Thursday, October 24, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (5)

Gerhard Henschel, Kindheitsroman. Erinnerung als Morast, in dem man feststeckt, der zum Textmorast wird, in dem dann ich feststecke. Wie schon bei Knausgard irritiert mich die Genauigkeit und Detailfülle, und ich denke mir: Erinnern alle so viel und nur ich so wenig? Oder würde ich auch so viel erinnern, wenn ich einmal mit einem solchen Schreibprojekt begonnen würde? Kommt dann alles wieder, jede Dummheit, jede Schönheit? Ein weiterer Grund, es nicht einmal zu versuchen, denke ich meistens (selbst die Schönheiten sollen, bitte, im Unspezifischen bleiben, nur so überleben sie), aber gelegentlich bin ich mir doch nicht gar so sicher. Jedenfalls: Ich erinnere wenig, aber ich erkenne viel wieder in diesem Buch. Redewendungen, Kindheitsdinge, Spiele. Die zwei Jahrzehnte biografischen Abstands scheinen keinen gar so großen Unterschied zu machen. Vielleicht ist schlicht die BRD der Urmorast? Ein Land, in dem man, noch Jahrzehnte später, nichts kann als festzustecken? Jedenfalls ein Buch, dessen Sog ich mich erst nicht entziehen kann und irgendwann auch nicht mehr erziehen mag. Trotzdem wirkt es manchmal, als würde es mich zu sich herunterziehen und da gewaltsam festhalten. Ja nicht raus aus der Hölle der ewigen Akkumulation. Ich glaube, die restlichen Schlosse-Bücher lasse ich erst einmal aus.


Sibylle Berg, GRM. Brainfuck. Ein Buch, das weniger den Zustand der Welt als eine bestimmte Art des Denkens über den Zustand der Welt weiterspinnt, eskaliert, ins Kraut schießen lässt und dabei auf erst einmal sehr sympatische Weise auf alle Gesetze des Maßstabs und der Verhältnismäßigkeit scheißt. Was freilich schon auch heißt, dass ich nicht nur ein, zwei, sondern Dutzende rants gegen Gott und die Welt beziehungsweise natürlich die Verhältnisse durchstehen muss. Selbst in den rants bleibt die Prosa variabel, das schon, Berg findet immer wieder neue Wege zur totalen Beschissenheitserkenntnis. Nur das obsessive im-Dreck-Suhlen, die kitchen kink teenie exploitation Passagen, die gehen mir doch ein wenig auf den Keks. Der Erzählmodus ist einer des rasenden Stillstands, die Figuren werden eher in den Text als in eine Welt hineingeworfen, existieren sie überhaupt, wenn von ihnen gerade nicht die Rede ist? Erstaunlich, wie sorgsam Berg dennoch immer wieder mit ihnen umgeht. Jede von ihnen muss eine Welt für sich sein, eben weil sie kein Halt mehr haben in einem Außen.


Benutzeroberflächenmetaphorisch gesprochen: Da scrollt sich einer entspannt durch die eigene Lebenswelt, und egal worauf er klickt, stets ergießt sich eine ausführliche Erläuterung im fein gewebten Plauderton; die freilich stets im eigenen, festgefügten bildungsbürgerlichen Koordinatensystem verbleibt. In einem reflektiert bildungsbürgerlichen Koordinatensystem, versteht sich, wobei die Reflexion vor allem darauf hinaus läuft, sich von einem älteren bildungsbürgerlichen Koordinantensystem abzuheben, für das Terrorlehrer Dolinar, der Bildung als Anhäufung von als bildungsbürgerlich markierten Faktoiden definiert, ein mustergültiges Abziehbild abgibt. Das reflektierte Bildungsbürgertum fordert hingegen: Bildung soll an die eigene Lebensrealität anschließen. Nun ja, solche Lehrer hatte ich auch, die nerven mindestens genauso sehr. Angenehm ist hingegen, dass EribonErnaux ausnahmsweise mal eher nicht Teil des Koordinatensystems zu sein scheinen, oder jedenfalls kein allzu relevanter, mir ist, als ob die Figuren allein dadurch lebendiger werden und mir näher rücken. Verglichen mit den Wiener Bobo-Büchern von Präauer und Marković ist das hier zudem näher an meiner höchstpersönlichen Subjektiv, weil es ein introvertiertes Buch ist, kein extrovertiertes. Und ja, sobald Feli und Fina auftauchen, wird's besser, viel besser. Dennoch: Wiener Bildungsbürger, schreibts doch mal über was andres als ausgrechnet über Wiener Bildungsbürger. Über was dann? Ja was wois den i. Denkts euch halt was aus.

Wednesday, October 23, 2024

immer noch nichtprofessionell

Seit Schreiben eine Profession geworden ist, fungiert nichtprofessionelles Schreiben als ihr Korrektiv. Der Gröbsten aller historischen Einteilungen folgend wurde Schreiben als Profession früher vorwiegend am Markt, insbesondere am journalistischen, praktiziert, heute hat es seinen Ort hingegen in Institutionen, insbesondere in akademischen. Wo sich das nichtprofessionelle Schreiben also früher da von besonderem Wert war, wo es sich der Marktförmigkeit und der journalistischen Tagesaktualität nicht beugte, hat es sich heute der Aufgabe zu stellen, den Institutionen nicht gefügig zu sein und den Fallen der akademischen Textproduktion zu entrinnen. Damals wie heute ist sein Auftrag ein ästhetischer, kein politischer.

