Monday, July 30, 2018

Konfetti 12: Fußball

Warum gibt es so wenig interessante, oder auch nur populäre Fußballfilme? Das kann man sich gerade jetzt wieder fragen, nachdem die WM in Russland wochenlang (oder zumindest bis zum Ausscheiden der deutschen Nationalmannschaft) in aller Munde, auf allen Kanälen war. Natürlich gibt es jede Menge Fußballfilme, und durchaus auch ein paar sehenswerte, aber angesichts der Tatsache, dass zumindest in Europa und Lateinamerika kaum ein Thema über alle sonstigen gesellschaftlichen Verwerfungen hinweg konsensfähiger ist als Fußball, darf man sich schon fragen, weshalb der Sport insbesondere im Erzählkino so wenig bleibende Spuren hinterlassen hat.

Das mag auch eine Geschmackssache sein, klar; aber zumindest mir fallen auf Anhieb mehr sehenswerte Box-, Baseball- und selbst Golffilme ein als Fußballfilme. Ist Fußball ein unkinematografischer Sport? Oder ist er dem Kino ganz im Gegenteil zu ähnlich? Schließlich gibt es viele Parallelen, angefangen bei Formalitäten: Ein Fußballspiel hat dieselbe Länge wie ein durchschnittlich langer Kinofilm: 90 Minuten plus ein bisschen Nachspielzeit. Außerdem ist Fußball ein inhärent melodramatischer Sport, was ihn zumindest von Baseball und Golf abhebt; und selbst beim Boxen kommt das Melodrama möglicherweise eher von außen, ergibt sich nicht in gleicher Weise wie beim Fußball aus dem physischen Geschehen, sondern ist auf das Drumherum der Vermarktung und der Präsentation angewiesen.

Etwas spekulativer: Sogar der Rhythmus eines Fußballspiels scheint mir vergleichsweise kinonah. Wie ein Film gliedert sich ein Spiel in eine Reihe einigermaßen distinkter Szenen, die mal nur wenige Sekunden, teils aber auch mehrere Minuten dauern. Spielunterbrechungen beim Seitenaus oder nach Fouls sorgen für kleine, Tore für größere Zäsuren. Dennoch bleibt der “Erzählfluss” gewahrt und auch einigermaßen variabel. Baseball und Golf, oder auch das im Kino ebenfalls recht gut repräsentierte American Football, sind hingegen stärker formalisiertere Sportarten, sind gekennzeichnet durch strikte, komplexe Regelsysteme und fixierte Positionzuteilungen, die einzelnen Partien beziehungsweise Wettkämpfe entwickeln sich weit weniger flüssig, ähneln eher einer Serie distinkter Entladungen, unterbrochen von oft längeren Pausen.

Vielleicht macht gerade das diese anderen Sportarten fürs Kino attraktiv: sie können leichter in einzelne, isolierte Fragmente zergliedert und also solche in eine Filmerzählung eingebaut werden. Ein Fußballspiel hingegen ist nur vom großen melodramatischen Bogen her wirklich lesbar. Es lässt sich nicht vom Kino vereinnahmen, sondern strebt vielmehr danach, das Kino zu ersetzen, ein ähnlich absolutes, selststabilisierendes Diktat der Sichtbarkeit zu errichten (siehe auch: Fußball wie noch nie, Hellmuth Costard, 1971 und Zidane, un portrait du 21e siècle, Douglas Gordon & Philippe Parreno, 2006 - zwei erstaunliche Fußballfilme, die ebenfalls darauf hinauslaufen, dass Fußball und Kino eins werden).

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Es gibt natürlich trotzdem tolle Fußballkinomomente. Aber die haben fast nie etwas mit dem glamourösen Profi- oder auch nur dem reglementierten Vereinssport zu tun. Viel öfter geht es um alltagsnahe Szenen, die den Sport auf seine kinetische Grundlagen reduzieren: ein Ball, der einerseits von Menschen in Bewegung gesetzt wird, und der andererseits zum Dreh- und Angelpunkt der Bewegungen dieser Menschen wird. Eine meiner Lieblingsfußballszenen habe ich in einem vergessenen deutschen Film der frühen 1980er-Jahre entdeckt: Jetzt und Alles, 1981, Regie Dieter Meier, Kamera Gérard Vandenberg. Ein Film, der die kalte Energie des New-Hollywood-Genrekinos auf überraschend schlüssige Art in ein rauhes No-Future-Berlin überträgt.

