Saturday, September 08, 2012

Der Felsen, Dominik Graf, 2002

Dass ich die wirklich exzessiven Filme Grafs noch gar nicht gesehen hatte, ahnte ich schon nach dem umwerfenden Der Skorpion. Jetzt bin ich mir sicher. Der Skorpion bricht immer wieder in wahnwitzige Bilder aus, Der Felsen IST der absolute Wahnwitz, von Anfang bis Ende. Der Skorpion bringt die Schönheit des 35mm-Films in der liebevollen Aggression gegen das Material zum Ausdruck; Der Felsen klatscht digitales Aquarell auf den Zelluloidstreifen und birgt dabei Bilder, die wieder und wieder, von einer Sekunde auf die andere, umschlagen von potthässlichem Pixelbrei in atemberaubende, malerische, in warmen, weichen Farben aufblühende Schönheit.

Ich war mir erst nicht sicher, ob es überhaupt sinnvoll ist, den Film im Kino zu sehen, auf 35mm, aber natürlich ist das genau richtig, der Film sieht wegen des Medienwechsels so fantastisch aus, wie er aussieht. Die Übersetzung der Bilder von einem technischen Register ins andere korrespondiert mit anderen Übersetzungsvorgängen: Die französische Sprache, die ins Deutsche übersetzt wird, sechs (sieben, acht?) Objekte, die in eine Geschichte übersetzt werden, eine aus der Spur geworfene Frau, deren erratisches Handeln von einer weiblichen und einer männlichen Erzählerstimme - nunja, vielleicht nicht übersetzt, aber zumindest eher aus einer quasiliterarischen Distanz interpretiert als erklärt wird. Es wird jeweils ein Riss sichtbar: zwischen dem, was die Kamera aufnimmt (oder, aus meiner Sicht: dem, was ich denke, dass sie eigentlich aufnehmen sollte) und dem, was auf der Leinwand zu sehen ist; zwischen dem, was Menschen sprechen und was ich davon verstehe; zwischen dem, was ein blaues Bikinioberteil ist und was es eventuell bedeuten könnte; zwischen den Bewegungen einer blonden Frau und einer handelnden Filmfigur - und auch, es geht ja nicht um Narratologie, sondern um Begehren, meinen eigenen Wünschen, was die Bewegungen dieser blonden Frau betrifft. Es reißt da nichts auf, was nicht ohnehin schon immer offen gewesen wäre, nur sind die Bruchstellen in den meisten Filmen verkittet. Und Graf öffnet sie nicht im Namen eines didaktisch-modernistischen Konzepts, sondern im Namen der wilden Schönheit, die durch die Risse hindurch sichtbar wird.

Ein Film, der immer nur soweit greifbar, besitzbar bleibt, dass das darauf folgende wieder-Entgleiten nur umso mehr Wucht hat; aber schon Wucht ist ein schlechter Ausdruck, denn es geht eher um etwas, das diffundiert, zwischen die Bilder und Handlungsfragmente (immer nur -fragmente, nie -segmente). Eine Wucht, die erst mit aller Macht heraufdrängt und dann abgefedert, rhythmisiert, verschoben wird. Katrin, die am Anfang des Films, am Ende des Urlaubs aus einer Liebesbeziehung herausfällt, scheint bei ihrer psychodramaturgisch und handlsungslogisch kaum nachvollziehbaren Odyssee zumindest einer gewissen geografischen Logik zu folgen: Vom Tourismusort zum Dorf in den Bergen zum Felsen, dann über die Baumgrenze hinaus, die Doppelfigur verloren gehen / erlöst werden, nach oben hin (L'avventura, Stromboli) - aber dann ist sie wieder zurück im Hotel, schließt erst einmal die Sonne aus, trägt dann dunkle Sonnenbrillen, als würde sie die Flucht fortsetzen, diesmal nach Innen. Oder als habe sie sich abgehärtet, abgedichtet gegen die Außenwelt, durch die sie nunmehr wie eine Unbeteiligte gleitet und die sich ihrerseits nur noch aus ineinander verschalteten, reflektierenden Oberflächen zu bestehen scheint, Spiegelkabinett geworden ist.

Aber natürlich geht der Film hinten und vorne auch in einer derart gebrochenen Bewegung auf, genausowenig, wie man nachvollziehen kann, wie Malte, der Junge, der sich in sie verliebt und den das Land Berlin-Brandenburg zur Erziehung nach Korsika geschickt hat (Alternativerklärung: sein Bruder ist in die Hände von Menschenhändlern geraten, die in Malte eine Gefahr für ihr Geschäftsmodell erkennen) genau aus dem pädagogischen Dispositiv herausfällt, in das er eingelassen ist. (Auch da eine Parallele zum Skorpion)

Alles an diesem Film ist großartig, schon der Anfang, der gleichzeitig ein Erzählmodell deetabliert und Intimität vermittelt, über Blicke aus dem Fenster, Dialogfetzen, ein verwischtes Standbild. Und über die Zooms, die in diesem Film noch häufiger und sonderbarer sind als sonst bei Graf. Im Gedächtnis geblieben ist mir zum Beispiel ein Zoom auf eine Postkarte. Oben steht "Liebe Mama" oder eine vergleichbare Anschrift, der Zoom richtet sich dann aber auf den leeren Raum darunter, auf das, was noch geschrieben werden muss. Ein Bild für das Vorwärtsdrängende des Films und auch für die unbedingte Freiheit des literarischen, die Graf sich nimmt und die daneben eine Verantwortung ist: ich sitzte vor einer leeren Postkarte, blicke auf einige glänzend weiße Quadratzentimeter, die plötzlich unendlich weitläufig erscheinen, weil mir klar wird, dass ich sie selbst füllen muss, ohne jede Anleitung, ohne Genre, selbst ohne Rasterung, ohne Linien. 

(Ich versende keine Postkarten).

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Something I should have said, by the way, at the beginning: for me, the absolute image is the postcard, it's not cinema. I have a love of postcards that has never slackened. I've sent tons to everybody throughout my whole life. The postcard is my true relationship to the image, there, it's the postcard. For deeper reasons, more deeply buried, than cinema: which is to say that I already found that cinema was very basic, very popular. Postcards are even lower. They're on their stalls and everyone sends them and writes on the back. And you can write postcards in very coded language, you can write poems, you can write love stuff. All you need to do is write it in a way that even those who read it won't understand it.

Serge Daney

1 comment:

Fritz said...

Ja, ja, ja! Dominik Graf ist großartig. Nicht nur einer, der was will, sondern auch einer, der es kann.