Friday, October 18, 2024

Fitnesstagebuch

 Auf dem Laufband, zum ersten Mal seit was weiß ich wie lang, drei Jahre, mindestens. Mit Blick auf die Tramhaltestelle. Ein nicht-erwiderter Blick, glaube ich, blickdichtes Glas, besser so, Fitness hat hier keinen Glamour, zu eng, Fenster zu klein, nicht bodentief, zu viel alte BRD. Menschen beobachten, geht das von hier aus? So mittelgut, auf Anhieb. Drei Jungs, bärtig, massiv, scheinen sich nicht viel zu sagen und momentan auch kein Bock auf Hierarchiespiele zu haben. Zwei Jugendliche, ein Junge, ein Mädchen, sich gegenseitig Abgeklärtheit demonstrierend. Auf dem Bildschirm des Laufbands ein trister Waldweg, das ist dann doch zu albern. Dann lieber Fernsehen ohne Ton, ARD Brisant, Kampfsport wird vorgeführt, Leute kugeln sich gegenseitig die Arme aus oder so, aber immer wenn jemand per Texteinblendung vorgestellt wird, steht da "Pfleger" oder "Physiotherapeutin" oder so. Sollen wir uns gegenseitig kaputt oder krank machen? Die Sendung hält sich beide Optionen offen. Später geht es um Milchkühe, zwei Männer werden interviewt, beide haben etwas massiv-rosig Kuhhaftes. 272 Kalorien. Wo bekomme ich die jetzt wieder zurück?

Wednesday, October 16, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (4)

Albrecht Selge, Silence. Vielleicht hat mich Wilhelm Genazino für Bücher wie dieses verdorben. Für Bücher, die auf Introspektion und inneren Monolog setzen, aber zu eng am Autoren-Ich angesiedelt sind, die zwar viele Genazino-artige Worte wie "Abschiedszerstückelung" oder "Gebrechlichkeitsgegenstand" enthalten, die die Introspektion letztlich gleichwohl zu wenig stilisieren. Die keine (mich ansprechende) Form finden für die eigene Passivität. Denn darin ähneln sich Selge und Genazino: Introspektion ist Ersatz für Aktion. Man horcht in sich hinein, weil sich etwas zwischen das Ich und die Welt geschoben hat, eine Blockade, die man weder weg-, noch umschreiben kann. Die entstehende Hilflosigkeit kann ich teils schon nachfühlen, und doch scheint es mir, als flüchte sich Selge nur allzu gern in Angelesenes oder auch in mich anödendes Rumgemeine etwa über John Cage. Vielleicht liegt mir schlicht auch persönlich die Genazino'sche Traurigkeit, die im Kern kleinbürgerliche Unerlöstheit mehr als die Selge'sche Passivaggressivität, das gereizte Nichterfülltsein trotz eines nach außen hin und ein Stück weit durchaus auch in der Eigenwahrnehmung gelungenen, in der Trias Sex, Familie und Musik aufgehobenen bürgerlichen Lebens.



Feridun Zaimoğlu, Ruß. Einerseits als Diegese erfahrungsgesättigt und materialdicht, vollgestellt mit physischen und sozialen minutiae, überquellend fast im Versuch, Taktilität, Rauhheit, Abgegriffenheit einer Welt zu vermitteln, die ganz eindeutig nicht die ist, in der das Buch seine Leser vermutet, die aber auf ihrer prinzipiellen Vorfindbarkeit besteht; andererseits im Sprachfluss, von Satz zu Satz, durch und durch künstlich, Welt als Spracherfindung, nie bloß dem Volk vom Maul abgeschaut, jedes Wort gesetzt als literarischer Eigenwert ohne Eins zu Eins Entsprechung im Ruhrpott oder sonstwo, eine Sprache, die die, die sie sprechen, nicht beglaubigt, sondern irrealisiert. Die Spannung zwischen beidem ist nicht auflösbar, auch nicht durch die Erzählung, die Zaimoğlu in ihr in Gang setzt, erst langsam, dann immer schneller und bestimmter. Alles reißt sie mit, die Erzählung, das Ruhrgebiet ist plötzlich nicht mehr Schlacke und Schicksal, ein paar griffige Sätze und es ist verschwunden und wir sind plötzlich in einer kinetischen Alpenfantasie. Alles, inklusive der Kausalitäten, wird maximal beweglich, dynamisiert, läuft auf einen totalen Gefährdungspunkt zu. Hilflos gleiten nicht nur die Figuren, sondern auch die Sätze dem Untergang entgegen. Derart abschüssig fühlen sich die letzten Seiten an, dass man merkt: allzu viel Halt kann es schon vorher nicht gegeben haben in diesem sonderbaren Buch.



