Wednesday, January 18, 2012

Ay Büyürken uyuyamam, Şerif Gören, 2011

Lebendiges world cinema sehe ich zur Zeit nicht allzu oft am Potsdamer Platz (wo die Berlinale-vorab-Pressevorführungen laufen), dafür finde ich es im Neuköllner Cineplex Carli. Vier türkische Filme laufen dort zur Zeit, zwei habe ich die letzten Tage gesehen. Kurtuluş Son Durak kam zuerst, das ist eine gut geölte, feministische Mainstreamkomödie (deren Regisseur Yusuf Pirhasan vorher ausschließlich Internetserien aus dem lonelyfirl15-Umfeld inszeniert hatte) um einige Hausfrauen, die mal mehr, mal weniger aus Versehen ihre Männer umbringen und am Ende einenlandesweiten Aufstand gegen häusliche Gewalt in die Wege leiten.
Eine Art Meisterwerk war dann Ay büyürken uyuyamam. Ein vielsträngiges Melodram, drei Frauen in einer Kleinstadt an der Ägäis (Balıkesir, die liberale Nachbarstadt Izmir ist als Sehnsuchtsort ein fester Bezugspunkt), die Mutter und zwei Töchter inmitten eines erotischen Mahlstroms, der alles mit sich reist und am Ende die Frauen selbst aus der Stadt spült.
Ay büyürken uyuyamam ist eine Literaturverfilmung, er scheint tatsächlich geprägt von einem "erzählerischen Exzess": Die unterschiedlichen Parallelhandlungen wechseln sich nicht fein säuberlich, parallelmontagenhaft, ab, sie reihen sich auch nicht einfach hintereinander auf, sondern sie überschlagen sich, mal drängt die eine, mal die andere nach vorne, manche nur für eine Einstellung, die nächste dann gleich für eine Viertelstunde. Es ist also genauer gesagt ein Exzess der Erzähllust, kein Exzess des Erzählraffinements (wie bei Raoul Ruiz), passend natürlich für eine Erzählung über Lustexzesse.
Vielleicht strukturiert die Lust, das Begehren selbst den Film. Er lässt sozusagen jedes Begehren zu seinem Recht kommen und das intensivste Begehren, das der Mutter Melek, bekommt dann wie selbstverständlich den meisten Raum. Fast alle größeren Handlungsstränge hängen an ihr. Der eine sollte ihre Tochter lieben, liebt aber sie, der andere liebt tatsächlich ihre (andere) Tochter, aber sie dennoch ihn, ein dritter begehrt sie und startet nach der Zurückweisung einen Aufstand des religiösen Mobs, ein vierter sucht ihre Träume heim und so weiter. Der Film lässt das Begehren zu seinem Recht kommen: das heißt auch, dass er noch nicht von Anfang an weiß, was er zulassen kann und was nicht. Dass er als "Episodenfilm" beginnt, sich dann verengt auf die Bäckerei Meleks und ihrer Töchter (auch in Berlin, unnütze Nebeninformation, gibt es eine Bäckereikette mit dem Namen Melek), auf den Laden, die darüberliegende Wohnung und die lästernden Männer in den Cafes gegenüber, dass er sich dann noch weiter verengt auf Melek selbst, auf ihre Fieberträume von Liebe und Eifersucht, die kein Ende zu nehmen scheinen (immer wieder die Nähe des Mannes, immer wieder die Tochter, die die Lust der Mutter betrügt, immer wieder im selben Bett aufwachen - ein anderes Mal fängt sie einfach so an, ein Lied zu singen, begleitet von der Musik des Films: Sie möchte das Recht haben, zu singen, sagt sie, der Film steht da, wie auch sonst, ganz auf ihrer Seite), dass er sich dann am Ende wieder weitet, jetzt aber auf eine politische Perspektive hin, auf eine dezidiert antiislamistische genauer gesagt, die auf die schrittweise Abschaffung des Laizismus in der Türkei unter Erdoğan reflektiert (aber auch auf die unterschiedlichen Oppositionen gegen diese Abschaffung); dass damit also ein soziales Panorama durch ein individuelles Begehren transformiert wird in eine Erzählung über Selbstermächtigung: das kann man hinterher so konstatieren und natürlich wird das irgendwann auch so entworfen worden sein, vielleicht schon vom Autor der Vorlage, vielleicht erst von Drehbuchautor und Regisseur Şerif Gören (einem Altmeister des türkischen Kinos, der für Güney Yol inszenierte und dessen Almanya acı vatan mich vor ein paar Jahren ziemlich begeistert hatte - Ay büyürken uyuyamam ist seine erste Regiearbeit seit 18 Jahren). Aber "inmitten des Films" ist diese Struktur nebensächlich, viel wichtiger sind die Seufzer, die Tränen, die Blicke in jedem einzelnen Moment.
Vielleicht ist "Melodram" schon falsch, zumindest soweit, wie das Genre von einem "zu spät" erzählt, das aus ein, zwei zentralen Beziehungen resultiert, also eigentlich aus Relationsverhältnissen, die vom Einzelnen immer etwas zu schnell absehen und die unproblematische Kommunizierbarkeit von Verlangen (noch, wenn sie dessen Scheitern zeigen) voraussetzen. In Ay büyürken uyuyamam lebt jeder in seiner eigenen Zeitlichkeit, die Figuren bleiben sich einander stets so fremd, wie Menschen sich eben tatsächlich einander fremd sind (Luhmanns doppelte Kontingenz), es gibt zwar misslungene Begegnungen und so weiter, aber der gefühlte melodramatische Exzess ist keiner, der aus einer Relation entsteht, er bleibt stets im strengen Sinne individueller Ausdruck.
Ein wundervoller, lichtdurchfluteter Film ist Ay büyürken uyuyamam, ein Film, in dem es manchmal ganz sonderbar regnet, wie gezeichnet sieht das fast aus in einer Szene, auch der Neben ist theaterhaft und einmal, am Ende, scheinen die Bilder selbst aufreißen zu wollen.

2 comments:

Sano said...

Danke für diesen Hinweis (und die schöne, zusätzlich Lust machende Besprechung). Einen Film von Serif Gören habe ich tatsächlich zuletzt vor ca. 10 Jahren gesehen (und auch da hatte "Yol" schon ein paar jahre auf dem Buckel), und ich muss zu meiner Schande gestehen, angenommen zu haben Gören wäre bereits gestorben...

Ein Glück, dass dem nicht so ist. So kann ich nach seinem neuesten Film Ausschau halten. Und vielleicht wird er nach 18 Jahren (was für eine Arbeitspause!) ja jetzt auch egelmäßiger drehen. Seit Skolimowskis Rückkehr zum Kino glaube ich in dieser Hinsicht an alles. Und Malick ist da ja auch ein leuchtlendes Beispiel. :-)

Bert Rebhandl said...

auch ich danke für den hinweis