Ich war zunächst ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass mit dem Untergang in Adornos Essaytitel die Shoa gemeint ist. Tatsächlich basiert "Spengler nach dem Untergang" auf einem Vortrag aus dem Jahr 1938, ist also einer der ältesten in den Prismen. Zwar wurde der Text offensichtlich später ergänzt, unter anderem um einen Hinweis auf Auschwitz, aber in erster Linie ist der Untergang in "Spengler nach dem Untergang" noch der Untergang der parlamentarischen Demokratie. Adorno liest Spengler weniger als einen Historiker der Apokalypse denn als einen pessimistischen Zeitdiagnostiker. Erst im 10 Jahre nach dem Krieg entstandenen "Wird Spengler recht behalten?" (1955) fragt Adorno nach der Aktualität der Prognosen Spenglers nach der Shoa. Allerdings wirkt der spätere Text seltsam spannungsarm und fast selbst so schulmeisterlich wie die fachdisziplinäre Kritik, die in "Spengler nach dem Untergang" als unzulänglich beschrieben wird. Adorno und Spengler haben sich nach 1945 nichts mehr zu sagen.
Aus der Perspektive von 1938 hat sich gerade das erfüllt, was Adorno 1955 nicht mehr gelten lassen möchte: Spenglers Kritik am Liberalismus. Die Pointe besteht darin, dass die parlamentarische Demokratie samt der zugehörigen Gesellschaftsordnung nicht durch eine ihr äußerliche, gegnerische Kraft vernichtet wird, sondern sich von Innen heraus, infolge der ihr inhärenten Dynamiken, zersetzt. Adornos Kommentar macht sich in diesen Passagen dem Spengler´schen Determinismus allerdings vielleicht etwas zu sehr gleich. Dass die Weimarer Republik erst im Dritten Reich zu sich selbst kommt, wie auch, dass die "späten Städtebewohner" in ihrer intelektuellen Entwurzelung bereits auf die "Lager" verweisen (50), scheint mit eine allzu übergriffige Zuspitzung zu sein (die er in "Wird Spengler Recht behalten?" denn auch wieder kassiert). Dennoch ist es interessant, wie bruchlos sich die rechte Untergangseuphorie zumindest rhetorisch in eine linke Untergangsdystopie überführen lässt. Der Liberalismus ist immer schon von allen Seiten umstellt.
Das initiale Erstaunen über die vermeintliche Treffsicherheit einiger Prognosen Spenglers holt Adornos Essay freilich nicht vollumfänglich ein. Die behauptete Hellsichtigkeit bloß damit zu erklären, dass "Der Untergang des Abendlandes" im Einklang mit den Tendenzen der Macht geschrieben sei und deshalb zu denselben Schlüssen komme wie die Realität, überzeugt nicht und läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Eher scheint mir, dass Adorno insgeheim ahnt, dass es mit den prophetischen Qualitäten Spenglers bei näherer Betrachtung nicht so weit her ist.
Ich könnte mir vorstellen, dass Adornos bedingte Verteidigung Spenglers vielmehr etwas mit einer untergründigen Affinität beider Autoren zu tun haben könnte, insbesondere, aber nicht nur, auf der Ebene des Sprachlichen. Zwar beeilt sich Adorno, sich auch vom Stilisten Spengler und dessen "herrischen Ton" (62) abzugrenzen, aber es ist doch kaum zu übersehen, dass Spenglers Prosa im Kleinen oft zu einer Geschmeidigkeit findet, die quer steht zu den grobschlächtigen Dualismen seiner Weltanschauung. "Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung (...)" Bei diesem Spengler-Satz hatte ich sofort an Adorno gedacht und tatsächlich wird er in "Spengler nach dem Untergang" zitiert (50), genau wie einige andere Passagen (vor allem zur Kritik der Presse), die sich nicht ganz unadornitisch lesen.
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Heute noch einmal die Frage nach der Aktualität Spenglers im engeren Sinne zu stellen wäre absurd, gerade auch mit Blick auf neue Faschismen. Das Zeitalter der Cäsaren wird bis auf Weiteres nicht anbrechen. Trump, Putin und Erdoğan sind vieles, aber sicherlich keine "Tatmenschen", die, von der Masse losgelöst, ihre kühnen Visionen verwirklichen. Nur sehr selten tauchen Passagen auf, die sich mit sehr viel Großzügigkeit auf die Gegenwart übertragen lassen. So ist es einigermaßen einleuchtend, den politischen Islam nicht als Fortführung einer Tradition magischen Denkens, sondern als Phänomen der zweiten Religiosität einer weltstädtischen Kultur zu beschreiben.
