Tuesday, December 23, 2008

Willenbrock, Andreas Dresen, 2005

Nicht wie beim Tatort geht es zu in einem Andreas-Dresen-Film. Darauf müssen die Figuren auch gleich hinweisen, als sie bei der Gegenüberstellung auf dem Polizeirevier nicht hinter einem falschen Spiegel platziert, sondern den beiden russischen Verdächtigen im Treppenhaus des Polizeireviers von Angesicht zu Angesicht gegenübergestellt werden.
Aus der Differenz freilich, die Dresen zwischen dem Tatort und seiner Vorstellung von Kino ausmacht und lauthals postuliert, gewinnt er nicht nur in dieser Szene höchstens ein wenig lakonische Coolness, die freilich frei von jeder ernsthaften, oder gar politisch-kritischen, Auseinandersetzung mit den Umständen, in denen sich seine Figuren befinden, bleibt. Und er verliert gleichzeitig mit diesem Verzicht auf das Zeichenarsenal des Polizeifilms den Reiz und den Drive des Genrehaften.
Weder arbeitet Dresen kreativ mit, noch offen gegen die Regeln. Willenbrock ist Halbherzigkeit durch und durch. Obwohl Willenbrock von schmooven Helikopter-Kamerafahrten bis zum eingängig-atmospohärischen Klaviermotiv alle Tricks des kommerziellen Filmschaffens - handwerklich durchaus ansehnlich - vorführt, beharrt der Regisseur auf einem autorenfilmerischen Überschuss, den er wahrscheinlich selbst in die Nähe irgendeines Realismuskonzepts gestellt haben möchte (auf offensiv gestalterische Mittel jenseits der erweiterten Kontinuitätsgrammatik verzichtet der Film vollständig bis zu seiner letzten Szene und wenn er sich in dieser dann etwas weiter aus dem Fenster lehnt, geht das prompt gewaltig daneben).
Freilich hütet sich der Film davor, diesen Überschuss ästhetisch zu präzisieren. Er manifestiert sich dann auch stets nur in den unpräzisesten Varianten: in einer relativen narrativen Offenheit (bis zum Schluss bleibt unklar, ob die Russen nun schuldig sind oder nicht) zum Beispiel, die aber letzten Endes eher politische Feigheit ist als Ausdruck auch nur irgendeiner Authentizität (und die analytische Zwangsläufigkeit guten Genrekinos ist dann halt auch hinüber). Oder in ganz klassischen Momenten der Autorenfilmsprachlosigkeit, die jedoch immer wieder eingefangen werden vom grundsätzlichen Mitteilungsbedürfnis eines Films, der nichts mitzuteilen hat.

