Abends noch einmal zwei Balogun-Programme, das besonders das zweite wurde zu einem der eindrücklichsten Kinoerlebnisse, die ich in den letzten Jahren hatte. Am Ende verlassen wir das Kino kurz vor zwei Uhr nachts und fühlen uns wie gründlich durchgewalkt, aber schon auch erleuchtet.
Zunächst aber African Gods in Brazil. Der neueste Balogun-Film des Programms stellt sich als eine vor allem was die Kameraarbeit angeht teilnehmende Beobachtung einer Zusammenkunft heraus, bei der Ritual, Tanz und Theater endgültig ununterscheidbar werden (das scheint mir tatsächlich eine Fluchtlinie in Baloguns Werk zu sein, die sich seit dem ersten Langfilm Alpha durchhält und in diesem nur auf den ersten Blick unscheinbaren Spätwerk ihren definitiven Ausdruck erhält). Gehuldigt wird Gottheiten afrikanischen Ursprungs, die die Sklaverei nach Brasilien importiert und dort in lokale transformiert hat. Huldigen heißt in diesem Fall: verkörpern, und zwar in einem strengen Sinn. Die Gläubigen nehmen nicht nur das Äußere der Gottheiten an, sondern stellen auch mimisch, sowie in kleinen Spielhandlungen, deren Charakterzüge dar. Einer stellt einen verschmitzten Gott dar, deshalb spielt ihm stets ein Lächeln um die Lippen, eine andere verkörpert die Weiblichkeit an sich und fährt sich stolz durch ihr wallendes Haar.
Baloguns Kamera verwandelt sich zwar nicht ebenfalls in eine Gottheit, ist nicht einmal unbedingt gläubig, aber doch unbedingt Teil des sozialen Raums, den sie portraitiert, sie bleibt auf Augenhöhe, lässt den einzelnen Tänzern/Göttern Entfaltungsspielraum, richtet sich an der Eigengesetzlichkeit der Zeremonie aus, nicht nach einem dieser äußerlichen Formprinzip.
Eine weitere Besonderheit des Films: Balogun taucht selbst im Bild auf, wenn ich mich nicht täusche das einzige Mal überhaupt im gesamten Programm.
Danach: ein Meisterwerk, der rundeste, schönste, reichste der in Frankfurt präsentierten Balogun-Filme. A Deusa Negra dreht sich ebenfalls um das Verhältnis von Lateinamerika und Afrika. Freilich geht es weniger um einen Kulturtransfer, als um einen Gewaltzusammenhang.
A Deusa Negra hat große Ambitionen – und löst sie in vollem Umfang ein, ohne dass sich der Film selbst wieder wie ein Gewaltakt anfühlen würde. Es gibt einen Prolog im historischen Setting, in dem afrikanische Krieger Sklavenhändler attackieren. Die Rahmenhandlung dreht sich um einen Mann, dessen Großvater einst, nachdem er der Sklaverei entkommen war, aus Brasilien nach Nigeria, in die Heimat seiner Vorfahren zurückkehrte. Teile der Verwandtschaft leben nach wie vor in Brasilien; die will der Mann jetzt zurück holen. In Rio de Janeiro (?) angekommen, wird er erst einmal in die Favelas geschickt. Favela, was ist das? Ein Kameraschwenk zeigt es ihm. Sein Blick bleibt dann zunächst an einer kurzhaarigen jungen Frau kennen, wenig später lernt er jedoch eine andere, etwas ältere kennen, zu der er sich sofort hingezogen fühlt und mit der er in Richtung Bahia aufbricht, wo er eine wichtige Auskunft einzuholen erhofft. Es entspannt sich dann eine Eifersuchtsgeschichte um die beiden und einen dritten, der sie als sein Eigentum betrachtet und die aufkeimende Liebe bei jeder Gelegenheit zu untergraben sucht – zum Beispiel, indem er in einem Reisebus seinen Sitz nach hinten kippt, um das Gespräch der beiden anderen kontrollieren oder zumindest unterbinden zu können. (Ich bin ganz unbedingt gegen zurückklappbare Sitze in mehrreihigen Fahrzeugen...)
Es kommt dann sogar zum Showdown hoch oben über einer Klippe – und das ist, wie gesagt, nur die Rahmenhandlung. Wenn der Film im geheimnisvoll-grünlich leuchtenden Bahia ankommt, beginnt eine lange Rückblende, die fast die gesamte restliche Laufzeit des Films ausmacht und in der einige der Schauspieler der Rahmenhandlung in anderen (aber eben: nicht in jeder Beziehung anderen) Rollen auftauchen. Es geht um die Sklaverei, um einen rebellischen Sklaven vor allem, der mit seiner schwangeren Geliebten von einer Plantage flieht. Hier kommt der Film erst ganz zu sich selbst, wird noch wagemutiger, findet erstaunliche Bilder sowohl für die Gewalt der Sklaverei, als auch für die wenigen, dafür umso kostbareren Rückzugsräume der Intimität. Gerade die Blickwechsel zwischen der Hauptfigur und seiner Geliebten sind von umwerfender Schönheit – wie sich da zwei Menschen gegenseitig bewundern... Das Maß der politischen und historischen Gerechtigkeit ist das individuelle Glück, das Maß des individuellen Glücks romantische Liebe, gelingende Intimität. Wer denkt, das sei eine reduktive Sichtweise, soll sich die Filme Baloguns ansehen.