Im ersten Band staune ich außerdem darüber, wie nah sich rechter und linker Kulturalismus gelegentlich sind: Manche Passagen ließen sich eins zu eins für einen Einführungsband in den Postkolonialismus wiederverwerten. Freilich vereindeutigt sich das alles im zweiten Band, wenn Begriffe wie Takt, Zucht und das Gerede vom "In-Form-Sein" einer Kultur ins Zentrum rücken. Adornos Lektüre legt bezüglich solcher Passagen sehr genau den Zusammenhang offen zwischen Spenglers waberndem Mystizismus und der unbedingten Identifikation mit Herrschaft. Das Gerede vom pflanzenhaften Wesen der Kultur ruft automatisch die Sehnsucht nach einem Gärtner auf.
Von heute aus fasziniert mich an Spenglers Buch eher der große Entwurf, die Totalität eines geschlossenen faschistischen Weltbildes, auch die Methode der Physiognomie. Offensichtlich und irgendwie schon auch erklärungsbedürftig ist dabei die Spannung zwischen dem hanebüchenen geschichtsphiliosophisch-politischen Gesamtprojekt und der zwar größenwahnsinigen, aber oft durchaus inspirierenden kulturkomparatistischen Durchführung.
Nimmt man Spenglers Geschichtsphilosophie beim Wort, so läuft sie auf einen Kurzschluss von Onto- und Phylogenese hinaus. Eben deshalb aber funktioniert das politische Argument nicht: Wenn es eine (wie Spengler wieder und wieder betont: unumkehrbare) Entwicklung gibt vom pflanzenhaften in-der-Welt-Sein zur abstrakter Organisation, warum soll dann am Ende doch immer wieder die Pflanze siegen? Die "Lebensphilosophie" gesteht dem Leben nicht die Freiheit zu, sich seiner eigenen Dynamik gemäß zu entfalten.
Dass Spenglers "physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien" (59) gebunden ist, kritisiert Adorno zurecht; und dennoch unterschätzt er, glaube ich, dessen "zuordnenden Blick" (58), der von formalwissenschaftlicher Kausalität und Kontextualisierung absieht und stattdessen gar nicht zuerst Kategorien, sondern Musterbildungen fokussiert. Die Ähnlichkeit im Unähnlichen sichtbar zu mache: das ist der letztlich doch antipositivistische Kern der Unternehmung. Soweit er sich von seinem politischen Programm ablenken lässt, ist Spengler ein Nerd avant la lettre. Im Schlechten, weil er sein eigenes Bezugssystem absolut setzt, aber auch im Guten, weil er sich die Freiheit nimmt, die Welt als eine Ansammlung interessanter und dem interessierten Blick erst einmal gleichwertiger Objekte zu begreifen (anstatt hierarchische Vorsortierungen gemäß ökonomischer, moralischer oder akademischer Kriterien zu akzeptieren).
Aus der Perspektive von 1938 hat sich gerade das erfüllt, was Adorno 1955 nicht mehr gelten lassen möchte: Spenglers Kritik am Liberalismus. Die Pointe besteht darin, dass die parlamentarische Demokratie samt der zugehörigen Gesellschaftsordnung nicht durch eine ihr äußerliche, gegnerische Kraft vernichtet wird, sondern sich von Innen heraus, infolge der ihr inhärenten Dynamiken, zersetzt. Adornos Kommentar macht sich in diesen Passagen dem Spengler´schen Determinismus allerdings vielleicht etwas zu sehr gleich. Dass die Weimarer Republik erst im Dritten Reich zu sich selbst kommt, wie auch, dass die "späten Städtebewohner" in ihrer intelektuellen Entwurzelung bereits auf die "Lager" verweisen (50), scheint mit eine allzu übergriffige Zuspitzung zu sein (die er in "Wird Spengler Recht behalten?" denn auch wieder kassiert). Dennoch ist es interessant, wie bruchlos sich die rechte Untergangseuphorie zumindest rhetorisch in eine linke Untergangsdystopie überführen lässt. Der Liberalismus ist immer schon von allen Seiten umstellt.
Das initiale Erstaunen über die vermeintliche Treffsicherheit einiger Prognosen Spenglers holt Adornos Essay freilich nicht vollumfänglich ein. Die behauptete Hellsichtigkeit bloß damit zu erklären, dass "Der Untergang des Abendlandes" im Einklang mit den Tendenzen der Macht geschrieben sei und deshalb zu denselben Schlüssen komme wie die Realität, überzeugt nicht und läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Eher scheint mir, dass Adorno insgeheim ahnt, dass es mit den prophetischen Qualitäten Spenglers bei näherer Betrachtung nicht so weit her ist.