Friday, December 12, 2008

Kein Platz für Ağa

Züğürt Ağa, Nesli Çölgeçen, 1985

Ein Ağa ist, wenn ich das richtig verstanden habe, Bürgermeister und Lehnsherr in einer Person. Der Titel entstammt eigentlich dem osmanischen Reich und wurde dort von militärischen und zivilen Würdenträgern verschiedener Ränge geführt. Offiziell abgeschafft im Jahr 1934 überlebte er in der modernen Türkei informell überall dort, wo die feudalen Besitzverhältnisse bestehen blieben.
Der Ağa in Züğürt Ağa herrscht über ein kleines Dorf im Südosten der Türkei. Am Anfang ist alles eitel Sonnenschein, beziehungsweise Paternalismus der alten Schule. Der Ağa ist nicht nur Dorfbesitzer- und vorsteher, sondern gleichzeitig trotz eher schmächtiger Gestalt Ringkämpfer und wird als solcher während der Kämpfe von seinen Untertanen pflichtschuldig bejubelt. Und er gewinnt natürlich auch, obwohl der sportliche Wert dieser Siege fragwürdig ist, schließlich bekäme ein Triumph seinem jeweiligen Kontrahenten schlecht.
Noch ist alles eitel Sonnenschein, wie gesagt. Etwas zu viel Sonnenschein freilich und zu wenig Regen, weshalb ein Imam aktiviert wird, der für Regenwasser beten soll. Mehr als eine winzige Wolke, die per Rückprojektion über den ansonsten glänzend blauen Himmel zieht (die archaischen special effects wirken in dem ansonsten technisch sehr ordentlich produzierten Film etwas anachronistisch) springt dabei jedoch nicht heraus. Der Imam verfolgt sowieso eigene Interessen und verkauft Grundstücke im Paradies an die Dorfbewohner gegen Wählerstimmen.
In der ausführlichen Exposition ist das größte Problem des Ağa die Geilheit seines Vaters, welcher bei jeder Gelegenheit lautstark seinen Wunsch kundtut, seine Gemahlin zu verlassen, um wieder mit jungen Frauen schlafen zu können. Der Ağa selbst flirtet zwar auch lieber mit der jungen Kiraz, als mit seiner Frau zu schlafen - was man ihm kaum vorwerfen kann, schließlich bezeichnet sogar diese selbst den ehelichen Sex als "Ringkampf" -, ist geschlechterpolitisch aber eher liberal unterwegs, zumindest gemessen an den realen Verhältnissen in seiner Umgebung. Auch als Ganzes positioniert sich der Film in vielen Disursen, von Religion bis Feminismus, liberal-humanistisch. Mehr als diese im Detail dann doch oft fragwürdige Ideologie (beispielsweise sind die Frauen im Film eigentlich fast ausschließlich damit beschäftigt, sich im Bildhintergrund gegenseitig an die Gurgel zu gehen) interessieren mich an Züğürt Ağa die eher impliziten Aspekte seines Gesellschaftsbilds, und die finde ich, wie es sich für einen ordentlichen Salonmarxisten gehört, natürlich im Bereich der Produktionsverhältnisse.
Nach der Exposition bricht die Sozialstruktur des Dorfes mit erstaunlicher Konsequenz und Radikalität zusammen. Weil Züğürt Ağa kommerzielles Kino ist, beginnt alles auf der symbolischen Ebene: Ein Ringkämpfer wurde nicht hinreichend bestochen und macht den Ağa gnadenlos platt. Noch sind die Dorfbewohner zwar loyal und jagen den Sieger gemeinsam zum Teufel, doch fortan geht alles schief. Denn weil Züğürt Ağa gutes kommerzielles Kino ist, beschränken sich die Veränderungen nicht auf die symbolische Ebene. Es geht Schlag auf Schlag. Der Vater stirbt, die Ernte ist mieß, die Dörfler gehorchen bei der Wahl nicht der eigentlich verbindlichen Empfehlung ihres Ağa und wählen statt dessen wegen der Grundstücke im Paradies den Kadidaten des Imams (vielleicht ist in dieser Entscheidung schon prophetisch der Elitenwechsel von den Kemalisten zu den Islamisten vorgezeichnet, der in der realen Türkei erst ein Jahrzehnt später einsetzte), daraufhin kürzt der Ağa ihnen die Getreideration, was die Bauern wiederum dazu veranlasst, die Scheune zu stürmen und mit der Beute nach Istanbul durchzubrennen.