Richy Müller spielt den New-Wave-Sänger Marcel Tiss, der sich von Rudy Smirak (Jean-Pierre Kalfon), einem französischen Gangster, in eine Entführungsgeschichte hineinziehen lässt. Aber zunächst einmal müssen die beiden ein Auto stehlen. Während sich Smirak im Wagen zu schaffen macht, blickt Tiss sich um. Ein dumpfes, leises Geräuch lenkt seine Aufmerksamkeit auf sich. Es folgt ein Point-of-View-Shot: Zu sehen ist die Eckwand eines Hauses, hinter der ein Fußball herausgesprungen kommt. Fußballspieler sind zunächst nicht zu sehen, der Ball erscheint “aus dem Nichts” im Bild, als ein autonomes Bewegungselement, das nach dem nächsten Schnitt gleichzeitig Tiss und die Kamera aktiviert. Tiss wirft die Tür des Wagens zu, stoppt den Ball am Fuß, rennt auf zwei in der vorherigen Einstellung unsichtbare Jungs zu, versucht sie zu umspielen, verliert den Ball, rennt, als er das Aufheulen des Motors hört, wieder in die andere Richtung und springt ins anfahrende Auto, das anschließend beschleunigt und sich aus dem Bild entfernt.

Das alles in einer Einstellung gefilmt - eine brillante Plansquenz, allerdings eine der unauffälligen Art, weil sie nicht ihre eigene filmtechnische Brillanz, sondern, zumindest auf den ersten Blick, ganz hinter dem Dargestellten verschwindet. Genauer gesagt lässt sie sich vom Bewegungsmoment des Fußballsports affizieren. Sie beginnt eng geframt mit einer Nahaufnahme: Das Aufprallen des Balls aktiviert Tiss, sein vorher eher fahrig und unkonzentriert anmutender Körper wird unter Spannung gesetzt. Der Ball zentriert den Körper und auch den Kamerablick, der nach unten schwenkt und jetzt die Beine fokussiert, die den Ball erst routiniert stoppen und sich gleich darauf in Bewegung setzen. Wie, als würde sich da eine vorprogrammierte Körpermechanik in Gang setzen, die sich gleichzeitig auf die Kamera überträgt.

In den folgenden Sekunden erweitert sich der Blick erst zu einer Halbnahen und dann, wenn die Kamera um die Eckwand herumgleitet und den Blick auf eine Strassenflucht freigibt, zu einer Totalen. Die pure Bewegungsenergie wird erst in eine soziale Situation übertragen, und verflüchtigt sich dann, wenn das Auto sich von der Kamera weg aus einem Parkplatz entfernt, in das strukturierte Chaos des urbanen Alltags.



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Friday, July 20, 2018

Konfetti 11: High Heels

Das Kino mag einiges von seiner einstigen Definitionsmacht über die Popkultur oder gar über die Gesellschaft an sich verloren haben, aber gelegentlich bringt es doch noch Objekte hervor, an denen sich Diskussionen, die im öffentlichen Raum viel Platz einnehmen, beispielhaft kristallisieren. Ein solches Objekt sind die High Heels, die Bryce Dallas Howard als Claire Dearing durch den Film Jurassic World getragen hatte. In zahllosen Kritiken, Facebookdiskussionen und Twitterthreads wurde die Schuhwahl thematisiert und zumeist heftig attackiert: High Heels im Dschungel sind unrealistisch, hieß es da zumeist, erst recht, wenn Dinosaurier hinter einem her sind. Außerdem ist es, wurde dann zumeist noch angefügt, emanzipatorischen Bemühungen abträglich, wenn ein Film zeigt, dass eine Frau sich selbst in einer solch gefährlichen Situation dem Schönheitsdiktat fügt und sich derart unpraktisch anzieht. Die wenigen Gegenargumente, unter anderem von Howard selbst vorgebracht, gehen in eine ähnliche Richtung: Eine toughe Karrierefrau wie Claire müsse nun einmal, um sich in der Männerwelt durchsetzen zu müssen, High Heels tragen, sie hätte nach der Dinosaurierattacke schlichtweg keine Zeit gehabt, sich umzuziehen und überhaupt sei es ja ein Zeichen von Emanzipation, dass Frauen inzwischen anziehen können was sie wollen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Ganz davon abgesehen, dass eine Frau, die Dinosauriern in High Heels die Stirn bietet, selbstverständlich noch einmal ein gutes Stück bewundernswerter ist als eine, die dabei Turnschuhe trägt, zeigt diese Diskussion, dass Kinobilder im diskursiven Raum doppelt überdeterminiert sind: Sie werden zum einen nach den Vorgaben eines alltäglichen, lebensweltlichen Realismus beurteilt, der selbst noch in fantastischen Genres gilt (Kino 2018 heißt: Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden, aber dabei bitte bequeme Schuhe tragen); zum anderen werden sie abgeglichen an sozialen Rollenmustern, denen eine Definitionsmacht über realweltliches Verhalten unterstellt wird. Anders ausgedrückt: Die Bilder werden gleichzeitig daran gemessen, wie die Welt ist und daran, wie die Welt sein soll. In den Hintergrund rückt dabei die Fähigkeit des Kinos, eigene Welten zu erschaffen.

