Musik im Film ist automatisch Filmmusik. Und zwar in dem Sinne, dass es stets eine zwingende, nicht verhandelbare Bindung gibt zwischen den Bildern und den Tönen, die sie begleiten. Insofern ist die filmwissenschaftliche Unterscheidung zwischen innerdiegetischer Musik (die ihren Ursprung in der Welt des Films hat, von den Figuren der Handlung gehört, vielleicht sogar von ihnen produziert wird usw.) und außerdiegetischer Musik (dem “Score”, der die Bilder “untermalt”, der atmosphärische und dramaturgische Akzente setzt, aber innerhalb der Diegese eine Realität hat), wie hilfreich sie im Einzelfall auch sein mag, aus systematischen Gründen fragwürdig. Weil sie nicht von der Materialität der audiovisuellen Gesamtheit Film ausgeht, sondern von erzähltheoretischen Setzungen.
Interessanter als die Frage, wie sich die Musik zur Narration verhält, finde ich eine andere, verwandte, die gleichzeitig diffuser und konkreter ist: Wo ist die Musik, die wir in Filmen hören, verankert? Zum Beispiel frage ich mich das in einer der wahnwitzigsten, hemmungslosesten Filmszenen, denen ich in letzter Zeit begegnet bin - entdeckt habe ich sie in Vittorio Cottafavis Una donna libera (1954). Cottafavis Film gehört zu einer Gruppe gesteigert musikalischer Melodramen, deren Eigentümlichkeiten einer eingehenderen Untersuchung harren: Filme, in denen das tragische Sich-Verfehlen der Liebenden nicht nur musikalisch ausformuliert wird, sondern fast schon direkt in der Partitur nachvollzogen werden kann. Andere Beispiele: Douglas Sirks Schlussakkord, Helmut Käutners Romanze in Moll; Alfred Hitchcocks The Man Who Knew Too Much (1956) passt, wiewohl nicht primär ein Melodrama, auch in die Reihe.
Im Fall von Una donna libera geht es um ein weltbekanntes Musikstück: um Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, genauer gesagt um dessen erstaunliche Anfangsminuten. Sie begleiten, oder besser: sie sind verwoben mit einer Szene, die den Überschwang einer - für den Moment - alles überschwemmenden Liebe darstellt. Liana Franci (Françoise Christophe) hat sich in den Dirigenten Gerardo Villabruna (Pierre Cressoy) verliebt, für ihn ihren Verlobten verlassen und mit ihrer Familie gebrochen. Ihre Liebe wird, das ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu ahnen, nicht erwidert, zumindest nicht adäquat. Er könne doch, sagt Gerardo in einer früheren Szene, nicht nur eine Frau lieben, da er mit seiner Musik stets zu so vielen gleichzeitig spreche. Wenn dann später, nach einer guten halben Stunde Laufzeit, Tschaikowskis Musikstück auftaucht (zum ersten, aber nicht zum letzten Mal; es ergreift in der Szene vom Film Besitz, gibt ihn hinfort nicht mehr frei), dann zeigt es nicht eine romantische Verschmelzung, eine Einswerdung an, sondern eine Liebe, die von ihrer Unmöglichkeit her gedacht ist.
Die Musik setzt am Ende einer Szene ein, in der Liana mit ihrer Mutter streitet. Genauer gesagt: sie setzt ein, wenn die Mutter sich, weil ihr keine Erwiderung mehr einfällt, frustriert umdreht und von ihrer Tochter entfernt. Die Musik nimmt den Platz der Mutter ein; und sie wird lauter, während sich die Tochter auf ihr Bett wirft und zu weinen beginnt. Gleichzeitig rückt die Kamera näher an Liana heran, isoliert ihren vom Schmerz überwältigten, zitternden Kopf auf dem Kopfkissen.