Das alles ist in humorvolle Vignetten verpackt, die jedoch nie die fast mechanische und selbst im Detail folgerichtige Dynamik der Destruktion einer ganzen Wirtschaft- und Gesellschaftsordnung, die sie antreibt und der sie Bilder leihen, verleugnen können, oder auch nur wollen. Bald steht der Ağa vor den Trümmern seines feudalistischen Paradieses und verkauft es alsbald an den Höchstbietenden. Auch er macht sich auf nach Istanbul.
Hier, in Istanbul, spielt der zweite Teil des Films. In Istanbul ist alles anders. Züğürt Ağa postuliert einen ähnlich radikalen Bruch zwischen Land und Stadt wie Yilmaz Güneys Meisterwerk Sürü. Natürlich verklebt der Mainstreamfilm Züğürt Ağa die beiden Filmhälften auf der Ebene des Genres - durch ein rührseliges Melodram um Kiraz etwa -, wo Güney und sein Regisseur Zeki Ökten den Bruch auf allen filmischen Ebenen suchten. Die soziale Erfahrung, von der die Filme berichten, ist aber erkennbar dieselbe. Çölgeçen hat sehr wohl einen Begriff von dieser Erfahrung und er vermittelt sie auch, obwohl nicht als Begriff.
Für die Komik sorgt jetzt der Ağa selbst, nicht mehr sein Vater. Für letzteren wäre in Istanbul sowieso kein Platz, doch auch sein Sohn tut sich schwer. Geschäft um Geschäft geht vor die Hunde, bald müssen die Möbel verkauft werden und die Ehefrau wird immer ungeduldiger.
Der Ağa trifft in der Stadt auf seine ehemaligen Untergebenen. Als er ihr Cafe betritt, funktionieren die alten Reflexe, aber sie sind nur noch nutzlose Muskelerinnerung, nicht mehr die Verkörperlichung der Produktionsverhältnisse. Statt dessen kollidieren sie mit der großstädtischen Dingwelt (die macht dem Ağa sowieso, auch darin ist der Film ganz kommerzielles Kino, am meisten zu schaffen in der neuen Umgebung). Wie in der Heimat möchten sie sich im Halbkreis um ihren Boss herum aufstellen, aber im engen Cafe will das nicht so recht funktionieren. Im Stühleklappern manifestiert sich ein qualitativer Sprung.
Die Unterwerfung ist sowieso nur noch Charade und wird bald aufgegeben. Die Anpassung an die neuen Verhältnisse ist eine asymetrische. Der Paternalismus des Ağa überlebt länger als die Loyalität seiner ehemaligen Untertanen. Doch seine wohlwollenden Gesten sind nicht mehr die symbolische Belohnung für die realen Leistungen der Untergebenen, sondern gehen ganz im Gegenteil dem Ağa ganz real an den Geldbeutel, während er sich umgekehrt von nur noch symbolischen Unterwerfungsgesten(und selbst die verschwinden, wie gesagt, alsbald) nicht ernähren kann.
Das Ergebnis ist gleichzeitig flüssig erzähltes, lustiges und technisch gutes kommerzielles Kino (inklusive, das sei nebenbei angemerkt, einem schönen funky Leitmotiv auf der Tonspur) und das nachvollziehbare, erstaunlich komplexe Selbstbild einer Gesellschaft, die bis heute stark von sozialen Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten geprägt ist. Ideologische blinde Flecken gibt es natürlich auch (welcher Film hat die nicht?) und zwar nicht zu knapp, aber Züğürt Ağa scheint doch auf einer ganz fundamentalen Ebene sehr ehrlich über die Gesellschaft nachzudenken, aus der er entstammt.