Teresa Präauer, Kochen im falschen Jahrhundert. Ich kann mir nicht helfen, mit einer bestimmten Form von kulturbürgerlicher Selbstbespiegelung, die ziemlich en vogue zu sein scheint im Sample, kann ich nicht das geringste anfangen. Siehe auch: Anke Stelling, Barbi Marković. Hier ist das Setting noch einmal etwas enger, klaustrophobischer - praktisch die literarische und sicherlich kritisch-subversiver gemeinte Version einer Detlef-Buck-Diskurskomödie. Genuinem Erkenntnisinteresse gehorcht das selten bis nie, selbst das Motiv "Kochen als segmentierte soziale Erfahrung" bleibt Gimmick, es geht lediglich um ein sanftes Rearrangement des in den eigenen Kreisen eh Vorausgesetzten. Sprachlich fließt die linksliberale Wohlstandsgesellschaftsaufstellung bei Präauer viel variabler, wendiger als bei Stelling und Marković, umso mehr ärgere ich mich über die schematischen, von Anfang an zum Abschuss freigegebenen Figuren. Es gibt einen Kurzschluss von beobachtetem Verhalten und Innerlichkeit in diesem Buch, der persönliche Freiheit ebenso knallhart einschränkt wie literarische.



Thursday, October 03, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (3)

Deniz Ohde, Streulicht. Erschreckend präzise Erinnerungs- oder besser Wiederbegegnungsbilder, plastische Prosa, die einem (mir) den Atem nimmt, insbesondere in den rein beschreibenden Passagen, den Wegen zu Fuß durch den Heimatort, gleich zu Beginn und dann immer wieder. Fast schon Phantomschmerzlesen: Ich kenne den Ort nicht, von dem Ohde erzählt, kenne nicht einmal wirklich Orte wie diesen Ort - Industrieparks nur vom mit dem Zug daran vorbeifahren zum Beispiel; und doch erkenne ich die Ver- und Gebundenheit, die schicksalshafte Verfallenheit wieder in der Be- und Erschreibung der Heimat. Nur in den “Außenszenen” allerdings; sobald der Text ins Innere des Elternhauses führt, bin ich von der Erfahrung, die er vermittelt, radikal abgeschnitten. Das hat sozialstrukturelle und biografische Gründe, klar, aber es verweist auch auf die Differenz von Außen und Innen, geteilter symbolischer Ordnung und den diversen Selbst- und Gruppenabkapselungen, die in sie eingelassen sind. Toll, wie souverän der Text von einem zum anderen schaltet, den Schmerz der Nichtvermittelbarkeit mitkommuniziert, ohne je ins Lamentieren zu geraten.


Tijan Silas, Tierchen Unlimited. Nur allzu verständlich, dass Silas die Balance zwischen deutschen Nazischläger- und Frauengeschichten auf der einen und einem bosnischen Bürgerkriegsbildungsroman auf der anderen Seite nicht hält, dass letzterer durchweg mehr Raum und Gewicht beansprucht und die ersteren teils fast ganz aus dem Buch zu verdrängen droht. Balance um der Balance Willen einzufordern wäre natürlich auch öde, eh klar. Es ist nur leider so, dass mir selbst die Deutschlandpassagen besser gefallen, insbesondere all diese nicht mehr gar so fest in autfiktionalen Realitätseffekten verankerten, eher als schwer durchschaubare erotische Geister den Erzähler heimsuchenden Sarahs, Melanies, Graces, Murcias; es sind dann die sich vervielfältigenden und dann allesamt in Bosnien zugrunde gehenden Nazibrüder dieser deutschen Frauen (oder jedenfalls Deutschlandfrauen, Frauen, die zur Deutschlanderfahrung gehören), die, in Verbund mit einem bosnischen Nazi, die Verbindung stiften zu den Bürgerkriegs- und Jugendpassagen. Eine obendrein sprachlich angenehm fesselfreie Migrationsgroteske mit nazibruderförmiger Verklammerung - das ist schon ziemlich brilliant; nur würde ich halt noch gerner eine Version des Buches lesen, die stärker ins Phantasmagorische ausschlägt.


Ronya Othmann, Die Sommer. Ein großartiges Buch, das ich zunächst unterschätzt hatte. Zu schnell schien der Text mir in den beschreibenden Passagen von einem Detail zum nächsten zu springen, wenig Tiefenschärfe, nicht allzu viel Topographie. Vom Ende des Buches betrachtet ergibt das Sinn: Was der Text uns in der ersten Hälfte gibt, ist, anders als etwa in Streulicht, keine betretbare Welt, sondern eine verschlossene, versiegelte. Eine Folge alter, vergilbter Fotografien, verkürzt auf ihr jeweiliges Punktum. Es würde nicht weit führen, diese Welt als eine gegenwärtige zu beschwören, erschließen lässt sie sich, wenn, dann nur (und stets nur ein bisschen) in der Vervielfältigung der Perspektiven: Entgrenzung des erzählenden Ich ins Familiennetzwerk, Lebensfäden, die sich verwirren, auf kein einzelnes, individuelles Erfahrungszentrum mehr zurückverweisen. In Deutschland dann die Entwirrung der Fäden, die Rekonstruktion des Ich in und als Isolation und Trauma. Das Leipzig-Kapitel lese ich weniger als zweiten Teil, denn als Epilog, als Resonanzraum.

