Stella Maris ist der dritte gemeinsame Film des Teams Mary Pickford (Hauptrolle, Produktion), Frances Marion Drehbuch), Marshall Neilan (Regie), Walter Stradling (Kamera), und in mancher Hinsicht der ambitionierteste. Zwar basieren alle fünf gemeinsamen Filme des Teams auf damals populären literarischen Vorlagen. Die anderen Filme des Quartetts nehmen diese Erzählungen allerdings eher als einen großzügig gehandhabten Rahmen, innerhalb dessen sich Freiräume für alles mögliche ergeben; man denke an die ausführliche Ali-Baba-Abschweifung in The Little Princess, oder an die eskalierende Zirkusnummer in Rebecca of Sunnybrook Farm.
Stella Maris ist nun zwar kein unfreier Film, ganz im Gegenteil hat auch er wieder ein wunderbares Gespür für Stimmungsmodulation, ebenso für visuelle Exzesse (die Mondlichtsequenz!). Aber seine Freiheiten sind deutlicher an die Zwänge des Alltags gekoppelt, sind gekennzeichnet als Freiheiten des Rollenspiels, Freiheiten des romantischen Überschwangs, Freiheiten des Kreatürlichen. Stella Maris ist in erster Linie fein gefügtes Erzählkino, das sich über eine Serie von Parallelmontagen und strukturellen Oppositionen entfaltet. Die zentrale Opposition ist die gespaltene Pickford: Die Hauptdarstellerin ist in einer Doppelrolle zu sehen, einmal als Titelfigur Stella Maris, da sieht sie so aus, wie es ihrem Star-Image entspricht, mit blonder Lockenpracht und glamourös illuminiert. Allerdings ist Stella Maris gelähmt, kann zunächst ihr Bett nicht verlassen. Die andere Pickford, ein bitterarmes Waisenkind, heißt Unity Blake und sieht wirklich vollkommen anders aus.
In gewisser Weise sind beide, Stella und Unity, so unterschiedlich sie zunächst erscheinen mögen, klassische Pickford-Figuren. Oder genauer, beide Figuren verkörpern - verkörpern im vollen Wortsinn, weil es in dem Film stärker noch als in anderen Pickford-Filmen immer wieder explizit um Arbeit am Körper geht - zwei Extreme der Pickford-Persona, Extreme, die in anderen Filmen durchaus miteinander kompatibel sind, die in Stella Maris jedoch übersteigert und in Isolation auftreten: Auf der einen Seite steht der glamouröse, von aller Welt vergötterte Hollywoodstar; auf der anderen der proletarische Underdog, der sich gegen die Domestizierung, die Verbürgerlichung sträubt. Man könnte auch sagen: auf der einen Seite steht Pickford als Bild, auf der anderen Seite steht Pickford als störrische Bewegungsenergie. Nebenbei bemerkt: In den Einstellungen, in denen sie gemeinsam im Bild sind, ist die eine Pickford fast einen ganzen Kopf größer als die andere, ohne dass das irgendwie unnatürlich wirken würde. Das spricht für die souveräne Handhabung der filmischen Mittel ebenso wie für die grundsätzliche Formbarkeit von Welt, an die das Pickford-Kino noch glaubt.
Es geht dem Film dann darum, die beiden Pickfords miteinander in Beziehung zu setzen. Dazu bedarf es nicht nur einem, sondern einer ganzen Reihe von Vermittlern, menschlichen wie tierischen. Tatsächlich spielen Tiere eine wichtige Rolle, insbesondere zwei Hunde. Einer der beiden hat tatsächlich second billing, ist also Pickfords offizieller Co-Star. Die zumindest für mich interessanteste Vermittlerfigur ist aber weder Teddy the Dog (on loan from Mack Senett), noch das von beiden Pickfords geteilte männliche love interest, sondern Louisa Risca, eindrücklich dargestellt von Marcia Manon. Das ist eine außerordentlich dunkle Figur, eine derangierte, gewalttätige Alkoholikerin, in gewisser Weise der einzig klassische, unrettbare Bösewicht in allen Pickford / Marion / Neilan-Filmen.