Ich könnte mir vorstellen, dass Adornos bedingte Verteidigung Spenglers vielmehr etwas mit einer untergründigen Affinität beider Autoren zu tun haben könnte, insbesondere, aber nicht nur, auf der Ebene des Sprachlichen. Zwar beeilt sich Adorno, sich auch vom Stilisten Spengler und dessen "herrischen Ton" (62) abzugrenzen, aber es ist doch kaum zu übersehen, dass Spenglers Prosa im Kleinen oft zu einer Geschmeidigkeit findet, die quer steht zu den grobschlächtigen Dualismen seiner Weltanschauung. "Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung (...)" Bei diesem Spengler-Satz hatte ich sofort an Adorno gedacht und tatsächlich wird er in "Spengler nach dem Untergang" zitiert (50), genau wie einige andere Passagen (vor allem zur Kritik der Presse), die sich nicht ganz unadornitisch lesen.
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Heute noch einmal die Frage nach der Aktualität Spenglers im engeren Sinne zu stellen wäre absurd, gerade auch mit Blick auf neue Faschismen. Das Zeitalter der Cäsaren wird bis auf Weiteres nicht anbrechen. Trump, Putin und Erdoğan sind vieles, aber sicherlich keine "Tatmenschen", die, von der Masse losgelöst, ihre kühnen Visionen verwirklichen. Nur sehr selten tauchen Passagen auf, die sich mit sehr viel Großzügigkeit auf die Gegenwart übertragen lassen. So ist es einigermaßen einleuchtend, den politischen Islam nicht als Fortführung einer Tradition magischen Denkens, sondern als Phänomen der zweiten Religiosität einer weltstädtischen Kultur zu beschreiben.
Im ersten Band staune ich außerdem darüber, wie nah sich rechter und linker Kulturalismus gelegentlich sind: Manche Passagen ließen sich eins zu eins für einen Einführungsband in den Postkolonialismus wiederverwerten. Freilich vereindeutigt sich das alles im zweiten Band, wenn Begriffe wie Takt, Zucht und das Gerede vom "In-Form-Sein" einer Kultur ins Zentrum rücken. Adornos Lektüre legt bezüglich solcher Passagen sehr genau den Zusammenhang offen zwischen Spenglers waberndem Mystizismus und der unbedingten Identifikation mit Herrschaft. Das Gerede vom pflanzenhaften Wesen der Kultur ruft automatisch die Sehnsucht nach einem Gärtner auf.
Von heute aus fasziniert mich an Spenglers Buch eher der große Entwurf, die Totalität eines geschlossenen faschistischen Weltbildes, auch die Methode der Physiognomie. Offensichtlich und irgendwie schon auch erklärungsbedürftig ist dabei die Spannung zwischen dem hanebüchenen geschichtsphiliosophisch-politischen Gesamtprojekt und der zwar größenwahnsinigen, aber oft durchaus inspirierenden kulturkomparatistischen Durchführung.
Nimmt man Spenglers Geschichtsphilosophie beim Wort, so läuft sie auf einen Kurzschluss von Onto- und Phylogenese hinaus. Eben deshalb aber funktioniert das politische Argument nicht: Wenn es eine (wie Spengler wieder und wieder betont: unumkehrbare) Entwicklung gibt vom pflanzenhaften in-der-Welt-Sein zur abstrakter Organisation, warum soll dann am Ende doch immer wieder die Pflanze siegen? Die "Lebensphilosophie" gesteht dem Leben nicht die Freiheit zu, sich seiner eigenen Dynamik gemäß zu entfalten.
Dass Spenglers "physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien" (59) gebunden ist, kritisiert Adorno zurecht; und dennoch unterschätzt er, glaube ich, dessen "zuordnenden Blick" (58), der von formalwissenschaftlicher Kausalität und Kontextualisierung absieht und stattdessen gar nicht zuerst Kategorien, sondern Musterbildungen fokussiert. Die Ähnlichkeit im Unähnlichen sichtbar zu mache: das ist der letztlich doch antipositivistische Kern der Unternehmung. Soweit er sich von seinem politischen Programm ablenken lässt, ist Spengler ein Nerd avant la lettre. Im Schlechten, weil er sein eigenes Bezugssystem absolut setzt, aber auch im Guten, weil er sich die Freiheit nimmt, die Welt als eine Ansammlung interessanter und dem interessierten Blick erst einmal gleichwertiger Objekte zu begreifen (anstatt hierarchische Vorsortierungen gemäß ökonomischer, moralischer oder akademischer Kriterien zu akzeptieren).
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