Tuesday, October 01, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample (2)

Ab sofort in der Reihenfolge der Lektüre

Ulrike Sterblich, Drifter. Ein Buch, das von der sympathischen und vermutlich korrekten Prämisse ausgeht, dass die ergiebigsten Zeitungsseiten jene sind, über denen “Vermischtes” steht. Schön auch als ein Versuch, über die Onlinekommunikation der Gegenwart zu schreiben, ohne in paranoide Doomsday-Fantasien abzugleiten; ich habe die Vermutung, dass das funktioniert, weil die sehr gegenwärtigen Social-Media/Meme-Culture-Oberflächen, um die es vorderhand geht, mit einer soliden Dosis Web-2.0-Nostalgie unterfüttert sind. Letztlich blickt hier, glaube ich, eine ältere Netzkultur auf eine jüngere und freut sich darüber, dass sie sich immer noch zumindest in Teilen wiedererkennt. Was natürlich die Frage aufruft, ob es sich dabei nicht auch um ein Verkennen handeln könnte. Ich bin mir da nicht so sicher, manches wirkt doch etwas arg gutartig cutesy. Über die Frage, warum das alles ausgerechnet in Romanform dargeboten werden muss, mache ich mir hingegen nicht allzu viele Gedanken. Die Figuren sind erkennbar als world delivery machines angelegt, und als solche machen sie sich gut.


Clemens Meyer, Als wir träumten. Wieder, wie bei Stanišić, frage ich mich: Kann ich ernsthaft einem Buch seine handwerkliche Brillanz zum Vorwurf machen. Und doch, am Ende bleibt mit kein Maßstab außerhalb meines eigenen ästhetischen Empfindens, und deshalb bleibt es wohl dabei, dass mir diese unpolitischen Baseballschlägerjahre eben deshalb nicht gefallen, weil alles so fugendicht verarbeitet ist; weil die Motive und Episoden dermaßen perfekt ineinander greifen, dass der zugrundeliegende Bauplan stets sichtbar (fühlbar?) bleibt; weil mich auch im Kleinen ein Übermaß an Wohlgeformtheit unangenehm anspringt, insbesondere in Form von Montagetechniken, etwa wenn zwei Boxkämpfe parallel laufen, ein televisueller in der Gegenwart, ein handfest erlebter in der Vergangenheit, und natürlich müssen beide bis zum bitteren Ende auserzählt werden… was bei mir, sobald ich merke, worauf Meyer hinaus will, ein fürchterliches Fadheitsgefühl erzeugt. Anders als bei Stanišić wird die Lektüre nicht zur Qual, hineingezogen werde ich bei Meyer schon in die Geschichte, aber, wie soll ich’s beschreiben: mein eigenes Genießen missfällt mir.


Thomas Meinecke, Selbst. Interessant, wie widerspruchsfrei sich der ja doch ungemein spezifische und im medialen Alltag kulturkämpferisch bedrängte post-gender-Diskurs selbst zu inszenieren weiß - oder zu inszenieren wusste, 2016 ist doch schon lange her, merke ich beim Lesen. Keine Hierarchien, keine energetische Differenz zwischen direkt Übernommenem, Recherchiertem und Hinzuerfundenem - das ist erkennbar Programm, die Abwesenheit einer Außenperspektive oder auch nur inneren Widerstands ist etwas, das man aushalten lernen muss. Ich suche im Text trotzdem nach kleinen Widerhaken, Absetzbewegungen, die eher habituell als intellektuell funktionieren: Naturwissenschaftler mögen wir nicht und Spießer in Swinger Clubs können wohl kaum die sexuelle Avantgarde sein. Freilich: Texanische Kommunisten, Bettina von Arnim, Anaïs Nin, Stoya, das ist eine Konstellation, in der ich mich gerne verliere. Die Nominalstilexzesse französischer Theoriebildung (oder lediglich ihrer deutschen Übersetzer?) hingegen, hm. Und: Was fügt die Fiktion um Eva, Genoveva und Venus dem allem hinzu außer einen dezenten Soft-Porno-Touch? Die gesteigerten Freiheitsgrade, die erfundene Figuren mit sich bringen, scheinen Meinecke jedenfalls nur sehr bedingt zu interessieren.

Monday, September 02, 2024

Gegenwartsliteratur, ein Sample

Einfache Regel: Nur (im weiteren Sinne) Romane, deutschsprachig, ein Buch pro Autor:in, nur lebende Autor:innen, von denen ich noch nichts - beziehungsweise: noch keinen Roman - gelesen habe. Ansonsten Auswahl nach Lust und Laune, möglichst unspezifischen Interessen folgend.





Von super bis nicht mein Bier:




Marion Poschmann, Die Sonnenposition. Das einzige Buch, nach dessen ich gleich mehr davon will, mehr von Poschmann. Das einzige Buch, bei dem ich immer wieder den Drang verspüre, Sätze mehrmals, zweimal, dreimal zu lesen. Sprache als ein generatives Medium, nicht als Mittel zum Zweck (nicht nur: schreiben, weil man etwas zu sagen hat). Dabei ist das Buch nicht einmal ganz frei von einem der Hauptprobleme, das sich durch das Sample zieht: einem Überschuss an "thematischer" Recherche, der, nicht oder nicht genügend oder auf nicht hinreichend schlüssige Art literarisch integriert, in den Roman hineingestellt wird. Dennoch: Faszinierend ungreifbar, schon die personelle Konstellation, ein Dreieck des Begehrens, das sich einfach nicht schließen, noch nicht einmal wirklich öffnen will. Bei der Hauptfigur dachte ich immer wieder, auch wenn es "habituell" höchtens halb passt, an Thomas Schubert in Roter Himmel.