Tuesday, December 09, 2008

Ein Kino der Eindringlinge

Das iranische Kino erschließt das Soziale in einigen seiner besten Filme (meine Kenntnis des Kinos ist zu gering für genauere Aussagen, hier beschränke ich mich auf einige wenige Filme und lasse andere, an die ich mich nicht gut genug erinnern kann aus - u.a. Makhmalbafs Marriage of the Blessed -, obwohl sie in dem, an das mich erinnern kann, durchaus ins Bild passen) über soziale Differenzen. Es ist ein Kino der Eindringlinge. Die Filme entsenden Spione in gegebene Milieus und machen sie erst durch diese Bewegung und die in ihnen reflektierte Differenz lesbar. Diesem Vorgehen haftet immer etwas Selbstreflexives an, denn der Eindringling - meist ein Mensch aus einer reltiv niedrigeren sozialen Klasse - ist immer auch eine in den Film eingeschriebene Repräsentantion wahlweise des Zielpublikums oder des Regisseurs.

Kiarostami

Den höchsten Grad an Selbstreflexion erreicht, wen wundert's, Abbas Kiarostami. In Close-Up gibt sich der Eindringling direkt als Filmregisseur aus und erschleicht sich Zugang zur bourgeoisen Lebenswelt. Freilich wird die Repräsentation des Sozialen, die aus dieser Konfiguration entsteht, gleich mehrmals gebrochen, insbesondere dadurch, dass Kiarostami selbst im Film auftaucht und den Eindringling von aussen (durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle) portraitiert. Der Film verwandelt sich so langsam aber sich in ein Spiegelkabinett der Repräsentation und gleichzeitig des Sozialen. Ein einfacheres, aber gleichzeitig eindrücklicheres Modell entwirft Kiarostami in seinem besten Film ...and Life Goes on. Diesmal ist er selbst der Eindringling. Im Auto fährt er durch die nach einem Erdbeben verwüstete Gegend um Guilan, auf der Suche nach den Schauspielern eines früheren Films. Der teheraner Intellektuelle Kiarostami richtet die Kamera auf die Landbevölkerung und spricht sie dabei direkt an. Damit wird der Film zum Gegenstück des Akulina-Prinzips von Close-up: Die im Vorgängerfilm unendlich gebrochenen und vervielfältigten ästhetischen Vermittlungsinstanzen fallen so komplett weg wie in keinem anderen Film. Der Film wird als Ganzes zur direkten Erfahrung der Differenz im Sozialen. Gleichzeitig etabliert Kiarostami das Automobil als ein zentrales Moment seines Kinos. Der kiarostamische PKW ist die Materialisierung eines bestimmten Begriffes von Interaktion im sozialen Raum, einer Verbindung von Distanzierung und Offenheit. Im Gegensatz zur Idee vom Auto als maschineller Repräsentanz des weberschen stahlharten Gehäußes oder noch einfacher der Monadisierungstendenz in der bürgerlichen Moderne, wie sie sich beispielsweise in Petzolds Wolfsburg artikuliert, ist das kiarostamische Auto zuerst und ganz im Gegenteil Vermittlung, ein Medium der, fast Voraussetung von Kommunikation. Das Auto wird zur Metapher des gesamten Kinomodell Kiarostamis. Der entscheidende Teil des PKWs ist bei Kiarostami das Fenster und das ist meistens geöffnet. Das Autofenster erlaubt Kontaktaufnahme ohne Berührung, es betont einerseits die Gemeinsamkeiten im Bereich des Diskursiven und andererseits die Unterschiede im Bereich des Sozialen. Das Auto dient trotz einiger gleichbleibender Merkmale in den verschiedenen Filmen ganz unterschiedlichen Zwecken. In Taste of Cherry wird es zum spirituellen, in Ten zum subversiven Raum. In ... and Life goes on wird es zum Vehikel des Eindringlings, zum Medium des Eindringens. Was Close-up und ...and Life Goes on verbindet, ist der offen selbstreflexive Gestus. Kiarostamis Kino isoliert Figuren und Methoden, nicht zuletzt durch die automatisch distanzierende Form des Interviews, die im iranischen Kino insgesamt durchaus auch vorhanden sind, aber selten in derselben Reinheit der Artikulation.

