Friday, March 24, 2017

Die große Versuchung, Rolf Hansen, 1952

Der Film beginnt mit Großstadtbildern. Autos, S-Bahngleise, Fußgängerströme als divergierende Bewegungsvektoren übereinander gelegt, im city-symphony-Montagestil der 1920er. Nicht das mechanistische Funktionieren der perfekt durchorganisierten Metropole wird damit bezeichnet; sondern das Chaos, die Zumutungen der Moderne. Die Sequenz findet ihren Höhepunkt, wenn der derangiert wirkende Dieter Borsche, der einen gerade aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrten Medizinstudenten spielt, fast von einem Auto überfahren wird.

Der Film endet wieder mit Großstadtbildern. Wieder Autos, wieder S-Bahngleise, wieder Fußgängerströme, aber die Bewegungsvektoren gleiten jetzt sanft ineinander, auch die Montage setzt auf Nachvollziehbarkeit. Die Moderne ist gebändigt, eingedampft auf die Maßstäbe individuell-menschlicher Wahrnehmung. Dieter Borsche, jetzt ein fertiger Arzt, kann aufrechten Hauptes in eine bundesrepublikanische Moderne hinein laufen, die mit sich selbst wieder im Reinen ist und die avantgardistische Versuchung abgewiesen hat. An Borsches Arm Ruth Leuwerik - leider bleiben die Frauen, bleiben beide eigentlich ziemlich toll angelegten Frauenfiguren in diesem Film durchweg ein Nachsatz. (Renate Mannhardt ist sogar noch toller als Leuwerik, aber leider auch noch mehr Nachsatz, fast nur eine Klammer.)

Gerade gerückt wird das Großstadtbild, wird damit die junge Bundesrepublik insgesamt, durch einen Regelbruch und dessen nachträgliche Sanktionierung. In gewisser Weise wird in dieser erzählerischen Konstruktion die Kriegsvergangenheit gleichzeitig in ihrer traumatisierenden Wirkung anerkannt und in ihrer moralischen Dimension verdrängt. Aus heutiger Sicht zumindest ist diese doppelte volkstherapeutische / ideologische Funktion freilich so offensichtlich, dass sie fast automatisch mitläuft, interessant ist der Film aus ganz anderen Gründen.

Wie in einem Räderwerk greift im Arztmelodram, das Die große Versuchung hauptsächlich ist, eins ins andere. Tatsächlich scheint das Räderwerk etwas zu gut geölt zu sein. Bzw: Die einzelnen Zahnräder der Gefühlsmaschinerie greifen nicht nur perfekt ineinander, sie scheinen sich beim Ineinandergreifen gegenseitig überbieten zu wollen. Auf jeden Reiz muss sofort eine Reaktion folgen, und zwar eine prägnante, am besten eine komplett überbordende. Insbesondere Leuwerik zelebriert in ihren leider zu wenigen Szenen eine vorauseilende Hysterie sondergleichen (der "Leuwerik reaction shot" sollte ins Lexikon der allgemeingültigen Filmsprache aufgenommen werde). Es wirkt manchmal, als wären die Menschen sich ihrer Gefühle trotz aller Hilfestellung, die ihnen der Film gewährt, nicht ganz sicher, als müssten sie sich in ihre Gefühle regelrecht hineinsteigern, damit sie sie auch ja nicht wieder verlieren. Das gelingt freilich immer nur im Moment, in kleinen emotionalen Ekstasen, deren formales Korrelat eine ebenfalls überprägnante Kameraführung darstellt, die keine Gelgenheit auslässt für vehemente Flugmanöver.

Am besten ist der Film in den Szenen, die den Arztberuf selbst thematisieren. Die Typologie der Patienten, auch die Dialekte, in denen sie sprechen, die knorrigen alten Ärzte, die resoluten Krankenschwestern, die GIs, die in kameradschaftlicher Eintracht auf das Niederkommen einer fleißigen Fraternisiererin warten. Da steckt eine vulgäre Energie im Film, die sich leider nur zum Teil auf die Haupthandlung überträgt.