Marlene Streeruwitz, Die Schmerzmacherin. War on terror und Qualitätsfernsehen, vielleicht. Jedenfalls scheint die Zeitgenossenschaft, die das Buch ncht nur behauptet, sondern zweifellos hat, nicht auf die Sachdimension - globale Sicherheitsrhetorik und existentielle Schutzlosigkeit, einander bedingend, private military contractors, Körper als zu schmierende Maschinen, die irgendwann Leck schlagen - beschränkt zu sein, es geht auch um eine Idee von Erzählbarkeit. Wenn etwas weiterhilft, dann ganz sicher nicht selbstquälerische Dauerreflexion sondern eine nicht unbedingt logisch notwendige, aber affektiv eingängige Abfolge prägnanter, klar umrissener Situationen. Fast schon zu "filmisch" manchmal. Aber andererseits: das ist schon ein verdammt guter Film, den das Buch schiebt, Präzisionsarbeit im Gegenwartsstakkato. Auch davon gerne mehr, aber vielleicht nicht sofort.

Terézia Mora, Der einzige Mann auf dem Kontinent. Auch das kann Sprache (wollen): soziale Lebenswelt plastisch werden lassen, ein Inneres in einem Äußeren verankern, ein Äußeres in einem Inneren spiegeln, beides zusammen in eine sanfte, klebrige und doch unerbittliche Vorwärtsbewegung versetzen. Auf Freitag folgt Samstag, nicht umgekehrt, so ist das Leben. Schön vor allem: Die Versprachlichung von Zeit, die einem unter dem Regime des "Arbeitstags" unter den Fingern zerrinnt. Am Ende ein eher sanftes als disruptives aus-der-Fassung-geraten. Vielleicht alles in allem doch etwas wenig angesichts des - durchweg bewundernswerten - Aufwands, mit dem vorher eine literarische Alltagsmaschine in Gang gesetzt wurde

Kim de l'Horizon, Blutbuch. Ein tolles Schweiz-Buch. Weil die gesittete, gleichwohl auch skurrile, sich in ihrer Provinzialität einigelnde Schweiz (wie Gartenzwerge, die Heteronormativität spielen), schlicht ein toller Gegner ist für eine eruptive Aufwallung der prinzipielleren Art, gegen alles Normative, gefühlt Dominante - dabei die Normen und Dominanzen der eigenen peer group geflissentlich ausblendend, aber warum nicht, ab einem gewissen sprachlichen Fiebrigkeitsniveau, und l'Horizon erreicht es oft genug, braucht autofiktionale Erregung in der Tat keine Begründung außer sich selbst. Die "ideologiekritische" Selbstrecherche auf den Spuren von Eribon/Ernaux freilich, die das Buch schon auch sein will, taugt (mir) nicht viel, findet stets exakt das, was sie sucht. Wäre ja noch schöner, wenn am Ende zum Beispiel rauskäme: Kolonialrassismus Fehlanzeige, hatten wir zwar vermutet, aber sorry, diesmal nicht. Es muss schon immer die ganze Ladung sein, die ganze Leseliste, Grund- und Hauptstudium.

Ulrich Peltzer, Das bessere Leben. Ambitioniert wie nur was, montiert sich derwischartig in freier indirekter Rede durch die Gegenwart, in Satzungetümen, die im ständigen Nachgreifen befangen sind, immer noch ein Gedankenfetzen mehr, der untergebracht werden will, ein ständiges, zweifellos oft nicht nur sprachlich brilliantes Modifizieren und Anbauen, Um- und Einkreisen... nur: Um- und Einkreisen von was? Zumindest bei mir stellt sich immer wieder eine dezente Genervtheit ein angesichts des sehr dezidiert gesetzten und vielleicht doch ein bisschen totgeschriebenen (und -gefilmten; die Bellocchio-Passagen machen trotzdem sofort wieder Lust auf BUONGIORNO, NOTTE) Themas "linke Desillusionierung nach 68". Ein Generationentrauma, zweifellos, aber eines, dessen Bedeutung fürs große Ganze, auf das Peltzer nunmal aus ist (und warum nicht, in dieser Konsequenz ist er ziemlich allein damit im Sample), vielleicht doch ein bisschen überschätzt wird.

Hengameh Yaghoobifarah, Ministerium der Träume. Antifa-Thriller, Familiendrama (fast schon: -melodrama), migrantisch-queeres Coming of Age und Chronik der Baseballschlägerjahre: Viel auf einmal, die Bruchlinien sind nicht immer unsichtbar, auseinander zu fallen droht das Buch dennoch nie. Weil alles auf einem soliden Wirklichkeitseffekt aufsattelt, auf einer reichen Erzählwelt von variabler Dichte: Lübeck ist viel plastischer als Berlin, das auch erzählerisch ein Möglichkeitsraum bleibt. Bei sich selbst ist das Buch in kleinen, schlaglichtartigen Vignetten: Beschreibungen einzelner Situationen und Menschen, in die Subjektivität in Gestalt poetischer Sprachspiele hinein knallt. In den stärker programmatisch gedachten Passagen schlägt die - sonst gut nachvollziehbare - politische Rage manchmal in öde Menschensortiererei um, zum Beispiel in der doofen Elternabendszene. Aber andererseits: habe ich schon einmal eine gute Elternabendszene gelesen? Ist es überhaupt möglich, eine zu schreiben? Vermutlich ist die hier trotz allem noch eine der besseren.

