Tuesday, June 13, 2017

Lumiere d'ete, Jean Gremillon, 1943

Das Hotel trägt den Namen Schutzengel ("L'ange Gardie"), aber weder bietet es auch nur irgendjemand im Film Sicherheit, noch ist die Frau, die dort zu Beginn eintrifft, ein Engel. Höchstens: ein Staubengel. Die Aureole, die sie gleich bei ihrem ersten, fantastischen Auftritt umgibt, ist ausgesprochen irdischen Ursprungs: Sie verdankt sich dem Steinbruch, in dem mehrmals im Film Sprengkörper gezündet werden.

Die Architektur des Films glaubt man zunächst als eine Art verräumlichte Dreifaltigkeit beschreiben zu können: Unten der staubende Steinbruch, in dem die kernigen Arbeiter schuften, oben ein von einem denkbar dekadenten Adligen bewohntes Schloss, und im Zentrum das Hotel mit seiner atemberaubenden Glasfassade. Das Hotel also doch als Schutzengel, der zwischen beiden Sphären vermittelt, auch im Sinne einer halbwegs neutralen Kontaktzone: Der Schlossherr hält sich hier seine Mätresse, aber auch ein ganz besonders viriler Arbeiter emfängt einen unverhofften Kuss vom Staubengel. Auf den freilich der Schlossherr ebenfalls ein Auge wirft.

Schon früh merkt man, dass das so nicht aufgehen wird; spätestens in den Szenen, die im völlig durchgeknallte Vogelzimmer des Hotels spielen, das eine Welt für sich ist, eine Art Mittelalterfantasie mit kleinen Türmchen und überbordendem Ornament. Bald verschwindet das Hotel ganz - es ist nur das Zaubertor, durch das man in den Film eintritt. Die anderen Orte des Films sind noch wundersamer, aber auch gefährlicher. Schon das Schloss verweigert sich der einhegenden Totale, und am Ende platzt es während eines Balls aus allen Nähten. Aber vor allem ist der Steinbruch nicht nur ein Steinbruch, er setzt sich in eine Science-Fiction-Technofantasie fort, fast ein kleines Metropolis. Eine Welt für sich, aus Stahl und Streben, verdrahtet, verschweißt, Aufzüge nach oben, nach unten, aber irgendwann spannt sich einer einfach selbst ein in die Maschinenwelt und hängt, das ist unter den vielen tollen das allertollste Bild, frei in den Seilen.

Er wird selbst zum Vektor in einem Film, in dem jeder Ort mit multiplen, oftmals einander widerstrebenden Vektoren versehen ist, die in ihrer Gesamtheit zu einem letztlich dimensionslosen Raum sich fügen.

Außerdem taucht betrunken und pfeilschnell motorradfahrend ein Störenfried auf, ein Maler und Hallodri. Eigentlich ist auch er wegen des Staubengels da, aber man merkt schnell, dass seine eigentliche Funktion eine andere ist: Er kitzelt einen Wahnsinn wach, der freilich schon vorher in der Situation angelegt war. Einen gleichzeitig lebensgefährlichen und spielerischen Wahnwitz, vermittelt durch Shakespeare. Wobei es nicht um den ganzen, majestätischen Shakespeare, ums Königsdrama geht, sondern um sinndestabilisierende Shakespeare-Fragmente, die frei durch den Film flottieren; auch um die Lust am Verkleiden. "Das Entscheidende an der Verkleidung ist das Detail", sagt eine der vielen tollen Nebenfiguren einmal, und fügt dann hinzu: "es geht um dieses eine Detail, das ins Auge springt, das einen Eindruck hinterlässt". Wenn nicht das Ganze, sondern das Detail ins Auge springt, dann heißt das auch: Es geht um ein Detail, das sich zum Ganzen exzessiv verhält, das das ganze aufsprengt - und doch notwendigerweise noch auf ein aufsprengbares Ganzes angewiesen ist.

Das exzessive Detail - das könnte ziemlich genau ein Geheimnis (eines von vielen) des klassischen Kinos fassen. Die Verrücktheit von Lumiere d'ete ist die spezifische Verrücktheit des klassischen Kinos, des Detailkinos.

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