An Autumn's Tale, Mabel Cheung, 1987

Eine Herbstgeschichte: die Hongkongisierung von New York (von einem ganz unbedingt prä-Giuliani-New York, genauer gesagt). Chow Yun Fat und Cherie Chung machen Manhattans Chinatown nicht einfach nur sich selbst zu eigen, sie tragen es in die Landkarte des Hongkongkinos ein. Wenn sie über die Straßen New Yorks eher tanzen und schweben als gehen, scheinen sie zu sagen: ab jetzt weht hier ein anderer Wind, ab jetzt ist das alles Spielmaterial. Es ist eine Kunst, Studioaufnahmen so aussehen zu lassen, als seien sie an Originalschauplätzen entstanden. Eine noch viel tollere und viel filmischere Kunst ist es, über Originalschauplätze so zu verfügen wie über ein Studioset. Und die vielleicht größte Kunst, die An Autumn's Tale mit unfassbarer Leichtigkeit zelebriert, besteht darin, den Unterschied zwischen beidem zu eliminieren, aber nicht durch Mimikry, sondern vermittels einer euphorischen Irrealisierung, die schon damit beginnt, dass zwei der größten asiatischen Filmstars der Zeit prekäre Existenzen zu simulieren haben, und sich in diese Aufgabe mit einem Elan stürzen, der jeden Obszönitätsvorwurf sofort entkräftet.

Tuesday, March 14, 2017

Sinful Confession, Li Han Hsiang, 1974

I've seen only two of Li Han Hsiang's films from his 1970s "hunchback of shawdom" (Stephen Teo) phase so far. Both are episodic softcore farces filmed in elaborate studio sets. Both establish some sort of ordering principle (in Sinful Confession: a game of Mahjong and the presence of Michael Hui in each episode) in the beginning just to let themselves desintegrate completely over the course of the film. Both are vile and ugly, but while Facets of Love is vile and ugly, period, Sinful Confession somehow manages to turn vileness and uglyness into building blocks for something else - which is still vile and ugly, but also interesting and sometimes even awesome.

Especially the first story: Michael Hui plays a newspaper journalist spying with a telescope on a neighboring apartment building / love hotel, but he's mainly just there as a random anchoring point for a perverted, sweeping, freewheeling, devouring gaze. At one point, one of the naked women caught in the fangs of this gaze gets attacked by a masked man - cut to the director and crew of a porno shoot directing both the man and the woman - another cut to gawking men behind a false mirror also watching the scene. Cinema as a closed circuit, the studio as a boiling pot of sexualized madness. Filmmaking, voyeurism and sexual assault flow into one another until they become undistinguishable.

The second story - about a doctor being trapped by a sneaky vamp - is relatively straightforward and feels like something out of a rather dull commedia sexy. But the routines are somewhat elevated by the rather inspired interplay between Hui and Renee Pai (a young, statuesque actress discovered by Li who committed suicide before finishing another film).

The last half hour descends into utter chaos. A bunch of storylines thrown together without any coherence whatsoever - only to end with a cameo by the director himself, who scams Hui out of a meal and makes fun of smug film critics dismissing his movies - a scene Stephen Teo in a great take on Lis carreer identifies as a "manifestation of the plot that is Li Han Hsiang's life vis-a-vis the cinema. It is a statement of faithlessness (though not of hopelessness) that, alas, recognizes the cinema's propensity for philistinism and commercialism".

In other words: Li Han Hsiang's cinema is all about the power of the false. Maybe in a way his masterpieces of the early 60ies are also films about falseness. So his later work might not be a negation, but rather some sort of insentification of his early work: falseness is spreading, taking over form itself. Sinful Confession, especially its last third, is bad filmmaking at almost any measure - but the force of its messy vulgarity can't be denied.

Friday, March 10, 2017

Father and Son, Allen Fong, 1981

A film literally soaked in the specifics of memory. The long stairway leading to the small, humble apartment high above the city, the view of the vast cityscape from above (two boys pittet against a sea of houses down below as if they were spirits roaming the sky, resting in clouds). Children's games on the schoolyard, hierarchies and their unmaking, identity defined by actions and social relationships ("Are you the one who's scaring people with toads?"  - "Yes"). Every escape from social control feels like the ultimate victory, no matter how small. Objects, meals, toilets.

Simultaneously, this is an earnest, tightly structured, sometimes almost didactic film about the mechanics and value of family. In a way both the boy and the father try to prevent the boy from becoming the father. The action of one always already influences the other, but there's no chance for communication, no escape, just a heartbreaking sense of grief.