Figurationen des Eindringens

..and Life Goes on ist auch deshalb ein Einzelfall im iranischen Film, weil der Eindringling hier "von oben" kommt. Die Figur des Eindringlings und der damit einhergehende Differenz geht sonst fast immer von unten aus und blickt nach oben. Die soziale Stellung des Eindringlings ist im Regelfall niedriger als die der Menschen in dem Milieu, in welches er eindringt. Der umgekehrte Fall ist selten und bringt Probleme mit sich. Im Fall von Samirah Makhmalbafs Blackboards, in welchem eine Gruppe idealistischer Lehrer sich aufmacht, die verelendete Dorfbevölkerung zu unterrichten, scheitert nicht nur dieses Unterfangen, sondern mit ihm der ganze Film. Der Wunsch, in eine niedrigere soziale Sphäre als die eigene eindringen zu können, ist kein natürlicher (zumindest nicht in einem armen Land wie dem Iran, in der ersten Welt mag das anders aussehen, wenn der Akademiker die Würstchenbude aufsucht, mag man das durchaus als Ausdruck eines realen Verlangens - auch jenseits von dem nach Wurst - lesen und nicht ausschließlich als ironische Geste). Sie ist entweder Teil einer umfassenden, bewussten ethisch-politischen Weltsicht (wie in ...and Life Goes On) oder eben nicht (wie in Blackboards). Normalerweise geht die Bewegung in die andere Richtung. In Jafar Panahis Crimson Gold etwa dringt der Pizzalieferant Hussein in die Wohnung eines Mannes ein, der im amerikanischen Exil reich geworden ist. Kaum öffnet sich die Tür, gerät die Wahrnehmung des Eindringlings aus den Fugen und wird zum Problem. Der Film, der vorher Hussein strikt von außen beobachtete, wechselt mit einem Mal in die Subjektive. Verunsichert sucht sich die Kamera in der ungewohnten Umgebung zurechtzufinden. Die Passung zwischen Innen und Außen stimmt nicht mehr, der sich öffnende Innenraum ist mit der Lebenswelt Husseins genauso wenig kompatibel wie mit der neorealistischen Ästhetik des Films (dieser Neorealismus ist durchgängige ethisch-ästhetische Selbstpositionierung der Filme und oft das einzige Moment eines moralischen Werturteils). Die einzelnen Räume der Wohnung ergeben kein kohärentes Ganzes und Husseins Wandel vom Proletarier zum Kriminellen schließt direkt an diese Erfahrung von Differenz an.
Offside, ein weiterer Film Panahis, dreht sich ausschließlich um ein versuchtes Eindringen. In diesem Fall - und ich möchte argumentieren, dass sich darin eine Entwicklungstendenz im iranischen Film insgesamt artikuliert - geht es nicht vorrangig, nicht einmal primär, um eine Klassendifferenz. Statt dessen fordert eine Gruppe sozial heterogener Frauen das Recht ein, an einem gesamtgesellschaftlich identitätsstiftenden Ereignis, einem Qualifikationsspiel für die Fußballweltmeisterschaft, teilnehmen zu dürfen. Ähnlich wie Close-up thematisiert auch Offside ein scheiterndes Eindringen als soziale Performanz: Die Frauen verkleiden sich als Männer und versuchen so ironischerweise gerade durch die völlige Verleugnung der Weiblichkeit, auf die tendenziell auch die strengen Kleidungsvorschriften im Iran zielen, Teilhabe am Sozialen zu erlangen und die Stadiontribüne zu erreichen. Nach dem Scheitern des Eindringens werde sie in einen ausgestellt künstlichen Raum knapp außerhalb des Stadions verbannt. Ein Großteil des Films behandelt dann die gleichzeitig spielerischen und in allegorischer Übertragung bitterernsten Versuche, diese willkürlich gezogene Grenze zu überwinden.
Auch, wenn ich nicht genug gesehen habe, um ein hinreichend abgesichertes Urteil bilden zu können, möchte ich behaupten, dass das Motiv des Eindringens im iranischen Kino in den letzten Jahren tendenziell seine klassenkäpferischen Konnotationen verliert. Oder diese zumindest erweitert um andere Dimensionen. Im Fall von Offside geht es um das Geschlechterverhältnis (das freilich im Iran noch deutlicher als anderswo ein Machtverhältnis ist), Ashgar Farhadis Fireworks Wednesday gewinnt aus dem Blick des Eindringlings so etwas wie eine Innenansicht der Mittelklasse und ihrer feingliedrigen, eher durch kulturelles denn durch ökonomisches Kapital strukturierten Hierarchien. Auch hier besteht eine soziale Differenz zwischen dem Eindringling, der jungen Haushaltshilfe Rouhi und dem Milieu, in das sie eindringt. Allerdings ist diese Differenz nur eine von Nuancierungen innerhalb der Mittelklasse und sie artikuliert sich ausschließlich über den Habitus, am direktesten vielleicht über die Differenzen in Sachen Make-up. Als Roohi zum ersten Mal das Domizil ihrer Arbeitgeber betritt, bietet dies objektiv weitaus mehr Anlass zur Verwirrung als das, welches Hussein in Crimson Gold betritt. Es herrscht eine Unordnung sondergleichen, große Teile der Wohnung sind mit Plastikfolie überzogen. Doch Roohi lässt sich kaum aus der Ruhe bringen, statt dessen gelingt ihr die Adaption an die neuartigen Verhältnisse äußerst schnell. Sie hat begriffen, dass in der Welt der Mittelklasse scheinbar geringe Fortschritte im Habitus auf den ersten Blick unüberbrückbare Differenzen einebnen können. Nicht zufällig begibt sie sich schnell in einen im Mietshaus ansässigen Schönheitssalon. Auch Fireworks Wednesday nutzt das Motiv des Eindriglings und die mit diesem verbundene Differenz, allerdings nutzt der Film diese weniger für eine direkte nationale / sozialpolitische Allegorie denn für psychologisch komplexes Erzählkino, das dem neorealistischen Erbe auf formaler Ebene zwar treu bleibt, aber einen gänzlich anderen Bezug zu seinen Figuren aufweist als die Filme Panahis oder Kiarostamis. Letztere greifen auf das Soziale identifizierend zu, die Eindringlinge dienen als Fixpunkte, von denen aus ein Machtverhältnis analysiert werden können. Freilich findet sich in diesem Modell kein Raum für echte Transformationen, soziale Performanz ist zum Scheitern verurteilt. Die Performanz Roohis dagegen ist eine gelingende und das gesellschaftliche System innerhalb des Mietshauses ein dynamisches, kein statisches.
Was nicht heißen soll, dass Farhadis Modell das überlegenere wäre, oder auch nur eine konsequente Weiterentwicklung darstelle. Es beinhaltet seine eigenen, vielleicht komplementären, Beschränkungen. Wo Kiarostami und Panahi (Offside steht in mancher Hinsicht zwischen beiden Positionen und nähert sich insbesondere am Ende der zweiten an) die Totalität des Sozialen als statische präsentieren, entwickelt Fireworks Wednesday einen Ausschnitt des Sozialen (und eben nicht dessen Totalität) als dynamischen.