Uwe Tellkamp, Der Eisvogel. Ich hatte keine Lust auf den Turm, also lieber das hier, rückblickend vermutlich eh Tellkamps Schlüsselwerk. Ein eigenartiges Buch, oft schon auch krude und anstrengend, das Jugend-in-Frankreich-Pastiche fast zu Beginn zum Beispiel: zum Fremdschämen grauenhaft; immer wieder faszinierend aber dank einer Vielstimmigkeit, die in einem gewissen Sinne geuin anmutet, das heißt: Die ideologischen und auch sprachlichen Tonlagen werden nicht an einem konstanten "Grundton" abgeglichen, sondern entfalten sich ungeschützt, das heißt auch: ohne Versöhnungsgarantie oder auch nur -perspektive. Eine weitere unaufgelöste Spannung: dass die Erzählung eines Ausstiegs aus der konsumseeligen Konsenskultur ausgerechnet die narrative Form einer postmodernen Groteske - fast wie Tarantino auf schlechten Drogen, teils - annimmt. Trotzdem immer noch keine Lust auf den Turm.

Helene Hegemann, Axolotl Roadkill. Ein wenig wie das Blutbuch in seinem Gestus der schrillen Grundsätzlichkeit, im unbedingten Willen zur gern auch ungeformten Drastik. Abbrucharbeit an der literarischen Tradition, ohne gleich schon ein Angebot zu machen, wie denn der Dialog wieder aufgenommen werden könnte. Fiktion einer Sprache, die nicht mehr anschlussfähig ist an das, was vor ihr kommt. Nur deutlich dreckiger, rougher, punkiger als bei l'Horizon, ohne selbstreflexives Sicherheitsnetz, garantiert ohne Privilegiencheck und Bourdieu-Lektüre. Hört sich natürlich erst einmal super an, macht streckenweise auch Spaß, auf Romanlänge gestreckt setzen freilich bald Ermüdungserscheinungen ein. Hegemanns Prosa drängt nicht zur Introspektion, sondern zur äußeren Handlung, und da bedürfte es, fürchte ich, doch einer etwas sorgfältigeren, "klassischeren" Ausgestaltung des Erzählmaterials.

Daniel Kehlmann, Lichtspiel. Teils schon auch eine Wohltat: Ein Autor, der in erster Linie dramaturgisch, nicht konzeptionell denkt, der selbstbewusst "auf Effekt" schreibt und einen nicht mit den Befindlichkeiten eines literarischen Ichs behelligt. Solides Literaturhandwerk, und, soweit ich das überblicken kann (kenne mich nicht allzu gut aus mit Pabst), auch filmhistorisch einigermaßen sauber recherchiert. Freilich bleibt die Frage: wozu das alles? Konsequent als Groteske aufgefaltet hätte das funktionieren können, und auch der ein wenig nummernrevueartigen Struktur entsprochen; das Kapitel über den nationalsozialistischen Lesezirkel etwa ist umwerfend. Aber letztlich ist es Kehlmann aus irgendwelchen Gründen eben doch ein Anliegen, noch einmal die Geschichte der Korrumpierung des Künstlergenies durch "die Gegebenheiten" auszuerzählen. Da bin ich recht schnell raus, fürchte ich.

Maxim Biller, das verbotene Buch. Intensität ohne Objekt. Auch hier: wozu das alles? Beziehungsweise, auf den ersten Blick ist das wozu schon recht klar. Selbstverständlich möchte hier tief Empfundenes aufgearbeitet werden, und der breakdown der klassischen narrativen Form, das Ringen um Erzählbarkeit, das obsessive Umkreisen des nie fassbaren Ursprungs des Begehrens, das Labilwerden des begehrenden Subjekts... all das, was man bestenfalls von einer solchen Unternehmung erwarten darf, löst das Buch schon irgendwie ein. Aber auf arg lauwarme Art und Weise. Dass Biller das Objet der Begierde auch in der Erinnerung nicht scharf gestellt bekommt, führt nirgendwo hin außer zur nächsten vor sich hin plätschernden Anektdote oder tristen Sexszene. Die wenigen Ausflüchte in Richtung Fiktion und Spekulation (über Esras mögliche jüdische Identität zum Beispiel) sind noch das Beste dran. Über Legitimität oder Illegitimität möchte ich mir den Kopf beim Lesen nicht zerbrechen. Dem Reiz der Indiskretion kann und möchte auch ich mich jedenfalls nicht komplett entziehen. Die spoils of war fallen halt recht bescheiden aus, insgesamt.