Man muss gleich dazu sagen: Diese Entwicklung ist nicht nur die Schuld einer fantasielosen, buchhalterischen Kulturkritik. Sie spiegelt sich auch in den Filmen selbst wieder. Die Diskussion um Howards Schuhe etwa entwickelte eine derartige Dynamik, dass sie jüngst anlässlich der Fortsetzung des Films neu aufgelegt wurde - und eben auch im Film, in Juan Antonio Bayonas Jurassic World: Das gefallene Königreich, einen Niederschlag fand. Der neue Film legt wert darauf, seinem Publikum mitzuteilen, dass Howard zwar nach wie vor hochhackige Schuhe trägt solange sie sich in einem passenden Umfeld bewegt, dass sie diese aber inzwischen ablegt, wenn es in den Dschungel geht.

Vielleicht ist die Idee einer Autonomie des Ästhetischen überhaupt in eine Krise geraten. Die Verkürzungen, die dadurch entstehen, werden besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie über Figuren im Film, und erst recht, wie über Schauspielerinnen und Schauspieler geschrieben wird. Wenn Filmkritik Darstellerinnen und Darsteller nur als Figuren beschreibt, und Figuren nur als psychologisch konstruierte Subjekte, die Handlungsoptionen haben und wahrnehmen, (welche dann, dann, im nächsten Schritt, ideologisch beurteilt werden können), übersieht sie etwas Entscheidendes am Kino: Wie alle anderen Elemente des Films sind Schauspieler im Kino in erster Linie zum Anschauen da.

Dass Menschen, sobald sie vor die Kamera treten, zumindest auch ästhetische Objekte sind, ist ein ewiger Skandal des Kinos. Primär sind alle Menschen, die auf der Leinwand erscheinen, nicht Subjekte einer Handlung, sondern Objekte der Schaulust. Grundsätzlich gilt das für beide Geschlechter gleichermaßen, aber bei Frauen ist der Skandal offensichtlicher, und er wird deshalb auch expliziter thematisiert, wenn es um die Darstellung von Frauen geht. Oft läuft das auf die Forderung hinaus, dass Schauspielerinnen nicht auf ihr Äußeres reduziert werden sollen. Dazu passt, dass in den meisten Filmkritiken nichts oder fast nichts über das Äußere (insbesondere über körperliche Merkmale) von Schauspielerinnen und auch von Schauspielern zu lesen ist. Das ist einerseits nachvollziehbar, weil solche Überlegungen unweigerlich an höchstpersönlichen, erotischen Vorlieben rühren würden, aber andererseits: Die Kamera fängt qua Technik nun einmal nicht Inner-, sondern Äußerlichkeiten ein. Natürlich folgt daraus nicht, dass Kritik an sexistischen Darstellungskonventionen illegitim wäre. Filme, die Frauen nicht anders denken können denn als passive, sexualisierte Blickobjekte (und das Publikum nur als ein männlich-voyeuristisches) sind schließlich auch in ästhetischer Hinsicht zumeist fürchterlich öde.

Aber die Körperlichkeit und auch die Kleidung seiner Darsteller ist dem Kino nichts Äußerliches - sondern eines seiner wichtigsten Materialien. Es stände der Filmkritik gut zu Gesicht, wenn sie den Filmen einerseits, wenn es um Fragen der Äußerlichkeit (also: um die entscheidenden Fragen) geht, ein wenig Gestaltungsspielraum einräumen, und vor allem nicht immer gleich mit alltagsrealistischen Vorgaben um die Ecke kommen würde; und wenn sie andererseits diesen Äußerlichkeiten da, wo es angemessen ist, auch die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil kommen lassen würde. Bryce Dallas Howard zum Beispiel ist schlicht und einfach durchweg großartig angezogen in Jurassic World.