Sunday, December 07, 2008

Der Schauplatz des Krieges. Das Kino von John Ford, Hartmut Bitomsky, 1976

John Ford, so der Voice-Over-Kommentar (hoffentlich) sinngemäß, habe keinen Begriff vom Kapitalismus, aber er habe ihn erfahren. Seine Filme, so fährt der Kommentar fort, vermittelten genau das: Erfahrungen. Und benötigen, so der unausgesprochene Zusatz, deshalb zunächst keine Begriffe.
Die fehlenden Begriffe werden dann von Bitomsky nachgeliefert. Zum einen durch den Voice-Over-Kommentar, der zu weiten Teilen aus nicht einzeln ausgewiesenen Zitaten besteht (Lindsay Anderson wird genauso zitiert wie Levi-Strauss, Hitchcock und natürlich Marx / Engels), zum anderen und noch expliziter, durch Schrift.
"Die verlassene Frau" steht dann (meist, wenn nicht immer) links oben im Bild, oder "Handwerk des Tötens", oder "Die Story", oder noch simpler: "Motive". Die Schrift respektiert die Mise-en-scene, sie wird meist fernab der Figuren platziert, vor allem fernab derer Augen, die, glaubt man dem Film, das wichtigste Element des Bildes darstellen ("ein Kino der Blicke", naja, welches Kino ist nicht wenigstens irgendwie ein Kino der Blicke, das ist sicher nicht die stärkste Passage des Films). Meist liegen die Buchstaben über dem Himmel, den im Bild zu integrieren, das sagt der Film und zeigt es gleichzeitig, John Ford äußerst wichtig war.
Der Schauplatz des Krieges entwickelt seine Theorie des fordschen Kinos ganz aus dessen Bildern und besteht seinerseits aus nichts anderem als eben diesen Bildern und den addierten Begriffen (ein paar Fotografien der Familie Ford bilden die einzige Ausnahme). Zum Teil sind das Standbilder, zum Teil bewegte. Die meisten entstammen The Searchers, ausgehend von diesem zentralen Werk erkundet Bitomsky weitere, mal naheliegende, mal entlegenere (zB "Flesh") Gebiete des fordschen Kinos. Die Standbilder werden mit Begriffen aufgeladen, die bewegten Bilder sollen die Erfahrung vermitteln (die meisten Filme und leider auch das zentrale Beispiel The Searchers werden in den deutschen Synchronfassungen präsentiert, der Film korrigiert die Übersetzungsfehler wenn nötig, die Erfahrung geht natürlich dennoch zu weiten Teilen flöten).
Die Thesen sollen den Filmen entspringen und nicht von außen an sie herangetragen werden. Die Zitattechnik widerspricht diesem Projekt nur auf den ersten Blick; deren inhärente Heterogenität soll gerade verhindern, dass die Spezifität des bitomskyschen Sprachgebrauchs die Bilder wieder verschließt bzw auf dieselbe einengt.
Die Argumentation verläuft ungefähr folgendermaßen und kann hier selbstverständlich nur bruchstückhaft wiedergegeben werden, weil das entscheidende fehlt: Die Landschaft, der Himmel, der Wind und die Indianer sind die Rohelemente der fordschen Filmgrammatik, die erst in ihrer Strukturierung signifikant werden. Der Schauplatz des Krieges identifiziert eine Reihe von Oppositionen als grundlegende Elemente der Filme: Mann und Frau, Armee und Familie und so weiter. Dazu treten verschiedene Motive, deren wichtigstes ist für Bitomsky die Adoption. Eine familiäre Beziehung jenseits der Familie. Ein Tauschgeschäft jenseits (oder: am Rande) der Warenzirkulation. Wahrscheinlich, so genau formuliert der Film das nicht aus, erschließt sich das eingangs erwähnte Zitat am besten so: Die Adoption ist eine Erfahrung von Kapitalismus jenseits seiner Begrifflichkeiten. Was entsteht, ist kein Spiegel, sondern ein Modell der Welt.
Nach Bitomsky macht das die Adoption (und in der Übertragung das gesamte fordsche Kino) aber noch lange nicht zur bloßen Ideologie. Vielmehr ist, so scheint es der Film zu sagen, dem zur filmischen Erfahrung geronnene Geflecht aus Oppositionen und Motiven eine ganz und gar objektive Beziehung zum amerikanischen Experiment eingeschrieben, die sich vor allem über die Erfahrung der Fremdheit vermittelt. Denn eine solche ist die Adoption ja in der Tat.
Mir hat diese Betonung und Interpretation des Begriffs der Adoption, wie überhaupt der Großteil des Films, unmittelbar eingeleuchtet. Dennoch fällt in diesem Zusammenhang einer der wenigen Sätze, denen man widersprechen kann und vielleicht auch widersprechen muss. Es ist dies sicher nicht zufällig einer der wenigen Sätze, die über das fordsche Kino hinaus zu verallgemeinern suchen. Das amerikanische Kino sei deswegen für die ganze Welt gemacht, heißt es da wiederum nur sinngemäß (und mit Sicherheit ist auch das ein Zitat), weil die USA ein Land voller Fremder sei, eine filmgeschichtliche These, die auch in dieser poetischer Verpackung nicht stimmt. Oder wenigstens um den (industriegeschichtlichen etc) Kontext zu ergänzen wäre, den Bitomsky absichtlich außen vor lässt. Ihm genügt die Tatsache, dass Fords Eltern irische Einwanderer waren.
Solange der Film sich auf die fordsche Poetologie und deren weltsetzende Modellhaftigkeit beschränkt, kommt er den Filmen erstaunlich nahe. Dennoch bleiben in der Lesart blinde Flecken oder vielleicht eher strukturierende Abweseneheiten. Die ausführliche Analyse des finalen Angriffs der Bürgerwehr auf die Indianer in The Searchers spart ausgerechnet deren eindrücklichste Einstellung aus, nämlich den Moment, in dem die Kamera mit den Angreifern in die Indianersiedlung einreitet und die (eindeutig genozidale) Verwüstung aus der Täterperspektive verbildlicht.
An dieser Einstellung (oder vergleichbaren) müsste eine Gegenlektüre ansetzen. Denn die Indianer in dieser Einstellung lediglich als Rohmaterial zu betrachten, das funktioniert schlicht und einfach nicht. Hier drängen Ideologie und Realgeschichte jenseits aller Modellhaftigkeit vehement ins Bild (vielleicht wird der Film tatsächlich für einen Moment spiegelhaft und vielleicht ist gerade das Nebeneinander von Modell und Spiegel entscheidend) und verweisen auf die Grenzen einer werkimmanenten Analyse, eines Genres, das in Der Schauplatz des Krieges. Das Kino von John Ford sicherlich einen seiner Höhepunkte erlebte.