Wenn die Musik in diesem Moment einen Ort hat, dann befindet er sich in Lianas Inneren. Aber gleich darauf löst sich die Kamera von ihrem Gesicht und gleitet, während die Tschaikowskimusik (eine repetitive Streicherpassage) abermals lauter wird, über glitzerndes Wasser, es folgt ein Schwenk auf eine Villa, und, nach einem weiteren Schnitt und einem weiteren Schwenk, ein Blick durchs Fenster dieser Villa: Gerardo sitzt am Klavier - und spielt auf diesem offensichtlich die (sich gleichzeitig langsam in den auditiven Vordergrund drängende) Klavierstimme des Konzerts. In wenigen Sekunden wechselt die Musik mehrmals ihren Ort. Gerade noch ein Klang der Innerlichkeit, wird sie zunächst zum aufbrausenden Bewegungsmoment (nicht einfach nur wird die Kamera mobilisiert; der Film überschreitet, angeleitet von der Musik, die Grenzen von Raum und Zeit). Anschließend wird sie, während sich langsam die Klavierstimme in den Vordergrund drängt, zum Produkt einer künstlerischen Tätigkeit.
Wobei die Sache an dieser Stelle komplizierter ist. Denn Gerardo kann natürlich nur die Klavierstimme spielen. Zu hören ist jedoch die Gesamtheit des Konzerts, mitsamt Orchesterstimme. Tatsächlich ist neben Gerardos Stuhl ein Tonbandgerät platziert. Sichtbar ist es gleich im ersten Bild, das das Klavier zeigt, ins Zentrum rückt es jedoch erst einige Sekunden später: Gerardo hält inne, nimmt die Finger von den Tasten, notiert etwas auf seinem Notenblatt, blickt erwartungsvoll zur Seite - und während das Thema der Einführung wieder einsetzt, schwenkt die Kamera auf das Tonbandgerät. Deutlich wird in diesem Moment, dass das Tonband das gesamte Konzert abspielt, nicht nur die Orchester-, sondern auch die Klavierstimme.
Interessanter als die Frage, wie sich die Musik zur Narration verhält, finde ich eine andere, verwandte, die gleichzeitig diffuser und konkreter ist: Wo ist die Musik, die wir in Filmen hören, verankert? Zum Beispiel frage ich mich das in einer der wahnwitzigsten, hemmungslosesten Filmszenen, denen ich in letzter Zeit begegnet bin - entdeckt habe ich sie in Vittorio Cottafavis Una donna libera (1954). Cottafavis Film gehört zu einer Gruppe gesteigert musikalischer Melodramen, deren Eigentümlichkeiten einer eingehenderen Untersuchung harren: Filme, in denen das tragische Sich-Verfehlen der Liebenden nicht nur musikalisch ausformuliert wird, sondern fast schon direkt in der Partitur nachvollzogen werden kann. Andere Beispiele: Douglas Sirks Schlussakkord, Helmut Käutners Romanze in Moll; Alfred Hitchcocks The Man Who Knew Too Much (1956) passt, wiewohl nicht primär ein Melodrama, auch in die Reihe.
Im Fall von Una donna libera geht es um ein weltbekanntes Musikstück: um Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, genauer gesagt um dessen erstaunliche Anfangsminuten. Sie begleiten, oder besser: sie sind verwoben mit einer Szene, die den Überschwang einer - für den Moment - alles überschwemmenden Liebe darstellt. Liana Franci (Françoise Christophe) hat sich in den Dirigenten Gerardo Villabruna (Pierre Cressoy) verliebt, für ihn ihren Verlobten verlassen und mit ihrer Familie gebrochen. Ihre Liebe wird, das ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu ahnen, nicht erwidert, zumindest nicht adäquat. Er könne doch, sagt Gerardo in einer früheren Szene, nicht nur eine Frau lieben, da er mit seiner Musik stets zu so vielen gleichzeitig spreche. Wenn dann später, nach einer guten halben Stunde Laufzeit, Tschaikowskis Musikstück auftaucht (zum ersten, aber nicht zum letzten Mal; es ergreift in der Szene vom Film Besitz, gibt ihn hinfort nicht mehr frei), dann zeigt es nicht eine romantische Verschmelzung, eine Einswerdung an, sondern eine Liebe, die von ihrer Unmöglichkeit her gedacht ist.
Die Musik setzt am Ende einer Szene ein, in der Liana mit ihrer Mutter streitet. Genauer gesagt: sie setzt ein, wenn die Mutter sich, weil ihr keine Erwiderung mehr einfällt, frustriert umdreht und von ihrer Tochter entfernt. Die Musik nimmt den Platz der Mutter ein; und sie wird lauter, während sich die Tochter auf ihr Bett wirft und zu weinen beginnt. Gleichzeitig rückt die Kamera näher an Liana heran, isoliert ihren vom Schmerz überwältigten, zitternden Kopf auf dem Kopfkissen.
