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Monday, July 27, 2020

Adorno: Kulturkritik der Gesellschaft, S. 72-96, "Veblens Angriff auf die Kultur"

Dass Veblen als Ökonom über das Feld des Kulturellen schreibt und zwar ohne dass er Kultur als ein eigenes, distinktes Feld markiert, irritiert Adorno. Anders als später Bourdieu fasst Veblen beide Sphären nicht zu einem Mischbegriff wie "kulturelles Kapital" zusammen. Er untersucht die ökonomischen Determinanten des Alltagslebens und sagt gleichzeitig: Es gibt noch andere Determinanten, zum Beispiel ästhetische, aber die interessieren mich nicht. Adorno kritisiert das, sicher zurecht, als ein "atheoretisches, pluralistisches Denkschema" (83), das sich den empirischen Kategorien des Wissenschaftsbetriebs andient, anstatt sich der wechselseitigen Durchdringung von Ökonomie und Ästhetik zu stellen.

Mir fällt an Veblens Buch zunächst ein Mißverhältnis im Begriff des Ökonomischen selbst auf. Veblen entfaltet sehr kleinteilig ein System von Inhibitoren, das die Anpassung der Gesellschaft an die ökonomischen Gegebenheiten verhindert, beziehungsweise verlangsamt. Von den antiquierten Geschlechterverhältnissen über den Sport bis hin zu den Haustieren scheint sich die Kultur der Moderne gegen den Fortschritt, der sie erst hervorgebracht hat, verschworen zu haben. Auf die Frage, wie eine solche Anpassung stattdessen zu leisten sei, fällt ihm hingegen lediglich der "ethos of workmanship" ein, eine explizit ahistorisch gedachte Gegenkraft, deren behauptete Erstheit in einem sonderbaren Mißverhältnis steht zu ihrer peripheren Stellung im Text. In der Tat ist Kultur in Veblens Modell die Negation der Ökonomie (das scheint der Kern von Adornos Kritik zu sein); das hat freilich zur Folge, dass das ganze Unternehmen auf eine negative Theorie der Ökonomie hinausläuft.

Dass Adorno diese Paradoxie (Veblen predigt Effizienz, verwendet jedoch seine gesamte rhetorische Energie, wie als Parodie auf seine eigenen Thesen, aufs Ineffiziente) nicht voll auffaltet, ist mir insbesondere in einer Passage bewusst geworden, in der er sich ausgerechnet über jene ziemlich wahnwitzige Passage in A Theory of the Leisure Class echauffiert (92f), die das Prinzip der "conspicuous consumption" ins Übersinnliche erweitert, indem den Engeln und Fabelwesen der religiösen Lehre ihre Prunk- und Verschwendungssucht vorgeworfen wird. Adorno scheint mir solche argumentative Volten etwas vorschnell unter den - freilich ihrerseits dialektisch gewendeten - Begriffen "spleen" (91) und "debunking" (92) zu subsumieren. Geht es in der Passage tatsächlich noch darum, religiöse Ideologie zu debunken? Es ließe sich ja auch fragen, ob sich so etwas wie ein im ökonomischen Sinne produktiver Engel überhaupt konzeptualisieren lässt. Mir scheint, dass sich Veblen gerade in solchen Passagen vom selbstgesetzten engen ökonomiekritischen Rahmen löst und fast schon zum strukturalistischen Ethnologen wird.

Freilich mag da auch nur meine eigene Vorliebe für den spleen mit mir durchgehen. Erst einmal bin ich eh begeistert von"Veblens Angriff auf die Kultur", einem der schönsten Texte in Kulturkritik und Gesellschaft. Adorno Lektüre ist angetrieben gleichzeitig von einem Widerstand gegen und einer Faszination für Veblens Text. Punkt für Punkt setzt er ihm seine eigenen Denkmuster entgegen, die ihrerseits wieder und wieder von Veblens Text irritiert werden. Sichtbar wird gleichzeitig etwas am Denken Veblens (eine untergründige, als Pragmatismus sich verkleidende Apokalyptik) und an dem Adornos (eine Spannung zwischen Pragmatismus und Apokalyptik, die nicht immer automatisch zugunsten Letzterer aufgelöst wird).