Wednesday, December 03, 2008

Berlin Kino...

...ist nicht mehr, dafür gibt's jetzt Überbau. Da bin ich nicht alleine, mir zur Seite steht bereits Thomas und vielleicht stößt noch der eine oder andere hinzu (Interessenten?).
Alles noch sehr spartanisch und provisorisch aber das wird sich hoffentlich demnächst beides ändern.

Tuesday, December 02, 2008

In passing

Chaharshanbe-soori / Fireworks Wednesday, Asghar Farhadi, 2006

Rouhi wird bald heiraten. Ihr Verlobter taucht nur zweimal im Film auf, ganz am Ende und ganz am Anfang. In der ersten Szene fährt er Mofa. Rouhi sitzt auf dem Rücksitz und betrachtet Fotos. Die interessanteren hält sie ihm gelegentlich vor die Augen und wundert sich dann trotzdem, als das Mofa umkippt. Genau genommen ist ihr Tschador daran Schuld, der nach seinem ersten Auftritt als Verkehrsgefährdung auch im weiteren Verlauf eine wichtige Rolle spielen wird, vor allem durch seine Abwesenheit.
Das junge, naive Glück der beiden hat zwar keinen sichtbaren Platz im weiteren Verlauf des Films, gerät aber nie ganz in den Hintergrund und dient als Kontrast zu einer weitaus komplexeren, problematischeren Beziehung. Letztere spielt sich in einem Mietshaus ab, in welchem Rouhi einer Familie beim Ausmisten ihrer grotesk chaotischen Wohnung behilflich sein soll. Die Ehe der Wohnungsbesitzer ist so unwirtlich wie die Zimmer, in denen sie leben. Die krankhaft, wenn auch möglicherweise nicht grundlos eifersüchtige Mojdeh zerstört sich langsam aber sicher selbst und treibt nach und nach auch die Menschen in ihrer Umgebung ins Verderben.
Das Verderben ist - und das zeichnet den Film vor allem Anderen aus - in erster Linie ein soziales. Chaharshanbe-soori ist ein Film über Hausfrauenklatsch und die sozialen Voraussetzungen, auf denen er basiert und die er bearbeitet. Wunderschön klar artikuliert ist Farhadis Film in dieser Hinsicht. Da der soziale Status iranischer Frauen sich über die Kleidung nur bedingt erschließen lässt, wächst der Stellenwert des Make-ups: Die Frauen in dem Mietshaus entstammen der oberen Mittelklasse und sind, die gespenstisch blasse Mojdeh ausgenommen, infolgedessen geschmackvoll (für europäische Verhältnisse: üppig) geschminkt, während die aus ärmeren Verhältnissen strammende Rouhi zunächst gar kein Make-up trägt und bei ihrem ersten Besuch im Schönheitssalon dann etwas zu dick auftragen lässt. Das veränderte Aussehen führt zu einer veränderten Stellung in der sozialen Ökonomie des Mietshauses.
Chaharshanbe-soori ist ein Film der abschätzenden / abschätzigen Blicke, der genau kalkulierten Gesten und Bemerkungen. Farhadi verräumlicht Abhängigkeiten und soziales wie sexuelles Verlangen architektonisch und filmisch. Viel findet vor dem Haus statt, die einzelnen Wohneinheiten sind nur unzureichend voneinander isoliert, anstatt einer strikten Trennung zwischen Privatem und Öffentlichem konstruiert Farhadi fließende Übergänge in einem kontinuierlich halb-öffentlichen Raum. Mojdeh, die sich immer mehr am unteren Ende der Hierarchien, die eben nicht nur ökonomische sind, wenn sie auch stets von diesen abgeleitet bleiben, wiederfindet, flüchtet sich in einigen Szenen in das Badezimmer, in den einzigen Ort, der eine reine Privatheit zu versprechen scheint. Doch auch dort lauscht sie am Lüftungsschacht. Zwanghaft übertreibt sie die Prozeduren, vor denen sie eigentlich zu fliehen versucht.
Die Übertragung der neorealistischen Ästhetik des postrevolutionären iranischen Kinos auf ein Mittelklassepersonal funktioniert ausgesprochen gut (am Drehbuch war Mani Haghighi beteiligt, dessen Men at Work etwas Ähnliches auf eine allerdings ganz andere Art und Weise versucht; Farhadi und Haghghi arbeiteten auch gemeinsam an Haghighis mir noch unbekanntem Folgefilm). Farhadi inszeniert mit einer Eleganz, die sich meist versteckt und sich auch dann, wenn sie nicht mehr zu übersehen ist, nicht aufdrängt. In einer Schlüsselszene etwa setzt der Film, der (mit einer Ausnahme) auf nichtdiegetische Musik verzichtet, Fahrstuhlmusik (auch Fahrstuhlmusik war mir im iranischen Kino glaube ich bisher noch nie untergekommen) auf brilliante Art und Weise als halbironischen Kommentar ein. Und eine längere Passage gegen Filmende durch die Stadt, in der die Feierlichkeiten zum neuen Jahr von Bürgerkriegsbildern nicht leicht zu unterschieden sind, ist schlicht und einfach großartig. Allerdings fügt sich auch diese Szene nicht so eindeutig zur Allegorie, wie sie das etwa bei Jafar Panahi getan hätte. In Chaharshanbe-soori weisen die Figuren zwar durchaus, aber weniger ausschließlich über sich hinaus, sie gewinnen mehr, insbesondere psychologischen, Eigenwert. Chaharshanbe-soori ist auch in seiner Form ein wenig bourgeoiser als die meisten anderen iranischen Filme. Er ist das freilich auf eine wunderbare Art.