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Jurassic World: Fallen Kingdom, J.A. Bayona, 2018

I enjoyed Fallen Kingdom more than I thought I would, but its pleasures are completely detached from the core of the film series. I was completely on board with all scenes involving Maisie. A girl of unnatural ancestry, unloved by humans and surrounded by strange beasts, exploring (and conquering) her hostile and baroque surroundings by means of the service elevator - I can't think of many characters in big budget films over the last ten years who are even remotely as interesting as Maisie. In a few scenes, Bayona manages to create a style of heighened artificiality (I especially liked the strange color burst in the museum scene) which fits her storyline perfectly.

In theory, it might be possible to combine Maisie's adventures with big budget dinosaur mayhem in a meaningful way. However, in this regard the film just feels tired. First and foremost, Fallen Kingdom desperately needed at least one or two stand-out open-air set pieces. Instead, the film spends way too much time in a generic underground facility (and doesn't even manage to evoke a sense of claustrophobia; the action really is a letdown, even compared with Trevorrow's film).

One scene encapsulating my frustration: After some inventive shadowplay in Maisies bedroom, threatening, ancient Jaws crawl near the frightened girl - and then Chris Pratt busts through the door and starts blasting away in the most prosaic manner. Pratt himself isn't as annoying as in Jurassic World, but just as boring. While Bryce Dallas Howard, clearly, whether you like her role or not, the most interesting part of the first film, has almost nothing to do. Same goes for most of the new cast members. It's really all about Maisie, this time.

Friday, July 13, 2018

in passing

Hannah Gadsby: Nanette, Madeleine Parry & Jon Olb, 2018

While I don't particularly like Nanette as stand-up, I know that reactions to performances like this are highly subjective. Plus it sure is a neat piece of storytelling and audience control, so my negative reaction is more about its reception than about the thing itself. I just don't buy into the idea that something which triggers dozens of almost identical think pieces in just a few weeks can be a "watershed moment" or a "game changer". The vocabulary to describe this obviously already was there, as this is, point for point, tailor-made for its think piece producing target audience. Anyway, burdening popular culture with promises of salvation (while rejecting its most interesting part: its paradoxes) almost always is a bad idea.
Admittedly I'm a big fan of stand-up without actually having experienced a lot of it. But still I think it isn't a big risk to claim that a random evening in a headliner-free NYC comedy club contains more friction and energy than this.

Die Sexabenteuer der drei Musketiere, Erwin C. Dietrich, 1972

A succession of atrocious sex jokes, filmed as awkwardly (and slowly) as possible. the complete absence of even the faintest notion of craft leaves room, though, not only for formalist humour (the repeated pans over pastoral landscapes), but also for a number of small beauties: a man almost elegantly sliding into a duel scene because the floor is slippery, the lingering shot of a woman stretched out in the hay a few feet apart from a pining, but inactive man, several naked men walking in line through a dark, vaguely medieval room, trying way too hard to coordinate their movements. the one really beautiful scene that somehow managed to slip in - involving a frog sitting on ingrid steeger's breast - is worth more than anything someone like Inarritu has ever done. the dialectics of film history.

I Spy, Allan Dwan, 1934

Not nearly good enough to be the missing link between A Modern Musketeer and Trail of the Vigilantes, but it is in the same vein: an absurdist, fast-moving comedy informed by the kind of popcultural knowingness and ironic detachement usually attributed to postmodernism. Dwan is perfectly suited for material like this - it's all about engineering and when he manages to boil down the story to pure mechanics (Ben Lyon bouncing around between two tough guys in one moment, and basically being thrown into an airplane into the next), it works beautifully. Some parts of it have a nice silent comedy feel to it and Lyon gives a wonderful deadpan performance. There is enough energy here, but not quite enough ideas to sustain it for 62 minutes.

