Thursday, August 30, 2018

Konfetti 16: upside down

Seit einer guten Woche schwirren diverse Bilder der Leo-McCarey-Filme in meinem Kopf herum, die ich auf dem Internationalen Filmfestival Locarno gesehen habe, wo dem Hollywoodkomödiengroßmeister dieses Jahr eine umfangreiche Werkschau gewidmet war.

Besonders fasziniert haben mich die Laurel-and-Hardy-Kurzfilme, die McCarey Ende der 1920er Jahre für Hal Roach realisierte - teils als Regisseur, teils als Supervisor. Laurel und Hardy, beziehungsweise Dick und Doof, haben eine eigenartige Stellung in der Filmgeschichte: Sie gehören zweifellos zu den ikonischsten Figuren, die das Kino hervorgebracht hat, ihre Filme werden aber dennoch eher selten gezeigt. Und ein allseits anerkannter Klassiker ist nicht darunter. Tatsächlich werden Laurel-and-Hardy-Filme kaum als distinkte Einzelwerke wahrgenommen. “Laurel and Hardy” sind als visuelle Form allgegenwärtig, fast schon wie ein Firmenlogo, und auch einige ihrer charakteristischen Gesten haben weithin Wiedererkennungswert (Laurel, wie er sich, verwirrt grinsend, am Kopf kratzt); die Marke “Laurel and Hardy” hat ein markantes Branding, aber sie scheint sich im Lauf der Zeit von jenen Filmen emanzipiert zu haben, die sie erst hervorgebracht hatten.

Umso interessanter war es, in Locarno einen Teil des Frühwerks des Komikerduos zu entdecken. Einer meiner Favoriten unter den zahlreichen, jeweils um die 20 Minuten langen Kurzfilmen, die das Festival präsentierte, ist der von McCarey selbst inszenierte Wrong Again, ein später Stummfilm (im Original mit Soundeffekten) aus dem Jahr 1929. Der rudimentäre Plot basiert auf der Verwechslung eines Gemäldes und eines Rennpferdes. Letzteres wird von den beiden Hauptfiguren erst in eine opulent eingerichtete Villa geführt und dann auf einen Konzertflügel gelockt, was in einer im Großen erwartbaren, im Kleinen immer wieder überraschenden Pointenkaskade resultiert.

Die besten Witze des Films drehen sich jedoch nicht um das Pferd, sondern um eine Handbewegung. Oliver Hardy macht sie vor: er streckt die Finger einer Hand nach vorn (wie als würde er einen unsichtbaren Gegenstand, vielleicht eine unsichtbare Glühbirne, umgreifen); und dann dreht er die Hand um 180 Grad (wie als würde er eine unsichtbare Glühbirne in eine unsichtbare Fassung drehen). Die Geste hat zunächst eine pädagogische Funktion: Hardy möchte seinem wie stets etwas begriffsstutzigen Kumpel Laurel beibringen, dass die Besitzer der Villa, in der sich beide befinden, nicht wie “normale” Leute ticken. Vielmehr steht bei ihnen, wie bei allen reichen Leuten, alles auf dem Kopf, ist verkehrt herum, upside down.

Laurel greift die Geste begeistert auf, ist von ihr regelrecht besessen. Und zwar, weil sie die spezielle Welt, in der er sich bewegt, erklärbar macht. Man muss tatsächlich nur, stellt er fest, in Gedanken alles von unten nach oben drehen, von innen nach außen wenden, dann stimmt die Sache wieder. Immer wieder hält Laurel inmitten des Tohuwabohus, das sich um ihn herum abspielt, inne, schaut sich verblüfft um, greift dann mit den Fingern nach der imaginären Glühbirne, dreht die Hand um 180 Grad und ist wieder zufrieden, zumindest für den Moment. Die Handbewegung hilft ihm, sich damit abzufinden, dass das Pferd auf den Konzertflügel gehört; und sie versöhnt ihn sogar, zumindest kurzfristig, mit der grotesken Anatomie einer falsch zusammengesetzten Frauenstatue: Wieder und wieder blickt Laurel auf diese lebensgroße Steinfigur, die dem Betrachter sonderbarerweise nicht nur das Gesicht und die Brust, sondern auch den Po entgegen streckt.

Wie eine einfache Geste, die für sich selbst schlichtweg gar nichts bedeutet, die keine praktische Funktion hat, die auch nicht Teil eines allgemein akzeptierten Zeichensystems ist, dennoch nicht nur zu einem genuinen Medium des Filmischen, sondern sogar zum Mittelpunkt des (beziehungsweise dieses einen) Universums werden kann; wie sie zu einer Art symbolischem, epistemologischem Universalschlüssel wird, der Sinn herstellt, wo vorher Chaos war (und zwar ganz egal, ob es um Fragen der Inneneinrichtung oder der Anthropologie geht): Das führt Wrong Again mit spielerischer Leichtigkeit vor. Wobei der für die komische Wirkung entscheidende Clou natürlich der ist, dass die Handbewegung eigentlich gar nicht Sinn, sondern Unsinn produziert und dass sie das Chaos, das sie zu bekämpfen vorgibt, erst selbst hervorbringt.

Die Handbewegung, beziehungsweise die Art, in der der Kurzfilm sie einsetzt, gibt auch einen Hinweis darauf, was es mit der interpersonellen Dynamik des Komikerduos auf sich hat. Laurel and Hardy sind zunächst ein Musterbeispiel für ein Double-Act-Comedy-Gespann: Hardy gibt den “Straight Man”, dessen Reaktionen eine Art Resonanzraum bilden für die Eskapaden des “Funny Man” Laurel. Aber tatsächlich funktioniert die Kopplung in beide Richtungen: Auch Laurel bleibt stets strikt auf Hardy bezogen, er existiert nur, indem er dessen Befehle befolgt (oder missachtet) und indem er ihn imitiert. Besonders das Moment der Imitation interessiert mich. Was passiert genau, wenn Laurel eine Handlung, (später in den Tonfilmen) einen Dialogsatz oder, wie hier, eine Geste von Hardy aufgreift und wiederholt?

Zunächst wird das Imitierte im Akt der Imitation zum Anlass, beziehungsweise zum Objekt, oder schlichtweg zum Inhalt einer Pointe. Aber das ist nicht alles. Oder vielleicht genauer: Das ist schon ein Schritt zu weit gedacht. Zunächst wird, in dem Moment, in dem Laurel Hardy imitiert, etwas aus dem Fluss des Geschehens herausgehoben. Eine Geste, ein Wort, eine Handlung wird isoliert, löst sich aus dem praktischen, weltorganischen Zusammenhang, in den sie gerade noch eingebettet war und wird zu einem Zeichen, mit dem dann im nächsten Schritt gearbeitet werden kann. Für den dauernd Pläne schmiedenden Pragmatiker Hardy ist die Handbewegung nur ein ad-hoc erstelltes Hilfsmittel, um seinem Freund eine absurde Situation zu erklären. In dem Moment, in dem sie vom intuitiven Skeptiker Laurel aufgegriffen wird, verwandelt sie sich in das Element einer angewandten, filmischen Philosophie.


Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

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