Kino als Konfetti, oder auch als Steinbruch. Ich möchte mir die Filmgeschichte nicht als eine vorsortierte und deshalb endliche Sammlung wohlgeformter Meisterwerke vorstellen, sondern als ein Dickicht, in dem eine unendliche Anzahl glitzernder Sensationen verborgen sind. Vielleicht deshalb übt das Kino der 1930er Jahre einen besonderen Reiz auf mich aus. Die Filme dieses Jahrzehnts, und insbesondere die der frühen Tonfilmzeit, haben etwas Unberechenbares an sich, wie als hätte der neu entdeckte Ton die Bilder brüchig gemacht, durchlässig für Impulse und Abweichungen, die vorher und vor allem nachher nicht zugelassen waren.
In dieser Hinsicht bin ich auf dem diesjährigen Internationalen Filmefestival Locarno voll auf meine Kosten gekommen: Die Retrospektive war Leo McCarey gewidmet, einem der quintessentiellen Regisseure des amerikanischen 1930er-Kinos. In jedem McCarey-Film sind glitzernde Sensationen ganz unterschiedlicher Art verborgen. Oft an unerwarteten Stellen.
Eine besondere, erstaunlich düster, abgründig glänzende Perle findet sich in Belle of the Nineties, einem McCarey-Film, der für gewöhnlich nicht in einem Atemzug mit Duck Soup, The Awful Truth und anderen Großtaten des Regisseurs genannt wird. Durchaus zurecht, denn die Hauptdarstellerin Mae West ist mit dem im Produktionsjahr 1934 erstmals streng durchgesetzten Production Code, mit dem sich die Filmindustrie bis in die 1960er Jahre selbst regulierte, nicht kompatibel. Installiert wurde der Code, um Schlüpfigkeiten aller Art aus den Filmen der Studios zu vertreiben. Und Mae West ist nun einmal die Schlüpfrigkeit in Person.
Eigenartig depressiv, fast resigniert fühlt sich Belle of the Nineties an - nominell ein Lustspiel über die Hochzeit der Burlesque-Kultur, tatsächlich jedoch eher eine Gangstergroteske, in der jeder jeden nach Strich und Faden ausbeutet. Mich interessiert allerdings eine Szene, die ganz anders funktioniert; tatsächlich hat sie mit der sie umgebenden Handlung so wenig zu tun, dass man meinen könnte, sie sei ursprünglich für einen ganz anderen Film geschrieben und erst im letzten Moment in Belle of the Nineties eingefügt worden (meines Wissens war das nicht der Fall; es würde mich, angesichts der Produktionswirklichkeit der 1930er, aber auch nicht überraschen, wenn es doch so wäre).
Es handelt sich um eine Musicalnummer, die zwei erst einmal komplett disparate Elemente vereint: Den glamourösen Filmstar Mae West und die Performance eines “Negro Spiritual”, also eine Grundform der schwarzen amerikanischen Musik, die bereits zu Zeiten der Sklaverei entstanden war - und die die Bedingungen der Sklaverei sehr direkt musikalisch verarbeitet. Aufgeführt wird das Spiritual in Belle of the Nineties als Gottesdienst unter freiem Himmel: Ein schwarzer Priester versammelt seine Gemeinde um sich. Es entspinnt sich ein Wechselgesang (“Who`s the cause of all sickness?” - “The Devil” - “Who`s the cause of all the poor crops?” - “The devil”), in dessen Verlauf die Gläubigen Schritt für Schritt in eine religiös-musikalische Ekstase hineingleiten.