For the boy, everything is cinema. But that's mainly a curse, too. His love for illuminated images almost burns down the family home. After being hit by his father, to stop the bleeding a woman puts tobacco on his face - an instant Chaplin mustache. His camera finally falls down and breaks up, just like the leg of the actor in his first amateur film.

Teacher: "What do you want to be?"
Boy: "I want to work at a movie theater."
Teacher: "Why do You want to do that?"
Boy: "So I can watch movies and earn money at the same time"
Well, that's always the idea...

Tuesday, March 07, 2017

Normierung der Wahrnehmung

"Es ist schwer, Moonlight zu sehen, ohne seinen Erfolg mitzudenken und diesen Erfolg als Teil der Rechnung zu betrachten" schreibt Frederic. Das ist in einem banalen Sinn richtig: Was man einmal weiß, kann man nicht mehr willentlich vergessen. Aber man sollte es zumindest versuchen. Denn was passiert, wenn man den Film von seiner Rezeption her wahrnimmt, zeigt der Rest des Textes: Das Vorurteil über das Publikum, beziehungsweise die Hollywoodideologie verhärtet sich zu einem normativen Urteil über den Film.

Der Satz, ab dem ich dem Text nicht mehr vertrauen kann, steht etwas weiter oben: "Es ist die Krux mit Moonlight, dass es im Kleinen immer um die Erfahrung von Alltagsmomenten geht, im Großen aber nie um eine queere Perspektive." Das ist schon sprachlich schief, weil die Satzkonstruktion (im Kleinen... im Großen) Äquivalenz behauptet, während tatsächlich eine negative Bestimmung gegen eine positive ausgespielt wird. Es geht nicht darum, was der Film tatsächlich im Großen, also in seiner erzählerischen Struktur, macht, sondern darum, welchem dem Film äußerlichen Ideal er nicht gerecht wird.

Im Folgenden legt sich der Text dieses (queer cinema-)Ideal exakt so zurecht, dass Moonlight daran scheitern muss, wodurch er erst als "konservativ und konventionell" gebrandmarkt werden kann. Eine "Fassade, die es niederzureißen gilt", eine "Normierung des Schwulen", der "kathartisch erlöst" wird - all das sind keine Beschreibungen des Films (in dem es weder Fassaden, noch Normierung, noch Katharsis gibt), sondern Projektionen.

Sunday, March 05, 2017

Es kommt ein Tag, Rudolf Jugert, 1950 (Filme gegen Deutschland 5)

Der Film beginnt in einem Lazarett, die maladen Soldaten binden sich nachts mit einem Gurt auf den Pritschen fest, auf denen sie liegen. Damit sie nicht hinweggeweht werden von den Erinnerungen. Die Kamera ist freilich von Anfang an agil, unruhig kriecht sie über die Betten hinweg. Als einer ansetzt, eine dieser Kriegsgeschichten zu erzählen, möchten ihn die anderen erst stoppen, aber die Vergangenheit drängt herauf, der Film springt ein paar Jahre zurück, in den Deutsch-Französischen Krieg.

Ein deutscher Soldat Mombour (Dieter Borsche) tötet einen französischen. Er kriecht dann nah an ihn heran, sodass sein Kopf neben dem des Toten zu liegen kommt. Bereits in diesem Bild wird Es kommt ein Tag zum Geisterfilm. Mombour hat sich selbst getötet, die Identität wie auch das Schicksal seines Feindes sind auf ihn übergesprungen, er weiß es nur noch nicht. Vor allem wird er es deutlich später wissen als wir. Der Film ist der melodramatisch zerdehnte Prozess seiner Erkenntnis und unseres tränenseligen Nachfühlens: Mombour muss nicht nur erkennen, was er getan hat, sondern auch, was aus seiner Tat für ihn folgt. Genauer gesagt geht es um einen komplexen Mechanismus der Erkenntnis, der Musik, Liebe und Tod hoffnungslos ineinander verschränkt. (Keineswegs sollte man diese Erkenntnis mit Aufklärung verwechseln; Es kommt ein Tag ist ein regressiver Film - aber ein großartig monströs regressiver!)