Barbi Marković, Minihorror. Ab hier beginnt die Sektion: maybe I just don't get it (läuft untergründig von Anfang an mit, eh klar). Das hier zum Beispiel fühlt sich für mich an wie egale Kleinkunst in Literaturform. Wenn schon mit dem mittleren Realismus brechen, warum dann trotzdem schreiben über: IKEA-Besuche, gemeinsames Wohnungsaufräumen, Serienbingen? Selbst die besseren - lakonischeren, pointenlosen - Miniaturen setzen letztlich auf 1:1 Wiedererkennbarkeit. Und setzen einen kapitalismuskritischen Minimalkonsens voraus, der gedankliche Spielräume einengt. Literatur für Leute, die gerne einen Spiegel vorgehalten bekommen und auch über sich selbst lachen können.

Anke Stelling, Schäfchen ins Trockene. (Linker Bubble-)Konsens in Konsenssprache, quasi die Langfassung der in meinen Kreisen viel geteilten Stelling-Interviews, mit denen ich auch schon wenig anfangen konnte. Kurzum: I don't get it. Aber sowas von nicht in diesem Fall. Deshalb, und weil das natürlich überhaupt in keiner Weise ein böses Buch ist, spüre ich meinem Missbehagen lieber nicht weiter nach. Nicht verkneifen kann ich mir lediglich eine Bemerkung: Auch angesichts des gesamten Samples könnte man auf die Idee kommen: Vielleicht sollte die deutsche Gegenwartsliteratur weniger über soziale Klasse nachdenken.

Thomas Hettche, Pfaueninsel. Eine sauber recherchierte kulturgeschichtliche Miniatur, die der Wochenendbeilage jeder überregionalen Tageszeitung zu Ehren gereicht hätte, aber leider Romanform angenommen hat. Dass hier so wenig ausgedacht ist, lässt das dann doch Ausgedachte zum bloß Ausgedachten herabsinken. Eine gewisse architektonische Brillianz ist auch dem emanzipativ gemeinten fiktionalen Überschuss nicht abzusprechen; allein, bewundern lässt sich die erst im Nachhinein, die Lektüre selbst erleichtert sie keineswegs.

Bov Bjerg, Serpentinen. Noch eine Eribon-Paraphrase. Diesmal kommt "Rückkehr nach Reims" (muss ich wohl doch irgendwann lesen, hilft alles nichts) sogar in der Erzählwelt vor, freilich ohne Titelnennung. Was die Sache nicht besser macht, im Gegenteil: hier ist die Lektion so glasklar, dass es nicht einmal mehr einer Überschrift bedarf. Ansonsten viel transgenerationale Düsternis, in enervierend kurzen Sätzen fast immer, aber nicht stakkatobrilliant wie bei Streeruwitz, eher molassig vor sich hin schlackend. Die Frage ist dann nur noch: wie weit geht Bjerg. Ziemlich weit scheint es zuerst: Der fehlende Finger des cholerischen Stiefvaters, vom Erzähler selbst entfernt, führt später zum Tod der ... Mutter? Schwester? Schon vergessen. Vor der letzten Konsequenz drückt er sich dann allerdings doch, plötzlich, allzu spät, kommt die Fiktion zu ihrem Recht. Zum Buch hingezogen hatte mich, aus eigenbiografischen Gründen, das schwäbische Provinzsetting. Wiedererkannt habe ich die Sache mit dem alten Namen der Pfennigkracher, inklusive dem retrospektiven, eine bleibende Wunde schlagenden Erschrecken.

Saša Stanišić, Nach dem Fest. Es gäbe sicher gute Gründe, das Buch ans andere Ende des Samples zu sortieren. Fein gedrechselte Vielstimmigkeit, ein Mosaik im Fluss, eine unaufgeregt weit ausgreifende Tiefenbohrung, Lokalgeschichte als Weltgeschichte - kann man alles drin finden, ohne Probleme. Aber wenn man einmal falsch abbiegt, und ich fürchte, das ist bei mir schon auf den ersten Seiten passiert, dann entdeckt man nur noch repetitiven Provinzkitsch und eine Aneinanderreihung literarischer Taschenspielertricks. Nur ein Beispiel: Dass lediglich ein Nazi im Dorf lebt und der auch nur einmal vorkommt und zwar gemalt und schlafend - das ist schon allzu "gewitzt", und dass das Buch diese seine Idee dann auch noch als, eben, "gewitzt" (oder etwas in die Richtung) bezeichnet, das macht die Sache alles, aber sicher nicht besser. Völlig zurecht im Jahr 2019 in Hamburg als Abiturlektüre im Fach Deutsch ausgewählt.


Fortsetzung folgt (vielleicht).

Thursday, July 11, 2024

Prove me wrong

 Dieser Satz wurde von KI erzeugt. Dieser nicht.

Saturday, June 15, 2024

Esser: Soziologie, Allgemeine Grundlagen

Hartmut Essers Ausführungen zur Funktionsweise soziologischer Erklärungen laufen auf folgende Strategieempfehlung hinaus: Man wähle eine möglichst einfache Handlungstheorie, die gerne auch "falsch" sein darf, wie etwa jene geläufige, die auf dem homo oeconomicus-Modell basiert - wenn man die Situation dann mithilfe der "Brückenhypothesen" ausreichend vereinfacht, passt es trotzdem! Vor dem Theorieteil des Buches empfiehlt Esser: bitte keine Theorie lesen, oder jedenfalls so wenig wie irgend möglich. So bizarr sich das auch liest, passt es doch zur später referierten anthropologischen These: Selektive Informationsverarbeitung ist evolutionär adaptiv. Sicher nicht falsch. Nur: Ist die Evolutionstheorie auch ein Produkt des Verzichts auf Theorie? Insgesamt eine instruktive Lektüre. Die in vielen Kontexten sicherlich hochgradig funktionale Theoriefeindlichkeit kann nicht anders, als sich selbst zu theoretisieren.