Das ist spektakulär genug - aber nur die eine Hälfte der Szene. Die andere besteht aus Mae West, die, in einer spektakulären, pailettenbesetzten Garderobe, von einem Balkon aus die Performance betrachtet - und selbst mit einstimmt. Ihre eigenen Strophen interagieren mit dem Spiritual: “They say that I’m one of the devil’s daughters / they look at me with scorn / I'll never hear that horn / I'll be underneath the water judgement morning”. Ihren Höhepunkt findet die Szene in einer Überblendung: Die singende und wie entfesselt tanzende schwarze Gemeinde legt sich im filmischen Bild direkt über eine Grossaufnahme von Mae Wests Gesicht. Mitten in einem Hollywoodmainstreamfilm kommen für einen Moment zwei Formen der sozialen und kulturellen Aussenseiterschaft zur Deckung.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
In dieser Hinsicht bin ich auf dem diesjährigen Internationalen Filmefestival Locarno voll auf meine Kosten gekommen: Die Retrospektive war Leo McCarey gewidmet, einem der quintessentiellen Regisseure des amerikanischen 1930er-Kinos. In jedem McCarey-Film sind glitzernde Sensationen ganz unterschiedlicher Art verborgen. Oft an unerwarteten Stellen.
Eine besondere, erstaunlich düster, abgründig glänzende Perle findet sich in Belle of the Nineties, einem McCarey-Film, der für gewöhnlich nicht in einem Atemzug mit Duck Soup, The Awful Truth und anderen Großtaten des Regisseurs genannt wird. Durchaus zurecht, denn die Hauptdarstellerin Mae West ist mit dem im Produktionsjahr 1934 erstmals streng durchgesetzten Production Code, mit dem sich die Filmindustrie bis in die 1960er Jahre selbst regulierte, nicht kompatibel. Installiert wurde der Code, um Schlüpfigkeiten aller Art aus den Filmen der Studios zu vertreiben. Und Mae West ist nun einmal die Schlüpfrigkeit in Person.
Eigenartig depressiv, fast resigniert fühlt sich Belle of the Nineties an - nominell ein Lustspiel über die Hochzeit der Burlesque-Kultur, tatsächlich jedoch eher eine Gangstergroteske, in der jeder jeden nach Strich und Faden ausbeutet. Mich interessiert allerdings eine Szene, die ganz anders funktioniert; tatsächlich hat sie mit der sie umgebenden Handlung so wenig zu tun, dass man meinen könnte, sie sei ursprünglich für einen ganz anderen Film geschrieben und erst im letzten Moment in Belle of the Nineties eingefügt worden (meines Wissens war das nicht der Fall; es würde mich, angesichts der Produktionswirklichkeit der 1930er, aber auch nicht überraschen, wenn es doch so wäre).
Es handelt sich um eine Musicalnummer, die zwei erst einmal komplett disparate Elemente vereint: Den glamourösen Filmstar Mae West und die Performance eines “Negro Spiritual”, also eine Grundform der schwarzen amerikanischen Musik, die bereits zu Zeiten der Sklaverei entstanden war - und die die Bedingungen der Sklaverei sehr direkt musikalisch verarbeitet. Aufgeführt wird das Spiritual in Belle of the Nineties als Gottesdienst unter freiem Himmel: Ein schwarzer Priester versammelt seine Gemeinde um sich. Es entspinnt sich ein Wechselgesang (“Who`s the cause of all sickness?” - “The Devil” - “Who`s the cause of all the poor crops?” - “The devil”), in dessen Verlauf die Gläubigen Schritt für Schritt in eine religiös-musikalische Ekstase hineingleiten.
Das ist spektakulär genug - aber nur die eine Hälfte der Szene. Die andere besteht aus Mae West, die, in einer spektakulären, pailettenbesetzten Garderobe, von einem Balkon aus die Performance betrachtet - und selbst mit einstimmt. Ihre eigenen Strophen interagieren mit dem Spiritual: “They say that I’m one of the devil’s daughters / they look at me with scorn / I'll never hear that horn / I'll be underneath the water judgement morning”. Ihren Höhepunkt findet die Szene in einer Überblendung: Die singende und wie entfesselt tanzende schwarze Gemeinde legt sich im filmischen Bild direkt über eine Grossaufnahme von Mae Wests Gesicht. Mitten in einem Hollywoodmainstreamfilm kommen für einen Moment zwei Formen der sozialen und kulturellen Aussenseiterschaft zur Deckung.
Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.
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