Tuesday, November 02, 2010

Viennale 2010: Mistérios de Lisboa, Raoul Ruiz, 2010

Man möchte eigentlich Camilo Castelo Brancos literarische Vorlage lesen nach diesem Film, ein Epos aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, leider scheint es weder deutsche, noch englische Übersetzungen zu geben. Der Film kommuniziert nicht, wie viel von ihm in Brancos Werk angelegt ist, ob sich all die Intrigen, Betrügereien, Lügengeschichten schon bereits dort zu der sonderbar ursprungslosen Ursprungserzählung der Moderne fügen, die sie bei Ruiz geworden ist. Oder ob der Roman lediglich eine gut funktionierende Geschichtenmaschine war, die eher zufällig mit Chiffren der Moderne (französische Revolution, Amerika) angereichert wurde.
Der ungeheuer elegant inszenierte Film (dessen Grundbewegung der laterate tracking shot ist) zumindest konstruiert eine Welt, in der die Individuen nicht mehr identisch mit sich selbst und das heißt auch: nicht mehr identisch mit der sozialen Konfiguration, in die sie hineingeboren wurden, sind. Das Individuum wird zum Herr (seltener: zur Herrin) über die eigene Biografie. Aussehen, Namen, gesellschaftlicher Rang sind nicht mehr Natur, sondern werden Verhandlungsmasse. Verkleidung und Adoption sind die grundlegenden Motive, die den Film antreiben. Im Zentrum steht ein Junge, der im Gegensatz zu seinen Schulkameraden nur einen Vornamen trägt und deswegen gehänselt wird: In den Zusatznamen ist die Genealogie enthalten und damit für das jeweilige Gegenüber verfügbar. Ein Mensch mit nur einem Namen muss entweder Kind eines Niemand sein oder es muss eine Verschwörung gegen die Identität vorliegen. Letzteres ist in Mistérios de Lisboa der Fall, die Aufdeckung der einen Verschwörung führt allerdings nie weiter als zu einer neuen Verschwörung hinter der Verschwörung. So oder so entzieht sich ein Mensch ohne Zusatznamen den Kategorisierungen der Gesellschaft. In diesem Kind im Zentrum des Films, dessen Genealogie eine einzige Verschwörung ist, wird der Film zur Ursprungserzählung einer gesellschaftlichen Formation, die alle sozialen und biologischen Gegebenheiten in Potentiale verwandelt. Ursprungslos ist diese Ursprungserzählung, weil die Hauptfigur selbst fast nie handelndes Subjekt ist, sondern ein passiver Kristallisationspunkt bleibt, um den herum sich Geschichte um Geschichte, Betrug um Betrug anlagert. Die Hauptfigur selbst erlebt die Modernisierung als multiples Melodram, als ein ewiges "zu spät".

2 comments:

matthew said...

hey, thanks for this series. I don't know much German but I did get somethings out of these!

Anonymous said...

Danke sehr an den Autor.

Gruss Nanna