Sunday, May 26, 2024

Gumpe


Aus den nach Eingangsnummern sortierten, also inhaltlich bunt durchmischten Regalen des Freihandmagazins der Kölner Universitätsbibliothek möchte ich in Zukunft bei jedem Besuch ein Buch ziehen, nach dem ich nicht gesucht, sondern das mich gesucht hat. Kein reines Zufallsbuch, aber eines, das mir im Vorbeigehen, warum auch immer, in die Augen springt.

Das erste, das ich erwische, trägt den Titel "Die schwarze Gumpe", geschrieben wurde es von Ludwig Friedrich Barthel. Barthel war laut Wikipedia Romanautor, Essayist und Lyriker; und außerdem im Dritten Reich ein Systemschriftsteller, dem Nationalsozialismus wohl auch intellektuell zugetan, ganz sicher jedoch nach außen hin ein Mitglied des hitlertreuen literarischen Establishments. "Die schwarze Gumpe" nun ist ein Nachkriegswerk, tatsächlich sogar eine erst 2002 veröffentliche unvollendete Arbeit aus dem Nachlass.

"Die schwarze Gumpe" ist ein Buch, das einerseits als offensichtliche Bemühung gelesen werden kann, die eigene biografische Kontamination loszuwerden und sich, zumindest im Rahmen einer Fiktion, in die gängige Erzählung des "inneren Widerstandes" einzuschreiben; andererseits jedoch steht das Buch, und deshalb ist es interessant, zur Gänze im Schatten des Nationalsozialismus. Die "schwarze Gumpe" des Titels ist eine Freundesgruppe, bestehend aus Künstlern und Intellektuellen, die sich in der Nazizeit regelmäßig traf, um die gemeinsame Leidenschaft für die schönen Künste zu pflegen. Die Handlung setzt in der frühen Nachkriegszeit ein. Nacheinander drei Mitglieder der Gruppe rücken ins Zentrum der Aufmerksamkeit, als Bindeglied dient ein Verrat an der gemeinsamen Freundschaft während der NS-Zeit.

Barthel verhehlt keineswegs, dass er die Porträts dreier Mitläufer zeichnet. Auch seine Abscheu gegenüber den Nationalsozialisten nehme ich ihm ab; sie richtet sich freilich weniger wider Ideologie oder (politisches) Handeln des NS, denn wider dessen Habitus. Nur sehr nebenbei werden reale Opfer erwähnt, im Zentrum stehen die Verheerungen, die die Nazis in den Köpfen der widerwillig mitlaufenden angerichtet haben. Das moralisch zu kritisieren ist selbstverständlich ebenso wenig interessant wie der Abgleich der "schwarzen Gumpe" mit Barthels realem, gewissen Zeitströmungen gegenüber weit weniger distanzierten intellektuellem Umfeld. Dennoch erscheint es zumindest bemerkenswert, dass der Autor gleich drei verkappte Selbstporträts zu entwerfen scheint - als Opfer, als Kollaborateur, als naiver Mitläufer. Ebenfalls bemerkenswert, dass die letzte Option, verkörpert durch einen verblendeten, aber letztlich harmlosen Heimatdichter namens Michaelis, gleichzeitig die erbärmlichste und die eindringlichste Gestalt des Buches darstellt.

Mehr als die Plotkonstruktion fasziniert jedenfalls die obsessive Bezogenheit auf den Nationalsozialismus und darauf, was er mit den Menschen, die von ihm erfasst werden, macht. Die Nachkriegsjugend bleibt ebenso blass und in ihrer Beschreibung gängigen Klischees verpflichtet wie gelegentlich auftauchende Amerikaner; intensiv und detailversessen entwirft Bathel dagegen wieder und wieder, entlang diverser Haupt- und Nebenfiguren, Durchgänge durch Mitläuferschicksale diverser Art - es existiert im Buch kein Zugriff auf Geschichte jenseits des Biografischen; das Biografische selbst jedoch erscheint unerschöpflich, auch wenn der es akkumulierende Text letztlich auf der Stelle tritt, keinen Zentimeter vorwärts kommt in dem Morast, in den er sich selbst stellt.

Kann man das heute noch lesen? Offensichtlich ja, wobei dazu gesagt werden muss, dass es immer dann schlimm wird, wenn Barthel sich an Kunsterfahrungspathos versucht; und also versucht, eine Sphäre der reineren, unbefleckten Geistigkeit zu evozieren, über deren Unmöglichkeit das Buch sich an anderer Stelle durchaus bewusst zu sein scheint. Soziale Situationen und auch die Selbstrechtfertigungsmechanismen seiner Figuren bekommt diese drängende, auch sprachlich obsessive Prosa hingegen oft erstaunlich gut zu fassen.