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Ein Grund dafür, dass ich mich etwas eingehender mit Kulturkritik und Gesellschaft beschäftigen möchte, ist mein seinerseits oft eher begriffsloses Ungenügen an einigen Kategorien, die den jüngeren Diskurs bestimmen. Dazu zählt auch der "Neoliberalismus", der, in seiner gebräuchlicheren, erweiterten Bedeutung ebenfalls als eine Bestimmung der Ökonomie auf dem Feld der Kultur beschrieben werden kann. Freilich nicht als eine negative, sondern als eine positive. Im Zeichen des Neoliberalismus ist die Anpassung immer schon gelungen, die Kultur inhibiert nicht, sondern wird zum Durchlauferhitzer der Verdinglichung. Soweit so adornitisch, nur dass "Neoliberalismus" die Tendenz hat, sich zu einem passe-partout-Begriff zu entgrenzen, der alle Phänomene mit Gleichheit schlägt, und der als sein Anderes nur noch abstrakte Utopien, oder, schlimmer und häufiger, begriffslose, regressive Sehnsüchte und damit letztlich Barbarei gelten lässt. In Veblens The Theory of the Leisure Class stößt Adorno dagegen auf ein Denken, für das "Bewußtseinsformen und die Anforderungen der konkreten Situation für ewig unversöhnbar" (93f) sind. Gegen die Evidenzen herrschender Ideologien nach Perspektiven zu suchen, aus denen es eine "Identität von Denken und Sein" (93) nicht gibt, im Falschen ebensowenig wie im Richtigen: Hier erst beginnt doch, denke ich mir, sicher naiv, Ideologiekritik.

Sunday, June 21, 2020

Adorno: Kulturkritik der Gesellschaft, S. 47-71, "Spengler nach dem Untergang"

Ich war zunächst ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass mit dem Untergang in Adornos Essaytitel die Shoa gemeint ist. Tatsächlich basiert "Spengler nach dem Untergang" auf einem Vortrag aus dem Jahr 1938, ist also einer der ältesten in den Prismen. Zwar wurde der Text offensichtlich später ergänzt, unter anderem um einen Hinweis auf Auschwitz, aber in erster Linie ist der Untergang in "Spengler nach dem Untergang" noch der Untergang der parlamentarischen Demokratie. Adorno liest Spengler weniger als einen Historiker der Apokalypse denn als einen pessimistischen Zeitdiagnostiker. Erst im 10 Jahre nach dem Krieg entstandenen "Wird Spengler recht behalten?" (1955) fragt Adorno nach der Aktualität der Prognosen Spenglers nach der Shoa. Allerdings wirkt der spätere Text seltsam spannungsarm und fast selbst so schulmeisterlich wie die fachdisziplinäre Kritik, die in "Spengler nach dem Untergang" als unzulänglich beschrieben wird. Adorno und Spengler haben sich nach 1945 nichts mehr zu sagen.

Aus der Perspektive von 1938 hat sich gerade das erfüllt, was Adorno 1955 nicht mehr gelten lassen möchte: Spenglers Kritik am Liberalismus. Die Pointe besteht darin, dass die parlamentarische Demokratie samt der zugehörigen Gesellschaftsordnung nicht durch eine ihr äußerliche, gegnerische Kraft vernichtet wird, sondern sich von Innen heraus, infolge der ihr inhärenten Dynamiken, zersetzt. Adornos Kommentar macht sich in diesen Passagen dem Spengler´schen Determinismus allerdings vielleicht etwas zu sehr gleich. Dass die Weimarer Republik erst im Dritten Reich zu sich selbst kommt, wie auch, dass die "späten Städtebewohner" in ihrer intelektuellen Entwurzelung bereits auf die "Lager" verweisen (50), scheint mit eine allzu übergriffige Zuspitzung zu sein (die er in "Wird Spengler Recht behalten?" denn auch wieder kassiert). Dennoch ist es interessant, wie bruchlos sich die rechte Untergangseuphorie zumindest rhetorisch in eine linke Untergangsdystopie überführen lässt. Der Liberalismus ist immer schon von allen Seiten umstellt.