Wednesday, July 11, 2018

Konfetti 10: Tierney

Eine Lieblingsszene in einem Lieblingsfilm: Leave Her to Heaven, 1945, Regie John M. Stahl, Musik Alfred Newman, nach einer guten Stunde. Ellen Berent (Gene Tierney) blickt auf Richard Harland (Cornel Wilde), ihren Mann. Gerade hat sie, das weiß sie und das Publikum, den Tod von Richards Bruder verursacht. Ihr Mann, der noch nichts weiß, aber bereits einiges ahnt, sitzt jetzt traurig und verloren auf den Klippen am Meer. Ellen blickt zunächst aus dem Fenster des gemeinsamen Hauses, hoch aufgerichtet, mit unbewegter Mine. Dann tritt sie, während die zunächst stürmisch aufbrausende Musik langsam abklingt, vor die Tür, gekleidet in einem im Stil einer Uniform designten Morgenmantel. Es folgt ein weiterer Schnitt auf Wilde, aus Ellens Perspektive, und dann eine Großaufnahme der Frau. Sie hebt die Hand an den Mund und möchte ihm etwas zurufen. Aber anstatt ihrer Stimme hören wir zwei gedämpfte Töne eines Blasinstruments (ein Horn, vermutlich).

Die Musik ersetzt die Stimme. Paradoxerweise fungiert der Klang des Instruments gleichzeitig als ein Surrogat der sprachlichen Artikulation und als eine Bezeichnung für Tierneys Unfähigkeit, ihren Gatten anzusprechen. Die Musik ist als Ausdruck lesbar, sie transportiert einen affektiven Gehalt, der sich auch dem Publikum mitteilt. Es sind sanfte, harmonische, allerdings auch traurige Töne (eine kleine Quarte), Molltöne, Töne der Liebe, die eine Frau für einen Mann empfindet. Gleichzeitig aber nehmen die Töne ihr die Stimme und damit die Möglichkeit, eben diese Gefühle auch zu kommunizieren. Das Gefühl, Ellens Liebe, verwandelt sich in diesem Moment von einem verkörperlichten und auch im sozialen Raum wirkmächtigen Affekt in einen ästhetischen Effekt, der nicht mehr ihr selbst gehört. Das Gefühl ist ab jetzt nur noch ein Objekt des Kinos.

Man könnte auch sagen: Die Ästhetik überschreibt die Frau. Tierney wird eingebunden in den Formzusammenhang des Kinematografischen. Nicht mehr ihr eigener Körper drückt sie aus, sondern das Sound Department. Wenn Ellen sich nach dem stummen, musikalisierten Ruf umwendet und wieder in das liebliche, und doch unweigerlich gefängnisartige Haus zurückschreitet, dann setzt sich das Thema, das die beiden Töne etabliert haben, auf der Tonspur fort. Es wird leicht variiert wiederholt und geht langsam in ein komplexes orchestrales Arrangement über. Das Gefühl findet seine Fortsetzung nur noch in der Ästhetik, nicht mehr im Leben. Bald darauf wird Ellen endgültig verrückt.

Die Frau und das filmische (und filmmusikalische) Bild der Frau: Das ist eine Spannung, die sich durch den ganzen Film zieht. Besonders spektakulär und glamourös eben in jener Szene, die der hier besprochenen vorangeht: Ellen fährt gemeinsam mit dem Bruder ihres Gatten im Ruderboot auf den See hinaus. Sie will dem körperbehinderten jungen Mann das Schwimmen beibringen, sagt sie, aber tatsächlich lässt sie ihn ertrinken. Berühmt geworden ist die Szene wegen eines Ausstattungsdetails: In dem Moment, in dem der Bruder des Mannes ins Wasser springt, setzt sich Ellen eine Sonnenbrille auf. Der Film begründet das nicht. Man mag sich eine psychologische Erklärung dafür ausdenken (vielleicht möchte sie sich vor den hilfesuchenden Blicken schützen, die ihr Opfer ihr gleich zuwerfen wird), aber die eigenwillige Kraft der Szene erklärt das nicht. Vielmehr ist entscheidend, dass die psychotische Selbsteinschließung der Frau mit einem filmästhetischen Exzess, mit einem Moment der (antirealistischen) Stilisierung in eins fällt.

Einige andere Bilder: Ellen auf dem Pferd durch eine spektakuläre Westernkulisse reitend, die Asche ihres Vaters, zur Rechten und zur Linken ihrer wogenden Brust, im Wind zerstreuend. Ellen als Schemen unter Wasser im Swimming Pool, bevor sie effektvoll an die Oberfläche schwimmt und anschließend ihren Körper vor Wilde ausbreitet. Das Argument ließe sich leicht, das zeigen nicht nur diese ikonischen Momente, ideologiekritisch wenden: Der männliche Blick, und auch der männliche Komponist, produzieren erst die grausame Frau, indem sie sie gleichzeitig entmächtigen, ihrer Subjektivität entkleiden.

