Die vielleicht schönste Szene im Disney-Zeichentrickklassiker Dumbo (1941) beginnt als Halluzination. Der junge Elefant des Titels und sein Begleiter, die Maus Timothy, trinken Wasser aus einem Eimer, in den kurz voher, von den beiden unbemerkt, eine noch halbvolle Flasche Champagner geworfen worden war. Der Schauwein macht nicht nur die beiden Freunde betrunken, sondern er bildet auch Blasen, die sich bald verselbständigen, Dumbo und Timothy als Sitzkissen oder Lehne dienen und schließlich ihre Form zu wandeln beginnen. Nicht mehr runde, wabernde Kugeln steigen in die Höhe, sondern Quader, Wolken, bald noch deutlich komplexere Gebilde: rosarote Elefanten aus Schaum.
Wenn die Champagnerblasen Elefantengestalt annehmen und sich dabei nicht nur bizarr verformen, sondern außerdem ein Eigenleben entwickeln, verändert sich auch der filmische Raum. Genauer gesagt: er teilt sich. Dumbo und Timothy befinden sich, so ist jedenfalls anzunehmen, weiterhin in einer einigermaßen plastischen, restrealistischen Cartoonwelt, das Elefantenballett hingegen entfaltet sich vor einer weitgehend abstrakten Kulisse. Beziehungsweise: es stellt einen eigenen Raum her, der sich beständig transformiert, in einem Moment komplett von amorphen Farbklecksen überschwemmt ist, im nächsten wieder von elefanten- oder auch schlangenförmigen Kreaturen bevölkert wird, die sich vervielfältigen, verformen, verfärben, Tänze aufführen auf einer zumeist komplett planen, schwarzen Fläche, die mal aus Wasser, mal aus Eis, mal aus Schnee zu bestehen scheint.
Kurzum: Einige Minuten lang löst sich der Film von allen (im Zeichentrickfilm ohnehin komplett selbstauferlegten) Realismusbeschränkungen, verliert sich im Spiel der Formen und Figurierungen. Erst wenn der Rausch ausklingt, stellt sich die einigermaßen stabile Ausgangssituation wieder her, die rosaroten Elefanten sinken aus der Sphäre der befreiten Fantasie herab, werden zu Wolken am Horizont eines idyllischen Landschaftspanoramas. So schreibt sich der individuelle Exzess des Rausches, das Prickeln des Champagners auf der Zunge, in die Welt ein, als eine kleine, aber - in einem Film wie Dumbo, in dem alles Innere, jeder Gedanke, jede Emotion sich als schöner Schein veräußert - entscheidende ästhetische Differenz. Natürlich heißt das andersherum: Im nüchternen Zustand haben wir keinen Zugriff auf diese andere, entgrenzte, verflüssigte oder gar gasförmige Weltwahrnehmung, wir müssen uns mit der Konstanz von Materie anfreunden.
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Die soeben im Kino angelaufene neue Version der Dumbo-Geschichte, von Tim Burton inszeniert, ist ein Realfilm. Zumindest nominell; der großohrige Elefant im Zentrum stand nie vor einer Kamera. Er ist, wie große Teile des Dekors, komplett am Computer entworfen worden. Die Menschen hingegen, die ihn bestaunen, bemitleiden, verfolgen, im Fall von Eva Green sogar auf ihm durch die Lüfte reiten, sind aus Fleisch und Blut. Insofern ist die Welt des neuen Dumbo von Anfang an hybrid, in sich gespalten; allerdings sind die Bruchstellen in der Postproduktion so gründlich vernäht, dass eindeutige Demarkierungen - wie im älteren Film der Übergang vom zentralperspektivisch organisierten Illusionsraum zur rauschmittelinduzierten Abstraktion - nicht ohne Weiteres auszumachen sind.
Das gilt auch für jene Szene in Burtons Dumbo, die die Nummer mit den rosaroten Elefanten wiederaufgreift - und die gleichwohl auch im Remake zu den schönsten Passagen gehört. Wieder schaut ein Elefant Elefanten an, allerdings diesmal nicht aufgrund von Alkoholgenuss. Diesmal sind die Seifenblasen Teil einer Zirkusvorstellung. Akrobatinnen lassen sie in der Zirkuskuppel aufsteigen, bestaunt wird das Spektakel vom Publikum auf den Zuschauerrängen - und auch von Dumbo, der, am Rand der Manege stehend, gebannt nach oben blickt und verfolgt, wie die Blasen sich teilen, wie sie sich, schimmernd und wabernd, zu Seifenelefanten zusammensetzen und schliesslich, wie 1941, zu tanzen beginnen.
Gleich mehrmals wird in dieser Szene Dumbos Auge in Großaufnahme gezeigt. In ihm spiegelt sich, perspektivisch verzerrt, die Seifenblasenchoreographie. Die rosaroten Elefanten in Dumbo 2019 sind nicht bloße Fantasie, sondern in der perzeptiven Wirklichkeit der Hauptfigur verankert. Anders oder zumindest prägnanter als im älteren Film stellt sich insofern die Frage nach dem Verhältnis der beiden Ebenen zueinander. Wir sehen, dass Dumbo die rosaroten Elefanten sieht, und fragen uns deshalb: Was sieht er in ihnen? Was sieht der digitale Elefant, wenn er auf seine ebenfalls digitalen Ebenbilder schaut? Sieht er in ihnen das, was sie ihm ähnlich macht (auch sie sind Elefanten, auch sie können fliegen), oder das, was sie von ihm trennt (sie sind fast schon mathematisch perfektionierte Modelle von Elefanten, die sich in einem abstrakten Raum frei entfalten können, im Vergleich zu ihnen ist der in unserer materiellen Welt gefangene Dumbo schrecklich plump und tollpatschig)?
Dumbo wird wenig später selbst Teil der Zirkusvorführung werden. Die rosaroten Elefanten nehmen seinen eigenen Auftritt vorweg. Vielleicht machen sie ihm außerdem Mut und helfen ihm, ebenfalls abzuheben; vielleicht machen sie ihm aber auch Angst in ihrer eleganten Souveränität. Wir wissen es nicht. Sicher ist hingegen: Im Kino der Gegenwart taugen selbst rosarote Seifenblasenelefanten nicht mehr als Markierungen einer reinen ästhetischen Differenz. Jedes Bild ist allseitig von Sinn umstellt.