Das initiale Erstaunen über die vermeintliche Treffsicherheit einiger Prognosen Spenglers holt Adornos Essay freilich nicht vollumfänglich ein. Die behauptete Hellsichtigkeit bloß damit zu erklären, dass "Der Untergang des Abendlandes" im Einklang mit den Tendenzen der Macht geschrieben sei und deshalb zu denselben Schlüssen komme wie die Realität, überzeugt nicht und läuft auf einen Zirkelschluss hinaus. Eher scheint mir, dass Adorno insgeheim ahnt, dass es mit den prophetischen Qualitäten Spenglers bei näherer Betrachtung nicht so weit her ist.

Ich könnte mir vorstellen, dass Adornos bedingte Verteidigung Spenglers vielmehr etwas mit einer untergründigen Affinität beider Autoren zu tun haben könnte, insbesondere, aber nicht nur, auf der Ebene des Sprachlichen. Zwar beeilt sich Adorno, sich auch vom Stilisten Spengler und dessen "herrischen Ton" (62) abzugrenzen, aber es ist doch kaum zu übersehen, dass Spenglers Prosa im Kleinen oft zu einer Geschmeidigkeit findet, die quer steht zu den grobschlächtigen Dualismen seiner Weltanschauung. "Die intellektuelle Spannung kennt nur noch eine, die weltstädtische Form der Erholung: die Entspannung (...)" Bei diesem Spengler-Satz hatte ich sofort an Adorno gedacht und tatsächlich wird er in "Spengler nach dem Untergang" zitiert (50), genau wie einige andere Passagen (vor allem zur Kritik der Presse), die sich nicht ganz unadornitisch lesen.

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Heute noch einmal die Frage nach der Aktualität Spenglers im engeren Sinne zu stellen wäre absurd, gerade auch mit Blick auf neue Faschismen. Das Zeitalter der Cäsaren wird bis auf Weiteres nicht anbrechen. Trump, Putin und Erdoğan sind vieles, aber sicherlich keine "Tatmenschen", die, von der Masse losgelöst, ihre kühnen Visionen verwirklichen. Nur sehr selten tauchen Passagen auf, die sich mit sehr viel Großzügigkeit auf die Gegenwart übertragen lassen. So ist es einigermaßen einleuchtend, den politischen Islam nicht als Fortführung einer Tradition magischen Denkens, sondern als Phänomen der zweiten Religiosität einer weltstädtischen Kultur zu beschreiben.

Im ersten Band staune ich außerdem darüber, wie nah sich rechter und linker Kulturalismus gelegentlich sind: Manche Passagen ließen sich eins zu eins für einen Einführungsband in den Postkolonialismus wiederverwerten. Freilich vereindeutigt sich das alles im zweiten Band, wenn Begriffe wie Takt, Zucht und das Gerede vom "In-Form-Sein" einer Kultur ins Zentrum rücken. Adornos Lektüre legt bezüglich solcher Passagen sehr genau den Zusammenhang offen zwischen Spenglers waberndem Mystizismus und der unbedingten Identifikation mit Herrschaft. Das Gerede vom pflanzenhaften Wesen der Kultur ruft automatisch die Sehnsucht nach einem Gärtner auf.

Von heute aus fasziniert mich an Spenglers Buch eher der große Entwurf, die Totalität eines geschlossenen faschistischen Weltbildes, auch die Methode der Physiognomie. Offensichtlich und irgendwie schon auch erklärungsbedürftig ist dabei die Spannung zwischen dem hanebüchenen geschichtsphiliosophisch-politischen Gesamtprojekt und der zwar größenwahnsinigen, aber oft durchaus inspirierenden kulturkomparatistischen Durchführung.

Nimmt man Spenglers Geschichtsphilosophie beim Wort, so läuft sie auf einen Kurzschluss von Onto- und Phylogenese hinaus. Eben deshalb aber funktioniert das politische Argument nicht: Wenn es eine (wie Spengler wieder und wieder betont: unumkehrbare) Entwicklung gibt vom pflanzenhaften in-der-Welt-Sein zur abstrakter Organisation, warum soll dann am Ende doch immer wieder die Pflanze siegen? Die "Lebensphilosophie" gesteht dem Leben nicht die Freiheit zu, sich seiner eigenen Dynamik gemäß zu entfalten.