Es kommt ein Tag ist im Kern ganz flackerndes Licht und verwehte Melodie. Borsches weiches Gesicht hat weder der todbringenden Melodie, die ihn immer wieder, in verschiedenen Inkarnationen, meist nur als Ahnung, heimsucht, noch den halluzinativen Lichtornamenten, die sich wie ein Schleier über die Welt und eben insbesondere über sein Antlitz legen, viel entgegen zu setzen. Seine Liebesgeschichte mit der Maria-Schell-Figur ist ein bloßer Reflex, eine Mechanik der träumerischen Blicke und der Treppenerotik, dass aus ihr je eine lebbare Beziehung folgen könnte glaubt man in keinem Moment, schon das ausführlich angeteaserte Eifersuchtsgeplänkel mit einem französischen Maler kommt nicht recht in Gang.

Es gibt dann freilich noch Gustav Knuth als Soldat Paul, ein rundlicher Schnurrbartträger, ein liebenswürdig polternder Genussmensch, der den Mägden hinterhersteigt und mit den Franzosen ausführlich Brüderschaft trinkt. Der für alles, was er tut, mehr Zeit und Raum in Anspurch nimmt, als solcher Tätigkeit eigentlich zustehen würde. Ein massiver Klotz, der im Film rumsteht, oder eher rumfläzt, nicht zu übersehen, nur äußerst mühsam aktivierbar, aber im gemächlichen Normalmodus durchaus unterhaltsam. Komplett ungeisterhaft und diesseitig eigentlich... aber auch er stimmt immer wieder auf der Mundharmonika die unglückselige Melodie an. Letzten Endes ist auch er nur ein weiterer Träger des Virus, der am Ende unweigerlich die Welt in Brand setzen wird. Der das liebevoll evozierte französische Dorfleben mit den Waschfrauen am Brunnen, den neugierigen Blicken auf die uniformierten Männer, den spielenden Kindern in eine paranoide Seelenlandschaft verwandelt.

Dass die deutsche Filmgeschichtsschreibung das Kino der 1950er von sich weg halten will (oder zumindest wollte, es gibt glücklicherweise viel Gegenbewegung, momentan), hängt vielleicht weniger mit dem vorgerlichen Eskapismus dieser Filme zusammen; sondern ganz im Gegenteil damit, dass sie mehr von Deutschland offenbaren, als man eigentlich wissen will. Es kommt ein Tag ist ein Meisterwerk - als Ausdruck einer Gesellschaft, die mit sich selbst kein bisschen im Reinen ist.

Saturday, March 04, 2017

Dunkle Fee

Barbara kann man nur übers Meer erreichen; und auch dann muss man noch einmal einen mehrtägigen Fußmarsch quer über eine Insel auf sich nehmen, bis in den hintersten Winkel der Färöer. Da, am Ende der Welt, lebt sie, die von den anderen Insulanern begehrt, verflucht und verteufelt wird, eigentlich ein kleinbürgerliches Leben in einem adretten Landarzthaus, kann sich nicht einmal gegen die Kontrollblicke des Gärtners wehren.

Das Freie, Ekstatische, wild-Romantische und das Beengte, Kleine, Angepasste stehen oft eng beieinander in Barbara. Frank Wisbars Barbara - Wild wie das Meer mag an der Oberfläche ein wenig unterkühlt anmuten, im Kern aber ist das ein hemmungsloses Melodram, ein einziger Gefühlsexzess, der fast unbehauen hineingestellt wird ins noch etwas steife deutsche Nachkriegskino und auch in die noch etwas steife deutsche Sprache der frühen 1960er.

Außerdem ist Barbara ein Heimatfilm. Aber ein Heimatfilm, der die Heimat weit weg von der Heimat verlegt, an den äußersten Rand Europas. Und der der Heimat alles Heimelige entzieht. Aus Wisbars Barbara spricht ein tiefes Unbehagen an der Heimat. Thomas Groh schreibt dazu in der taz: “Der Ideologie von Scholle und Provinz begegnet Wisbar mit äußerster Skepsis.” Wisbars Heimat ist eine Heimat, die vom Mangel und Einengung bestimmt ist - die aber auch jede Chance zum Ausbruch nutzt. Wenn einmal ein spanisches Schiff eine Nacht lang im Hafen ankert, werden neun Monate später gleich vier spanische (in der Sprache des Films) Bastarde geboren.