Ye che / Night Train, Diao Yinan, 2007

Ein Mann und eine Frau lernen sich bei einer wenig glanzvollen Single-Party kennen. Sie ist eine Henkerin und er ein Loser. Sie vollstreckt das Todesurteil an seiner Frau. Er beginnt, sie zu stalken. Sie weiß nicht, was er mit ihr vorhat und ist mal neugierig, mal verängstigt. Auch er weiß nicht so recht, was er mit ihr vorhat.
Schnell wird klar, dass Diao Yinan sich an die Regeln des panasiatischen Kunstkinos hält. Spätestens die vierte oder fünfte Szene im Film verrät ihn: Mann und Frau unterhalten sich in einem überfüllten Bus. Sie stehen nicht nebeneinander, sondern mehrere Meter voneinander entfernt, jeweils eingeklemmt zwischen anonymen Leibern. Die Kamera verstärkt ihre Isolation, anstatt sie zu vermindern. Ohne die Möglichkeit eines Blickkontakts tauschen sie ein paar belanglose Floskeln aus und schweigen sich dazwischen beharrlich an. Fast schon parodistisches Potential hat diese Sequenz.
Was alles nicht heißen soll, dass Night Train völlig derivativ und öde wäre. Der Film ist deutlich interessanter als der Vorgänger Uniform, ein nun tatsächlich ganz und gar vorhersehbares Jia-Derivat, und hat durchaus seinen ganz eigenen Reiz, nur leidet er eben doch an den Grenzen einer Ästhetik, die zu oft weder Ausdruck einer originellen Autorenposition zu sein scheint, noch eine genuin filmische Auseinandersetzung mit dem Material. Sondern eher so etwas wie die default choice im aktuellen world cinema.
Ye che hat seine stärksten Momente immer dann, wenn er sich der Tristesse seines Gegenstandes anders als bloß mimetisch nähert. In einer Szene früh im Film kippt ein leicht debiler Flirt ohne Vorwarnung in einen Vergewaltigungsversuch, der ebenso abprupt wieder abgebrochen wird. Diao filmt diese Sequenz in expressiver Großaufnahme vor einem Fenster, hinter dem der Blick frei wird auf ein düsteres Industriepanorama. Das entstehende Bild sieht dann mit einem Schlag mehr nach einer Rückprojektion im Stil des klassischen Hollywoods aus als nach Realismus.
Ebenfalls gefallen kann die gesamte, sehr ausgedehnte Schlusssequenz, die zwar in noch tristerer Umgebung als der restliche Film situiert ist, aber in fast (ein starkes "fast", möchte ich doch hinzufügen) hitchcockscher Manier einen Spannungsbogen ausarbeitet. Die tiefgreifende Ambiguität der letzten Schwarzblende verdient sich der Film in dieser glänzenden Schlussphase hart und redlich.

Muss nicht sein

Wer in den Himmel des world cinema will, muss erst durch die Vor/Kurzfilmhölle. Meine dringende Bitte an die Organisatoren der Filmreihe "In 14 Filmen um die Welt": Lasst das in Zukunft bleiben!