Ich interessiere mich eher für eine etwas anders gelagerte Perspektive: Ich glaube, dass das Kino in Momenten wie diesen - im Klang des Instruments, der die Stimme ersetzt und auch in der Entscheidung, Ellen / Tierney im Moment ihrer Untat eine Sonnenbrille aufzusetzen - etwas über sich selbst lernt. Auf der Leinwand ist die Frau vom Bild (vom Tonbild) der Frau schlicht und einfach nicht zu trennen, sie ist immer schon gefangen in den Projektionen ihrer selbst, in den Bildern, die sie darstellen und die ihr doch nicht gehören. Leave Her to Heaven ist ein Film, der genau das reflektiert. Tatsächlich ist auch die “gute” Frau des Films, Ellens von Jeanne Crain gespielte Schwester Ruth, nicht Herrin über ihr eigenes Bild: Wilde, der sich in sie verliebt, lässt sie zunächst für eine Zeichnung posieren, später stilisiert er sie per Karikatur zum “gal with the hoe” - ein im Vergleich zu Tierney entschieden entsexualisiertes Abziehbild, aber eben doch: ein Bild.

Und schließlich zeigt gleich die erste Szene des Films, dass auch das Bild des Mannes vom Mann selbst nicht zu unterscheiden ist. Tatsächlich wird Richards Blick zunächst nicht von Ellen, sondern von seinem eigenen Bild angezogen: Die beiden sitzen sich in einem Zugabteil gegenüber; in einem wunderbar luxuriös eingerichteten Zugabteil genauer gesagt - die Schauplätze des Films sind allesamt, das passt perfekt zum Umgang mit den Schauspielern, Postkartenmotive. Sie liest ein Buch - das er geschrieben hat. Auf der Buchrückseite ist seine eigene Fotografie zu sehen. Erst wenn sie übermüdet das Buch sinken lässt, kommt ihr eigenes Gesicht zum Vorschein. Die Szene lässt sich leicht psychologisch, beziehungsweise psychoanalytisch ausdeuten; die Liebe Richards basiert von Anfang an offensichtlich auf einer falschen, narzisstischen Identifikation des Liebessubjekts mit dem Liebesobjekt. Mich interessiert eher die Dopplung selbst: Auch Richard hat von Anfang an die Kontrolle über sein Bild verloren, ist gleichzeitig ein Mann und ein ästhetisches Objekt.

Die tragische Differenz zwischen Richard und Ruth auf der einen und Ellen auf der anderen Seite scheint darin zu bestehen, dass im Fall der ersten beiden das Bild, die ästhetische Projektion von der Figur abgespalten ist, während Ellen die Projektion direkt auf den Körper geschrieben bekommt.






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Tuesday, July 10, 2018

Konfetti 9: Die Schaukel

Eine Schaukel ist ein optisches Instrument: Sie setzt nicht nur die schaukelnde Person, sondern für diese auch die Welt in Bewegung. In John Fords frühem Tonfilm „The Brat“, der in diesem Jahr auf dem Filmfestival „Il Cinema Ritrovato“ (23.6.-1.7.) in Bologna wiederentdeckt wurde, wird genau das vorgeführt: Zunächst sieht man, wie eine junge Frau, gespielt von Sally O’Neill, jenem „Brat“ des Titels, auf einer Schaukel hin und her schwingt. Das Gerät ist in einem Garten installiert, über einem malerischen Teich. Die gesamte Gartenanlage und das zugehörige Haus sind luxuriös ausgestaltet, aber auf eine eher liebliche, fast biedere Art – die Schaukel ist das einzige Glamour-Element. Nachdem man O’Neill gemeinsam mit einem im Garten anwesenden Mann eine Weile beim Schaukeln zugeschaut hat, springt der Film in ihre Perspektive (oder in die der Schaukel?): Die Kamera beginnt selbst, über den Teich zu schwingen.