Barbara ist eine UFA-Produktion, gedreht wurde im Jahr 1961 auf den Färöer-Inseln und in einem dänischen Studio. Die Kritiken waren vernichtend bis indifferent, beim Publikum kam er höchstens mäßig an, danach versank er jahrzehntelang in der Versenkung.

Wiederentdeckt wurde Barbara erst in den letzten Jahren von einer neuen Generation der deutschen Kult-Cinephilie. Sigi-Götz-Entertainment nimmt ihn 2007 in den Kanon des Deutschen Films auf, 2013 läuft er auf dem Hofbauerkongress in Fürth.

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Barbara ist 1961 Frank Wisbars drittletzter Kinofilm. Barbara ist in seinem Spätwerk eine Ausnahme. Wisbar versuchte, noch einmal an seine Vorkriegsfilme wie Fährmann Maria anzuschließen mit einem Film, der ein Frauenschicksal und auch Fragen des Begehrens ins Zentrum rückt. In der letzten Viertelstunde tauchen sogar ein paar Bilder auf, die wieder an den Horrorfilm denken lassen.

Barbara beruht auf einem Roman von Jørgen-Frantz Jacobsen, dem bekanntesten Schriftsteller der Färöer. Der Roman wiederum beruht auf Sagen, die um eine historisch verbürgte Person kreisen: um Benta Broberg, eine Pastorenfrau, die im 17. Jahrhundert mehrere Männer ins Grab gebracht / ins Unglück gestürzt haben soll.

Die Grundzüge der Handlung entstammen dem Roman: Es gibt eine Inselgemeinschaft, in die ein Neuankömmling eintritt, der sich in genau die Frau verliebt, vor der ihn alle warnen. Und dann nimmt das Unheil seinen Lauf.

Aber Wisbars Film verlegt die Handlung aus dem 17. Jahrhundert in die 1950er, zudem ist Barbara keine Pastoren-, sondern eine Arztfrau. Außerdem verschiebt sich, wie Fabian Schmidt anlässlich einer anderen Aufführung des Films in Frankfurt dargelegt hat, der Fokus der Erzählung: Es geht weniger um das, was Barbara tut, als um das, was die Nachbarn denken, dass sie tut. Es geht nicht um eine Sünderin, sondern um die Konstruktion einer Sünderin. Aber gleichzeitig gibt es eben auch eine Barbara jenseits der Konstruktion.

Die Hauptrolle übernimmt Harriet Anderson, bekannt aus Bergman-Filmen, Barbara war ihre erste Rolle in einer nicht-schwedischen Produktion. Im selben Jahr wie Barbara kommt einer ihrer bekanntesten Filme in die Kinos, ebenfalls eine Bergman-Regiearbeit: Wie in einem Spiegel. Interessanterweise gibt es da inhaltliche Parallelen zu Barbara: Auch in Bergmans Film spielt Harriet Andersson eine Frau auf einer Insel, die die Männer an sich verzweifeln lässt und ihrerseits an ihnen verzweifelt.

Stilistisch scheinen die Filme freilich Welten, oder besser Dekaden auseinander zu liegen. Bergman inszeniert seinen Film als ein reduziertes, fast abstraktes Kammerspiel (selbst in den Außenszenen), heute gilt er als eines der Schlüsselwerke des modernistischen europäischen Autorenfilms. Wisbars Film wirkt dagegen erst einmal wie klassisches, fast etwas konservatives Erzählkino. Aber ich glaube, dass auch Barbara eine eigene Form von Modernität hat. Und das liegt nicht zuletzt an Anderssons Figur.

Dabei wurde gerade Anderssons Spiel von der Kritik wenig freundlich aufgenommen; das ist nur in einer Hinsicht nachvollziehbar: Die UFA hat ihr eine leider recht leblose Synchrostimme verpasst, was umso ärgerlicher ist, als die Schauspielerin wohl extra für Barbara deutsch gelernt hat.

