädchen aus Istanbul / Iki genç kiz, Kutlug Ataman, 2005

Iki genç kiz bedeutet wörtlich übersetzt "Zwei Mädchen". Der deutsche Verleih fügt diesem etwas lapidaren aber im Prinzip vollkommen ausreichenden Titel zwei Worte hinzu: "aus Istanbul". Und schon wird aus einem banalen Exploitationfilm waschechte Türksploitation. Denn nun ist ja klar, was das Publikum erwarten darf: restriktives, islamisches Patriarchat trifft auf jungen, weiblichen Lebenswillen und bleibt natürlich Sieger. Istanbul, Stadt zwischen Tradition und Moderne, Kampf der Kulturen usw.
Tatsächlich werden die kulturalistischen Klischees, die der Verleihtitel bedienen möchte, vom Film dann eher weniger eingehalten, obwohl die Grundprämisse tatsächlich stimmt, den nicht vorhandenen Religionsdiskurs ausgenommen. In der Tat geht es um chauvinistische Unterdrückung und den Versuch zweier Mädchen, jeweils unterschiedlicher Formen derselben zu entkommen. Aber insgesamt ist der Film - kein Festivalklino, sonder "junges, urbanes türkisches Kino", was immer das heißen mag - eher schlecht als dumm.
Zwei Mädchen aus Istanbul ist in mancher Hinsicht Larry Clark light. Will heißen, Ataman inszeniert stellenweise fast so dynamisch wie der Amerikaner, zu großen Teilen jedoch in derselben Möchtegern-Dogma Ästhetik, die das Europäische Kino der letzten Jahre mit unschöner regelmäßigkeit heimsucht und die Exploitation-tauglichen Sequenzen beschränken sich auf einen Blowjob im Auto, eine Vergewaltigung und Mißbrauch von - nein, nicht Crack, sondern - Schlaftabletten. Ach ja, ganz sanft wird noch eine lesbische Beziehung angedeutet aber das wars dann auch schon.
Zwei Mädchen aus Istanbul ist, wie mir aus glaubwürdiger Quelle mitgeteilt wurde, die Verfilmung eines sehr schlechten Romans. Der Film umschifft zwar die meisten Peinlichkeiten, die dem Stoff eigen sind, mehr oder weniger souverän, kann allerdings nicht über dessen aufdringliche Konstruiertheit hinweg täuschen. Und ein Film über Istanbul ist er natürlich schon gleich gar nicht, sondern nur ein überambitioniertes Kammerspiel mit einem Geltungsanspruch, den es in keinem Augenblick einlösen kann. Wenn der hochdekorierte Film etwas über die Türkei aussagt, dann nur eines: Auch am Bosporus gewinnen manchmal die falschen Filme die Preise.

Tuesday, December 20, 2005

Büyü, Orhan Oguz, 2004

Ein alter Fluch, der auf einem verfallenen Dorf lastet, eine Gruppe Archäologen, die fast ausschließlich aus jungen, leicht bekleideten Studentinnen gehört, das klassische Eliminationsprinzip plus final Girl und ein kleiner Schuss Sleaze: kein Zweifel, auch in der Türkei sind die letzten 25 Jahre Horrorfilmgeschichte nicht spurlos vorüber gegangen.
Die erste halbe Stunde ist schon fast beängstigend konventionell und gibt eigentlich nicht zu allzu großer Hoffnung Anlass. Doch sobald die Ausgrabungsstädte erreicht ist, nimmt der Film Fahrt auf. Die Rauminszenierung ist größtenteils hervorragend, in mehreren Ebenen komponiert, auch die Kamerafahrten sind äußerst effektiv. Während in Amerika immer noch - und nicht nur bei Uwe Boll - Schnellfeuermontage dominiert, versteht Oguz, mit dem Filmmaterial intelligenter umzugehen. Wunderbar auch die Schauspielerinnen, die nach den Morden und Geisterattacken minutenlang Schreien und Kreischen, dass es eine Art hat. Darf man natürlich auch, wenn man zum Beispiel gerade von einem unsichtbaren Dämon vergewaltigt worden ist
Je länger der Film dauert, desto besser funktioniert er - trotz einiger unnötiger Sequenzen in einem tristen Höhlensystem. Das Ende ist sogar richtig gut und kommt angesichts des eigentlich sehr formelhaften Aufbaus des Films sehr überraschend.
Nicht, dass Büyü ein Meisterwerk wäre, das nun wirklich nicht. Ein ordentlicher gebauter, teilweise sogar spannender Horrorfilm, der sich in so mancher Sequenz eine Prise Originalität erlaubt, aber allemal. Und das ist mehr, als man vom größten Teil der Konkurrenz behaupten kann.
Überraschend auch, dass ein handwerklich so überzeugender Horrorfilm ausgerechnet aus der Türkei kommt, deren Genrefilmtradition eigentlich ein klein wenig anders aussieht...
(Nachtrag Jahre später: inzwischen, warum auch immer, zum Trashkult avanciert)