Aber interessanterweise ist es nicht der weiche, passive, schwächliche romantische Held, sondern eben Louisa Risca, die Unity Blake zunächst zu sich nimmt, die das Spiel mit der doppelten Pickford in Gang setzt. Und zwar, weil sie sich, in einer wunderbaren Szene früh im Film, selbst in ihr erkennt. Das wird ein Spiegelverhältnis etabliert, das sich bis in die Körperhaltung fortsetzt und das auf interessante Weise quer steht zur Spiegelung der beiden Pickfords. Fast wird Manon zu einer dritten, dunklen Pickford. Denn was den sozialen Stand angeht, ist Louisa Risca Stella Maris näher als Unity Blake; und auch ihr in einer Schlüsselszene spektakulär entfesseltes Haar wirkt wie eine manische Übersteigerung, eine Entformung der berühmten, glammourösen Pickford-Locken.
Das Frisurenproblem verweist auf einen Text, der meinen Blick auf die Pickford-Filme geprägt hat: Stefan Ripplingers kleines Buch Mary Pickfords Locken, erschienen 2014 im Verbrecher-Verlag, als Teil der ohnehin sehr schönen Reihe “Filit”. (Auch auf die besondere Qualität der Pickford-Marion-Neilan-Kooperation verweist Ripplinger explizit.) Mary Pickfords Locken ist keine umfangreiche Monographie, eher ein längerer Essay. Ripplinger selbst drückt das folgendermaßen aus: sein Text “kann keine filmhistorische Untersuchung und will keine Starbiographie sein. Er ist bloß eine Etüde über Bindung.”
Man kann das guten Gewissens in den Plural setzen. Es geht um Bindungen, um Bindungen zwischen einer Schauspierlerin und ihrer Rolle, zwischen dem Kinopublikum und einem Star, zwischen einer Tochter und einer Mutter. Und um ein Objekt, das all diese und wahrscheinlich noch einige andere Bindungen zusammenfasst und bezeichnet: eben Mary Pickfords Locken, ihr zentrales Markenzeichen, dessen Terminierung durch ein Friseurbesuch am 21. Juni 1928, Ripplingers Essay beginnt damit, weltweit Schlagzeilen machte.
Ich will nicht das komplexe Argument des Essays nachzeichnen, sondern nur auf eine der Bindungen, diejenige zwischen Pickford und ihrem Publikum hinweisen. Ripplinger beschreibt eine Ambivalenz: Auf der einen Seite gibt es ein Moment der Überidentifikation, weil ihre Fans Pickford immer wieder in derselben, kindlichen Rolle sehen wollen, also weniger die vielseitige Schauspielerin, als eine einzelne, von dieser Schauspielerin erschaffene Figur lieben. Auf der anderen Seite liest Ripplinger diese Überidentifizierung gerade nicht als Indiz für falsches Bewußtsein. Statt dessen beschreibt er Pickfords Kino als ein Spiel mit dem Publikum, ein Spiel, das fantasmatische Elemente hat, aber trotzdem von beiden Seiten als Spiel durchschaut wird.
Pickfords Publikum will mit ihrer Figur träumen, aber es besteht auf einer Wahrheit des Traums: “Dream true” heißt es in The Little Princess. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass die Klassenschranken, um die es in allen Filmen von Pickford, Marion und Neilan, und ganz besonders in Stella Maris geht, zwar nicht im strikten Sinne unüberschreitbar sind, aber doch immer, auch noch im Happy End, sichtbar bleiben. Pickford ist für ihr Publikum keine Wunscherfüllungsmaschine, keine Gehilfin einer rein eskapistischen Fantasie; eher eröffnet sie einen Möglichkeitsraum in den Ambivalenzen, die ihre Figur verkörpert: und die spannen sich nicht nur zwischen arm und reich auf, sondern auch zwischen kindlich und erwachsen, weiblich und männlich, Bild und Bewegung, Glamour und Schmutz.
Darin, in diesem Spiel mit Identität und Illusion, liegt, mit Ripplinger gelesen, die Modernität dieser Filme, denen oft Sentimentalität, gelegentlich auch ein Hang zu viktorianischem Moralisieren vorgeworfen wurde - Beides ist in den Filmen und vor allem in den zugrunde liegenden literarischen Stoffen, zweifellos vorhanden, insbesondere der Schlag ins Viktorianische wird aber von Pickfords Spiel und der spielerischen Inszenierung Neilans systematisch durchkreuzt.
Stella Maris zeigt, dass diese spezifische Modernität des Pickfordkinos nicht nur die Pickford-Rollen selbst betrifft. Denn selbst eine auf den ersten Blick abjekte, offen asoziale Figur wie Louisa Risca ist nicht das böse Andere des Pickford-Kinos, sondern Teil eines reflexiven Spiels von Differenz und Ähnlichkeit.