Das Besondere an der Figur und auch an Anderssons Schauspiel wird sichtbar, wenn man Wisbars Film mit der zweiten Verfilmung des Stoffes vergleicht. 1997 hat der dänische Regisseur Nils Malmros seine Version von Barbara gedreht. Die bleibt näher beim Roman, macht aus Barbara wieder eine Pfarrersfrau und verlegt die Handlung ins 17. Jahrhundert. Malmos’ Film ist ebenfalls sehenswert, aber bei ihm ist die Hauptfigur, da gespielt von Anneke von der Lippe, deutlich weniger interessant.

Bei Malmros ist Barbara ein Gefühlsmensch, sie folgt ihrem Herzen, ihre Authentizität zerbricht am Zynismus der Welt um sie herum. Wisbars Barbara dagegen ist, zumindest zu Filmbeginn, selbst eine Zynikerin, oder wenigstens eine Spielerin. Sie macht sich über die Männer lustig, die um sie herumschwirren. Auch später bestimmt sie die Regeln der Liebe, soweit ihr das in einer patriarchal organisierten Gesellschaft möglich ist. Bezeichnend ist die Verführungsszene, in der sie sehr genau kontrolliert, was und wieviel von ihr der Arzt zu sehen bekommt und berühren darf.

Die Kritiker hatten vermutlich erwartet, dass sich die auf dem Filmplakat monströs anmutende Barbara entweder als ein heißblütiges Teufelsweib oder als ein sanftes Opferlamm erweist. Anderssons Barbara aber lässt sich mit solchen Klischees nicht begreifen. Gerade, dass man die Haupfigur nie ganz zu fassen bekommt, dass sie nie zu einer psychologisch und auch handlungslogisch runden Figur wird, macht sie so fasznierend.

Barbara stellt nicht nur die Filmkritik, sondern auch die Figuren im Film vor ein Rätsel. Schön zu sehen ist das in einer Dialogpassage, ind er sich zwei Männer über Barbara unterhalten. “Sie sehen die Dinge zu juristisch,” meint der eine. “Sie sehen die Dinge zu mathematisch,” antwortet der andere. Juristisch und mathematisch kommt man Barbara schon einmal nicht bei. Man könnte ergänzen: moralisch, medizinisch und religiös klappt es auch nicht.

Um Barbara herum gruppiert sich ein recht großes Ensemble. Erwähnenswert sind vor allem zwei Männerfiguren, die interessanterweise beide eine selbstzerstörerische Ader haben.

Bei dem blonden Arzt Paul, der zu Filmbeginn auf der Insel eintrifft und dann Barbara kennenlernt, offenbart sich die nur langsam. Sein Darsteller Helmuth Grien ist eine Entdeckung von Wisbar, er hatte seinen ersten Auftritt im Vorgängerfilm Fabrik der Offiziere. In Barbara ist er erst einer der kalten, harten Männer, die von Frauen ganz selbstverständlich Unterordnung verlangen, noch ganz ein Geschöpf der 1950er. In der letzten Viertelstunde bricht dann etwas ganz anderes aus ihm hervor. Das Abgründige in seinem Spiel nimmt Griens bekannteste Rolle vorweg, den Aschenbach in Viscontis Die Verdammten.

Das Gerücht über Barbara, der Dorfklatsch, nimmt in einer anderen Rolle Gestalt an: Der Stoffhändler Gabriel wird von ihr wieder und wieder zurückgewiesen und zieht deshalb in einem Fort über sie her. Gespielt wird er von Herbert Fleischmann in seiner ersten Kinorolle. Der legt ihn als einen sadistischen Kleinbürger an, der ganz offensichtlich seinen Selbsthass auf andere projiziert. Eigentlich steckt schon das halbe Fassbinder-Kino in dieser Figur.

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Ein Reiz des Films dürfte darin bestehen, dass es in ihm eine nicht auflösbare Spannung gibt zwischen auf der einen Seite dem sehr gegenwärtigen und desillusionierten Gesellschaftsbild und auf der anderen Seite einer erzählerischen und auch affektiven Grundstruktur, die einer anderen Zeit entstammt, eben dem 17. Jahrhundert.

Dieser zweite Aspekt manifestiert sich zum Beispiel in der Rahmung der Erzählung, die eine zirkuläre, vormoderne Zeitlichkeit einführt und aus Barbara doch wieder eine Art Märchenfigur macht. Eine Art dunkle Fee, die einen Fluch in sich trägt, den sie in der letzten Einstellung des Films an das Kinopublikum, an uns, weitergibt.