Wenn die Musik in diesem Moment einen Ort hat, dann befindet er sich in Lianas Inneren. Aber gleich darauf löst sich die Kamera von ihrem Gesicht und gleitet, während die Tschaikowskimusik (eine repetitive Streicherpassage) abermals lauter wird, über glitzerndes Wasser, es folgt ein Schwenk auf eine Villa, und, nach einem weiteren Schnitt und einem weiteren Schwenk, ein Blick durchs Fenster dieser Villa: Gerardo sitzt am Klavier - und spielt auf diesem offensichtlich die (sich gleichzeitig langsam in den auditiven Vordergrund drängende) Klavierstimme des Konzerts. In wenigen Sekunden wechselt die Musik mehrmals ihren Ort. Gerade noch ein Klang der Innerlichkeit, wird sie zunächst zum aufbrausenden Bewegungsmoment (nicht einfach nur wird die Kamera mobilisiert; der Film überschreitet, angeleitet von der Musik, die Grenzen von Raum und Zeit). Anschließend wird sie, während sich langsam die Klavierstimme in den Vordergrund drängt, zum Produkt einer künstlerischen Tätigkeit.
Wobei die Sache an dieser Stelle komplizierter ist. Denn Gerardo kann natürlich nur die Klavierstimme spielen. Zu hören ist jedoch die Gesamtheit des Konzerts, mitsamt Orchesterstimme. Tatsächlich ist neben Gerardos Stuhl ein Tonbandgerät platziert. Sichtbar ist es gleich im ersten Bild, das das Klavier zeigt, ins Zentrum rückt es jedoch erst einige Sekunden später: Gerardo hält inne, nimmt die Finger von den Tasten, notiert etwas auf seinem Notenblatt, blickt erwartungsvoll zur Seite - und während das Thema der Einführung wieder einsetzt, schwenkt die Kamera auf das Tonbandgerät. Deutlich wird in diesem Moment, dass das Tonband das gesamte Konzert abspielt, nicht nur die Orchester-, sondern auch die Klavierstimme.
Wodurch die Musik ein weiteres Mal ihren Ort wechselt. Genauer gesagt dreht sich das Verhältnis von Figur und Musik komplett um: Nicht Gerardo bringt die Musik hervor, sondern die Musik bringt Gerardos agitierte Bewegungen hervor. Das Klavier verwandelt sich von einem Klangkörper in ein Requisit, fast schon eine Attrappe. Ein Triumph der Musik nicht nur über den Musiker, sondern sogar über das Musikinstrument.
Die Frage, ob Gerardo Momente vorher “wirklich” gespielt, oder nur einen Pianisten imitiert hatte, stellt sich gar nicht erst. Denn der nächste Schnitt offenbart, dass Liana inzwischen ebenfalls zu Gerardo geeilt ist: Sie steht in der geöffneten Verandatür und blickt ihn an. Eine Kamerafahrt isoliert in Großaufnahme ihr Gesicht, das gleichzeitig von hämmernden Klavierklängen bearbeitet wird. Ganz anders funktioniert diese Einstellung als die erste, die (siehe oben) Liana, nach dem Gespräch mit der Mutter, im musikalischen Bild isoliert hatte. Die Musik hat sich Schritt für Schritt von einem Medium emotionaler Expressivität, das die Bilder sozusagen von innen anreichert, in eine autoritäre Kraft verwandelt, die über die Figuren und den gesamten Bildraum gebietet.
Wenn sie sich in den folgenden Einstellungen wieder von ihrer konkreten Manifestation im (fragilen) Medienverbund Künstler - Klavier - Tonband löst und Bildern unterlegt ist, die Liana und Gerardo nun endlich gemeinsam zeigen (unter anderem beim Baden und auf einem Segelboot), dann ist klar: Die Musik mag die Liebenden zusammengebracht haben; sie hat jedoch jederzeit die Möglichkeit, sie auch wieder voneinander zu trennen - weil Musik, selbst die Tschaikowskis, nicht nur eine romantische, synthetisierende Kraft ist, sondern auch und gleichzeitig eine nihilistische, analysierende.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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