Das letzte Kapitel der Retrospektive wird von dem Kurzfilm Iron Eagles eröffnet, den Balogun als Auftragsarbeit für die nigerianische Luftwaffe gedreht hat. Es wird ein wenig marschiert und militärisches Gerät bestaunt, vor allem aber wird geflogen. Wieder und wieder zischen die Kampfflieger durchs Bild, mal einer, mal mehrere gleichzeitig, von rechts nach links, von links nach rechts, ganz am Ende: Schnitt auf einen Adler, das war's. Der Film ruft von allen die heftigsten Publikumsreaktionen hervor, in beide Richtungen. Hinten meint jemand, das gehe gar nicht, den hätte man weglassen sollen. Aus meiner Sicht: auf keinen Fall! Schon allein für die großartige 80s-Musikuntermalung loht sich der Film. Außerdem gehören eben auch Kampfflieger zu den „forms, shapes, colours and movements“ des modernen Nigeria. Balogun scheint sich für den Film auch nicht geschämt zu haben. Wie alle anderen mindestens seit den 1980ern signiert er auch diesen nicht nur mit seinem Namen, sondern auch mit einem grafischen Emblem, das einen Bogenschützen darstellt. (Das ist eh erstunlich; mir fallen nicht viele Filmemacher ein, die ein Ähnliches branding betreiben. Ein nahe liegender Bezug sind „The Archers“ und ihr zugehöriges Markenzeichen.)
Dann, zum krönenden Abschluss, die oben erwähnte unendliche Erleuchtung. Money Power ist Baloguns letzter Spielfilm, er ist um die drei Stunden lang und ziemlich großartig. Das Grundgerüst der Ezählung erinnert an Anaji Ogun, es wird aber nicht nur vom ländlichen in den urbanen Raum versetzt, sondern auch in alle Richtungen ausgebaut. Der junge Mann ist zu einem Journalisten geworden, der das politische System Nigerias portraitieren will (und der zwischendurch, in einer sehr schönen Nebenhandlung auf erotische Abwege gerät), die junge Frau zum schwächsten Glied eines politökonomisch-libidinösen Intrigenspiels. Und der korrupte Nebenbuhler zu einer sektakulären, auch spektakulär voluminösen Verkörperung eines postkolonialen Machtgefüges, das sich außerdem in manischen Anrufungen des titelgebenden Mantras „Money Power“ Bahn bricht; und dem offensichtlich nur noch eine ästhetische Form angemessen ist: die Groteske. Umwerfend ist zum Beispiel eine Szene, in der der Nebenbuhler vor einem seiner (fast ebenso voluminösen) Speichellecker flüchtet, der ihn unbedingt umarmen möchte, und selbst dann nicht nachgibt, als sein Vorbild hinter einer gleichfalls voluminösen Frau Deckung sucht.
Aber das ist beileibe nicht die einzige Tonart, die der Film beherrscht. Noch deutlicher als in Anaji Ogun ist der Einfluss von Bollywood, der sich nicht nur in einer Reihe großartiger musikalischer Darbietungen Bahn bricht, sondern auch in den rabiaten, und doch stets ästhetisch nachvollziehbaren Stimmungs- und Tonlagenschwankungen. Die Liebesgeschichte wird, wie stets bei Balogun, genuin zärtlich inszeniert, ein Duett an einer Uferpromenade ist schlicht und einfach ein Meisterstück, das Stanley Donen oder Guru Dutt nicht besser hinbekommen hätten, eine andere Szene, in der ein Kuss durch die Gitterstäbe einer Gefängniszelle verhindert wird, herzzerreißend. Gleich darauf rumpeln wieder die Brachialkomiker los, lassen sich auf exaltierte Art und Weise bestechen – und am Ende lassen sie sich doch übertölpeln, und zwar wiederum, eine weitere Parallele zu Anaji Ogun, durch die List der Frau, die zum Schein auf die grobschlächtigen Avancen des Oberkorruptis eingeht (und dabei zeigen kann, dass auch sie die hohe Kunst des overacting beherrscht, wenn sie nur will).
Und dann gibt es noch eine Szene, in der die Hauptfigur plötzlich zu fliegen scheint, hoch oben über der Stadt schwebt, in eine Art Geisterreich transportiert wird, wo über alle Figuren der Handlung Gericht gehalten wird. Ein Film wie kein anderer, auch eine Kinovorstellung wie keine andere – selbst, dass für zwei Drittel der Laufzeit die Yoruba-Dialoge nicht untertitelt waren, tat der Euphorie keinen Abbruch. (Tatsächlich: gar keinen Abbruch; weil die Handlung weitgehend selbsterklärend ist und die Schönheit der ungewohnten Sprache ohne Übersetzung erst wirklich zur Geltung kommt.)
(In den credits lese ich: „Second assistant camera: Tunde Kelani“. Womit eine Erbschaftsfolge benannt ist. Kelani wird den Ball, den Balogun 1984 – zumindest was Spielfilme betrifft – fallen lässt, zehn Jahre später wieder aufnehmen.)
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