Auf den ersten Blick bringt die Szene den gesamten Film auf den Punkt: Die (lumpen-)proletarische O’Neill ist das dynamische Element, das die restliche, aristokratisch erschlaffte Filmwelt aufmischt, in Bewegung versetzt. Die Erzählung, die der Film um diese Grundidee herum aufbaut, ist recht umständlich konstruiert – es geht um einen Schriftsteller, der O’Neill mehr oder weniger von der Straße aufliest und zur Heldin seines neues Buches machen will; auf der unmittelbar filmischen Ebene des Hör- und Seherlebnisses aber funktioniert „The Brat“ wunderbar. Auch, weil die Dinge genau hier, auf der Ebene der Bilder und Töne, oft etwas komplizierter sind, als sie zunächst zu sein scheinen.

Was die Schaukelszene angeht, so ist zunächst auf das erotische Element zu verweisen: Die Schaukel ist nicht zuletzt auch deshalb ein optisches Instrument, weil sie etwas an der schaukelnden Person sichtbar machen kann. In diesem Fall fliegen O’Neills Röcke derart hoch in die Luft, dass sowohl die Kamera als auch der diegetische Zuschauer einen Blick darunter werfen können. Die Grenzen des guten Geschmacks bleiben dabei gewahrt, aber es wird schnell klar, dass der Blick auf die Schaukel kein unschuldiger sein kann.

Weiter gilt es, sich zu fragen: Was für eine Bewegungsform ist das Schaukeln? Insbesondere das autonome Schaukeln der Kamera ruft einen paradoxen Effekt hervor: Zwar sind die Bilder für einen Moment tatsächlich „befreit“, weil nicht mehr an eine stabile Beobachterposition und auch nicht mehr wirklich an eine Subjektivität gebunden. Gleichwohl sind auch die Freiheitsgrade der Schaukel äußerst eingeschränkt: Sie bewegt sich stets nur in die Richtung, die die Fliehkräfte ihr vorgeben, und wenn sich gleich darauf die Erdanziehungskraft geltend macht, geht es einfach wieder zurück. Immer nur hin und her, in höchstens minimalen Variationen. Letztlich hat die Dynamik der Schaukel gar nicht so viel mit Freiheit zu tun, eher ist sie ein ornamentales Moment: eine gezähmte Bewegung, die sich, nach der ersten Irritation, durchaus organisch in die aristokratische Gartenanlage einfügt.

Der Verdacht drängt sich auf: Könnte genau das auch für O’Neill gelten? Sind die Erschütterungen, die das „wilde Mädchen“ der aristokratischen, streng genommen eher großbürgerlichen Familie zufügt, nicht vielleicht von vornherein nur scheinbare, weil O’Neill aus der Perspektive des Bürgertums kaum mehr sein kann als ein pittoreskes „curiosity piece“? Es gibt einiges im Film, das für eine solche Lesart spricht. Und doch möchte ich mich ihr nicht so ohne Weiteres anschließen. Denn sie übersieht einen anderen Aspekt des Schaukelns: Wer schaukelt, gibt sich für ein paar Momente der reinen Lust an der Bewegung hin. Der Akt des Schaukelns hat etwas Exzessives, und auch etwas inhärent Expressives. Wer schaukelt, exponiert sich, gibt etwas von sich selbst preis. In der Tat ist in „The Brat“ nicht die Bewegung des Schaukelns der Skandal, sondern die Tatsache, dass O’Neill von selbst auf die Idee gekommen ist, zu schaukeln. Dass sie es sich herausnimmt, sich und ihre Röcke über die anderen Figuren herüberfliegen zu lassen.

Ich bin mir nicht sicher, aber wenn ich meiner Erinnerung trauen kann, dann ist die Schaukel kein einziges Mal im Bild zu sehen, bevor sie von O’Neill benutzt wird; falls dem so ist, dann materialisiert sich die Schaukel also erst in O’Neills Wunsch zu schaukeln. Später hat sie noch einen zweiten, überraschenden Auftritt, in einer kurzen Szene von eigentümlicher Schönheit. Es beginnt damit, dass O’Neill, die sich in dem Haus des Schriftstellers nicht mehr so recht wohl fühlt, ihr Zimmer durchs Fenster verlässt. Und zwar steigt sie auf den Ast eines Baumes, der ihr einladend entgegen gewachsen ist. Das schaut aus, als würde sie einen ersten Schritt in ein unbekanntes, fremdes Land unternehmen. Gleich in der nächsten Einstellung stellt sich heraus, dass an dem Ast, auf dem sie steht, auch die Schaukel angebracht ist. Mit ihr und mit der Kamera blicken wir herunter auf das klein und fremd ausschauende Schaukelbrett. O’Neill klettert dann an einem der Seile der Schaukel herunter, in die Freiheit.

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