Dass Spenglers "physiognomisches Denken an den totalen Charakter der Kategorien" (59) gebunden ist, kritisiert Adorno zurecht; und dennoch unterschätzt er, glaube ich, dessen "zuordnenden Blick" (58), der von formalwissenschaftlicher Kausalität und Kontextualisierung absieht und stattdessen gar nicht zuerst Kategorien, sondern Musterbildungen fokussiert. Die Ähnlichkeit im Unähnlichen sichtbar zu mache: das ist der letztlich doch antipositivistische Kern der Unternehmung. Soweit er sich von seinem politischen Programm ablenken lässt, ist Spengler ein Nerd avant la lettre. Im Schlechten, weil er sein eigenes Bezugssystem absolut setzt, aber auch im Guten, weil er sich die Freiheit nimmt, die Welt als eine Ansammlung interessanter und dem interessierten Blick erst einmal gleichwertiger Objekte zu begreifen (anstatt hierarchische Vorsortierungen gemäß ökonomischer, moralischer oder akademischer Kriterien zu akzeptieren).

Friday, May 01, 2020

Adorno: Kulturkritik der Gesellschaft, S. 31-46, "Das Bewußtsein der Wissenssoziologie"

Die Kritische Theorie ist "nur insoweit die Lehre von den Beziehungen der Menschen, wie sie auch die Lehre von der Unmenschlichkeit ihrer Beziehungen ist" - solche rhetorische Schmuckstücke wirken in dem Text etwas verloren, wie Selbstzweck fast, ohne rechte Verbindung zur Struktur des Arguments. Mir fehlt Kontext, klar, aber ich habe doch den Verdacht, dass Adorno einen recht selektiven, polemischen Zugriff auf die Schriften Karl Mannheims, seines Gegners, wählt; er gibt es mehr oder weniger selbst zu, im ersten Absatz: er bezieht sich auf ein älteres Buch, das sich "nicht auf jegliche seiner Formulierungen" festlegen lasse.

Das Verhältnis von Kritischer Theorie und Wissenschaftssoziologie (sicherlich andernorts hinreichend erschlossen, historisiert usw) erschließt sich mir aus dem Text nicht; dass Adornos Attacken primär auf Formalmethodisches zielen (beziehungsweise: dass der Übergang von formalmethodischer zu politischer Kritik nicht immer einleuchtet) mag dafür sprechen, dass die Differenzen nicht immer gar so klar konturiert sind.

Was mich interessiert, ist die Passage zum, beziehungsweise gegen das Beispiel. Das Prinzip des Beispiels als einer bloßen Illustration des Allgemeinen durchs Besondere ist nicht nur intellektuell unredlich, weil es einen formalen Abstraktionsmechanismus mit Analyse verwechselt, sondern kann auch beschrieben werden als eine Verformung dessen, was einmal Material war und nun nur noch als Fundgrube für sorgfältig zurechtgestutzte Beispielen dient. Das Ergebnis ist Lächerlichkeit und Nichtigkeit, gut nachvollziehbar in weiß Gott wie vielen akademischen Arbeiten, die im Methodenteil Theorie aufarbeiten und dieselbe im Anschluss zur Anwendung bringt.

Friday, April 24, 2020

Adorno: Kulturkritik der Gesellschaft, S. 11-30, "Kulturkritik und Gesellschaft"

Dass Kritiker_innen immer schon embedded sind, Teil dessen, was sie zu kritisieren vorgeben, darauf wird heute oft genug verwiesen. Mir scheint, dass die Argumente einer solchen Kritikkritik oft auf einer von zwei Schienen verlaufen: Entweder heißt es, diese oder jene kritische Praxis "reproduziere Strukturen", aufgrund dieser oder jener (oft identitätspolitisch gedachten) Setzung; oder aber, sie sei bloße Elfenbeinturmschreiberei, selbstbezügliches Insidertum, deshalb nutzlos und von Anfang an Teil des Problems. Beide Schienen haben für die auf sie Gesetzten den Vorteil, dass die Kritikkritik nicht, oder höchstens rhetorisch, zur Kritikselbstkritik ausgebaut werden muss. Die Reproduktion von Strukturen anzuklagen heißt schon fast automatisch, sich selbst aus dieser Reproduktion auszuklammern, was vor allem deshalb funktioniert, weil die Strukturen als reine Sprachstrukturen gedacht sind, weshalb sich jede Kritik automatisch performativ selbst bestätigt. Die Elfenbeinturmschreiberei zu kritisieren heißt hingegen zu insinuieren, dass eine Nichtelfenturmschreiberei möglich sei und bereits in der Anrufung dieser Möglichkeit virtuell geleistet werde.

