Thursday, August 23, 2018

Konfetti 13: Kung-Fu

Running on Empty ist der mir liebste Sidney-Lumet-Film, der mir liebste River-Phoenix-Film, einer der mit liebsten Filme aus den 1980ern und, vielleicht vor allem anderen, einer der mir liebsten Familienfilme. Weil es ihm gelingt, den familiären Zusammenhalt gleichzeitig als ein Zwangssystem und als eine auf gegenseitiger Liebe und Achtung beruhende Gemeinschaft zu beschreiben. Genauer gesagt: Weil es dem Film gelingt, zu zeigen, dass beides zusammen gehört. Die Familie nimmt, zumindest in modernen Gesellschaften, dem Einzelnen gerade deshalb so effektiv die Freiheit, weil sie ihre Druckmittel auf die emotionale Ebene verschoben hat. Der Weg aus der Familie heraus ist bei Lumet kein Gefängnisausbruchsfilm mehr, sondern ein Melodrama.

Der Film enthält eine ganze Reihe von potentiellen Lieblingsszenen. Gleich zu Beginn, Danny Pope (River Phoenix) beim Baseballspielen, er trifft den Ball, verliert aber gleichzeitig die Brille, Ermächtigung und Entmächtigung in einem, danach der Weg nach hause, erst entspannt vor sich hin radelnd (genauer gesagt: in Schlangenlinien die Landstrasse entlang trudelnd), dann der Blick auf die mysteriösen Männern in den schwarzen Autos, die vermutlich hinter seinen Eltern - Terroristen, seit Jahrzehnten auf der Flucht - her sind. Plötzlich zieht sich alles zusammen, der gerade noch relaxte Körper wird zu einer Maschine, die eine Aufgabe zu erfüllen hat. Oder alle Szenen, in denen Phoenix Klavier spielt. Oder, erst recht, alle Szenen mit Phoenix und Martha Plimpton, die Lorna spielt, das blonde, sich abgeklärt gebende aber tatsächlich hochgradig emotionale Mädchen, in das er sich schon aufgrund der ironisch-neugierigen Art, mit der sie ihn beim Klavierspielen beobachtet, verlieben muss.

Aber meine allerliebste Szene ist eine ganz andere. Sie spielt im Wohnzimmer der Popes. Die Kamera ist in der Küche platziert, im Hintergrund ist Dannys Mutter Annie (Christine Lahti) zu sehen, im Vordergrund sein zehnjähriger Bruder Harry (Jonas Abry). Der steht vor einem Schneidebrett, auf dem ein Salatkopf platziert ist, gibt komische Geräusche von sich und macht komische Handbewegungen. Da Lumet direkt in seine Bewegung schneidet, dauert es einen Moment, bis man zuordnen kann, was vor sich geht: Harry simuliert eine Kung-Fu-Attacke. Er hat sich das vermutlich im Fernsehen abgeschaut, bei Martial-Arts-Filmen. Wie Bruce Lee geht er leicht in die Knie, hält seine Hände, angewinkelt, nach vorn gestreckt und bewegt sie langsam auf und ab, wie als würde er die Aktion eines Gegners antizipieren. Auch die Geräusche, die er von sich gibt, sind offensichtlich dem Prügelfilm entlehnt: ein dahergebrabbeltes Fantasiekantonesisch, bestehend aus “wadda-hadda”-Variationen, die sich allerdings zu einem gellenden Aufschrei zuspitzen, wenn er das Küchenmesser, das er in der Hand hält, in die Höhe hebt und zum finalen Schlag ansetzt. Ziel seiner Attacke ist, wie erwähnt, ein Salatkopf, dessen Form allerdings an ein menschliches Gehirn erinnert und der von Harry mit einem einzigen Schlag komplett zerteilt wird.

Harrys Aktion hat keinerlei erzählerische Funktion, sie wird von den anderen Familienmitgliedern, die an dergleichen vermutlich gewöhnt sind, nicht einmal kommentiert. Die Einstellung bleibt einfach weiter stehen, die Mutter läuft in die Küche, auch Danny und Vater Arthur (Judd Hirsch) treten ins Bild, die Essensvorbereitungen gehen weiter, bis tatsächlich alle vier am Tisch sitzen, vor gefüllten Tellern, eine flüssige Familienszene, die auf eine routinierte und doch aufmerksame Art Alltag herstellt. Auch die Salatattacke ist lediglich ein Stück familiäre Realität, und möglicherweise einfach nur ein Glückstreffer. Ich kann mir das letztlich nur so erklären, dass Lumet oder ein anderes Teammitglied irgendwann während des Drehs Abry bei einer ähnlichen Geste beobachtet hatte und dass die Kung-Fu-Miniatur auf diesem Weg in den Film gelangt ist. Abry hatte vor Running on Empty keine Schauspielerfahrung und auch hinterher trat er nur in einem weiteren Film auf (in James Ivorys Slaves of New York, 1989). In Running on Empty ist seine Figur in gewisser Weise komplett überflüssig. Für das zentrale Drama des Films, das sich um Dannys langsame Emanzipation von der Familie dreht, hat er kaum eine Funktion. Er ist lediglich der, der auch noch da ist und der durch seine bloße Anwesenheit die Familie stabilisiert: Bis er, Harry, ebenfalls in der Lage ist, ein eigenständiges Leben zu führen, müssen die Popes, heißt es einmal, ihr unstetes Leben auf der Flucht vor dem Zugriff der staatlichen Apparate, fortsetzen.

Aber obwohl Harry mehr als alle anderen auf den Schutz der Familie angewiesen ist, ist er gleichzeitig die einzige autonome Figur im Film. Besonders rührend ist in dieser Hinsicht eine weitere potentielle Lieblingsszene: Die ganze Familie und auch Lorna tanzen, im Wohnzimmer der Popes, zu James Taylors “Fire and Rain”. Während sich die beiden jugendlichen und die beiden erwachsenen Figuren zu Paaren zusammenfinden, tanzt Harry alleine für sich am linken Bildrand. Zumindest zunächst, er wird dann schon von den anderen integriert, und überhaupt hat der Film ein zu großes Herz, um den kleinen Bruder auch nur für einen Moment außen vor zu lassen. Doch Harry lebt eben erst einmal in seiner eigenen kleinen Welt, in seinem eigenen Bildraum, und während Vater, Mutter und Bruder sich in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten verstricken, führt er lieber einen Privatkrieg gegen Salatköpfe.



Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

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