Friday, August 08, 2025

Gegenwartsliteratur, ein Sample (10)

Judith Schalansky, Der Hals der Giraffe. Was wahrscheinlich wirklich nur Literatur so kann: mich eintauchen lassen in eine mir fremde Welt, die gleichzeitig eine mir (nicht ganz so) fremde Gedankenwelt ist. Wie die ostdeutsche Provinz weder soziologisch auserklärt noch impressionistisch ausgeschmückt oder gar elendstouristisch ausgebeutet, sondern in einen gattungshistorischen Zusammenhang verschoben wird: wunderbar. Toll auch die immer wieder kollabierende Distanz zwischen Autorin und Figur, natürlich wird uns Inge Lohmark nicht als Identifikationsfigur anempfohlen, aber wer fiktionale Obsessionen derart liebevoll ausgestaltet, der muss sie einfach bis zu einem gewissen Grad teilen. Tolles Buch insgesamt, ein bildungsbürgerliches Schreiben, dass sich in die eigenen Abgründe stürzt, sich in ihnen verheddert; ein Verlangen nach Ordnung, das Unordnung schafft und aus dieser Unordnung dann doch auch wieder Ordnungsgewinne zu ziehen vermag. Letztlich ein System ohne Außen - vielleicht ja in der Tat immer ein Wesensmerkmal guter Literatur.

Lukas Bärfuss, Hagard. Ein Beobachter wird beobachtet, und wie kunstvoll die beiden Ordnungen der Beobachtung immer wieder neu geordnet werden, wie der sekundäre Beobachter (der Erzähler) manchmal ein Eigenleben erhält, manchmal aber auch ganz im primären Beobachter (dem Protagonist) verschwindet oder vielleicht nur zu verschwinden scheint: das trägt mich über einige manieristische bis postmoderne Fragwürdigkeiten hinweg. Zum Beispiel: Wie in einem Tykwer-Film bekommt eine Nebenfigur eine stenografische Kurzbiografie als eine Art Schattenroman hinter dem Roman aufgedrückt. Die Geschichte selbst, die Jagd des weitgehend eigenschaftslosen Mannes nach einer Frau, die nur Kontur und Lichtwesen ist, nicht über Gesicht und Geschichtlichkeit verfügen darf, ist wiederum etwas abgeschmackt. Sie weiß um ihre Abgeschmacktheit. Ob dieses Wissen sie weniger abgeschmackt macht, weiß ich nicht. Aber da ist schon viel in dem Buch, was mein Interesse wach hält.

Lucy Fricke, Das Fest. Eine womöglich in sich selbst schon irgendwie schlüssige Übung in einer Disziplin, die mir so gar nichts gibt. Ein Walk through memory lane unter den Vorzeichen einer generischen Midlife crisis im Kreuzberger Kreativen-Milieu. Kein Klischee wird ausgelassen: Wie schön war das damals, als wir die Nächte auf dem Flachdach beim letzten Bier ausklingen ließen. Dass das Ganze erzählarchitektonisch so modelliert ist, dass am Ende aus der memory lane doch wieder in Richtung Zukunft/Überwindung der crisis ausgeschert werden kann, wird allzu rasch klar. Dass die Hauptfigur ein desillusionierter deutscher Mainstreamkomödienregisseur ist, ergibt nur allzu viel Sinn; Sönke Wortmann könnte an der adretten Sozialmechanik des Fricke-Plots einigen Gefallen finden. Frederik Lau ist allerdings derzeit noch deutlich zu jung für die Hauptrolle. Nebenbeobachtung: Bisher noch kein auch nur einigermaßen interessantes Buch im Sample, das in Berlin spielt.

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