Adorno sind diese Auswege verschlossen. Die Kritik ist bei ihm nicht aufgrund einer spezifischen sozialen Positionierung Teil des Problems, sondern sie wird es durch den Akt des Kritisierens selbst; beziehungsweise: die problembehaftete soziale Positionierung jeder Kritik entspringt einer Aporie im Herzen des Begriffs der Kritik. Dass und wie diese Aporie wiederum gesellschaftlich vermittelt, aber gleichzeitig unüberwindbar ist, scheint die zentrale Fluchtlinie der Argumentation zu sein.

Der Text ist einer der negativsten, pessimistischsten, den ich bisher von Adorno gelesen habe. Zumeist läuft seine Argumentation doch auf eine, wie sehr auch immer von Paradoxien und Praxisvorbehalten verstellte Errettungsfiktion zu. Hier jedoch taucht die Vision einer befreiten Welt, die keiner separaten Sphäre der Kultur und damit der Kulturkritik bedarf, nur einmal kurz zwischendurch auf, als Nebenbemerkung, die gar nicht mehr an Realisierung denken lässt; stattdessen zerstören sich im zweiten Teil des Essays, nachdem das Problem einmal angemessen allumfassend dystopisch ausformuliert ist, die (ideologiekritisch-)transzendentale und die immanente Kulturkritik gegenseitig, ohne dass eine, wiewohl ebenfalls kurz angedeutete dialektische Integration beider Momente in Sicht wäre.

Mir scheint, dass die Einwände gegen die erste Methode heute driftiger sind, vielleicht nur deshalb, weil die zweite, immanente, sich ohnehin mit dem Begriff von Kultur, auf den sie sich bezieht (Kultur als eine autonome, wie vermittelt auch immer doch stets Idealen von Schönheit und Harmonie verpflichteten Geistessphäre), erledigt hat.

Oder erhält sie gerade dadurch, durch die Obsoletheit ihres Objekts in Bezug aufs realexistierende Gesellschaftssystem, ein widerständiges Moment? Adorno hätte einen solchen Gedanken vermutlich eiskalt abgeschmettert; sein Ablehnung des vermeintlich Anachronistischen, die wiederkehrende Rede vom "Stand der geistigen Produktivkräfte", ist mir nicht immer ganz geheuer, wirkt manchmal doch wie ein Fetisch höherer Ordnung.

Wie gesagt, mich überzeugt die Kritik der Ideologiekritik mehr: Wenn immer, automatisch, zunächst nach dem Sprecherstandpunkt gefragt wird, erhält Ideologiekritik etwas Sortierendes, Polizeiliches, Mechanisches (mechanisch: deshalb vielleicht langweilt mich Bourdieu, dem ich sicher trotzdem Unrecht tue) - und das ist vielleicht nicht einmal das Hauptproblem. Der viel beängstigendere Gedanke besteht darin, dass es vielleicht längst nichts mehr zu Sortierendes gibt. Die Argumente gegen eine transzendentale Ideologiekritik, die Kultur abstrakt als falsches Bewusstsein durchschauen will und die stets zumindest implizit einen ideologie-, deshalb auch kulturfreien Naturzustand herbeisehnt, sind vor allem deshalb so schlüssig, weil der Prozess der Entsubstantialisierung von Ideologie, den Adorno beschreibt, heute noch einmal deutlich weiter fortgeschritten sein düfte als in dem Nachkriegsdeutschland, über das Adorno schreibt.

Ein (rätselhafter, faszinierender) Schlüsselsatz im Text dazu: "Kulturkritik wird zur gesellschaftlichen Physiognomik" (25). Das Verhältnis von Kultur zu Ökonomie ist nicht mehr zu denken als das von Ursache zu Wirkung, sondern als das blinde Ineinandergreifen zweier eng miteinander verschalteten Teile einer Maschine. Ideologie wird hermetisch durch ihre Transparenz, weil die divergierenden Ideologeme nichts mehr verbergen, ausser der Tatsache, dass Kultur in Zeiten der modernen Massengesellschaft, das ist die vielleicht erstaunlichste Formulierung des Textes, "in all ihren Stücken gleich nah dem Mittelpunkt" (25) ist.