Tuesday, December 31, 2019

2019

1. Il traditore (Marco Bellocchio)
2. The Irishman (Martin Scorsese)
3. The Beach Bum (Harmony Korine)
4. Transit (Christian Petzold)
5. Dragged Across Concrete (S. Craig Zahler)
6. Ask, büyü, vs (Ümit Ünal)
7. Ich war zuhause, aber (Angela Schanelec)
8. Fleischwochen (Joachim Iseni)
9. Le jeune Ahmed (Dardenne Brothers)
10. Ad Astra (James Gray)

I also think a lot about (unranked)
Dead Souls (Wang Bing), La Flor (Mariano Llinas), The Mule (Clint Eastwood), Detective Dee: Four Heavenly Kings (Tsui Hark), High Life (Claire Denis), Hanne (Dominik Graf), Bewegungen eines nahen Berges (Sebastian Brameshuber), Once Upon a Time in Hollywood (Quentin Tarantino), John Wick: Chapter 3 (Chad Stahelski), Where'd You Go, Bernadette (Richard Linklater), The Travelling Cat Chronicles (Koichiro Miki), 6 Underground (Michael Bay), Searching Eva (Pia Hellenthal), Der goldene Handschuh (Fatih Akin), 47 Meters Down (Johannes Roberts), Last Christmas (Paul Feig), Domino (Brian de Palma), Una primavera (Valentina Primavera), It's Me (Eckhart Schmidt)

Thursday, November 28, 2019

Konfetti 48: Konfetti


Zum Abschluss des Blogs (=des Konfetti-Blogs, nicht des Dirty-Laundry-Blogs) kehre ich zu seinem Anfang, beziehungsweise seinem Titel zurück: “[D]ieses Blog”, schrieb ich im ersten Eintrag, wird “ein Jahr lang den Versuch unternehmen, das Kino so anzuschauen, als wäre es Konfetti”. Ich weiß nicht so recht, ob mir das gelungen ist. Ich habe zwar stets versucht, mich von meinem Interesse an den kleinen Sensationen, den Partikularitäten des Kinos leiten zu lassen, von meiner spontanen Faszination für einzelne Bilder, Szenen, Motive; aber vermutlich bin ich doch oft zu schnell von den Sensationen übergewechselt zu den Begriffen, an denen man zwar, wenn man über Filme schreibt, eh nicht vorbeikommt, die aber idealerweise nicht als statischer Sortierkasten für die erst einmal ungerichtete, oder wenigstens produktiv trübe Erfahrung fungieren, sondern stets ihrerseits von den Sensationen affiziert und auch verändert werden sollten.


Nicht erwähnt hatte ich im ersten Eintrag, dass der Titel des Blogs nicht nur auf grundsätzliche Überlegungen verweist, sondern, für mich selbst zumindest, auch auf einen einzelnen Film, auf einen Lieblingsfilm rekurriert: auf Kathryn Bigelows Strange Days, der in seinem Finale die vielleicht spektakulärsten Konfettibilder der Filmgeschichte aufzubieten hat. 


Strange Days ist ein moderner Klassiker des Science-Fiction-Kinos, eine politische Dystopie, die allerdings nur ein paar wenige Jahre in die Zukunft projiziert wird: 1995 produziert, spielt Bigelows bis heute aufwändigste Regiearbeit in den letzten Tagen des alten sowie den ersten Minuten des neuen Jahrtausends und ist gesättigt mit den Diskursen der damaligen Gegenwart. Cyberpunkmotive verweisen auf eine Zeit, in der die Digitalisierung noch als eine Disruption der Gesellschaft von unten beschrieben wurde, als ein Spielfeld für Außenseiter und moderne Freibeuter; außerdem geht es um Rassismus und Polizeigewalt, die Los Angeles Riots des Jahres 1992 werden evoziert - das fiktive L.A., in dem der Film spielt, befindet sich in einem permanenten bürgerkriegsähnlichen Ausnahmezustand - und der Tod des fiktiven Rappers Jeriko One nimmt den Tod des nichtfiktiven Rappers Tupac Shakur ein Jahr später vorweg. 


Wenn es in dem Film dennoch eine genuin utopisches Moment gibt, also etwas, das über die Extrapolation von Gegenwart hinausgeht, dann manifestiert es sich nicht in der Handlung, sondern im atemlosen visuellen Stil, in einer verflüssigten Montage, die nicht mehr analytisch zwischen objektiver und subjektiver Zeit trennt, sowie, eben, in einem Ausstattungsdetail: Im Finale des Films ergießt sich über eine Silvesterparty auf den Strassen von Los Angeles ein nicht enden wollender Konfettiregen. Die Leinwand ertrinkt regelrecht in dem durch die Luft wirbelnden bunten Papier, das mit keinem einzigen Dialogwort erwähnt wird, aber in der letzten Viertelstunde fast jedes einzelne Bild dominiert: Konfetti als Lichtornament vor schwarzem Himmel, Konfetti in action-painting-artigen Arrangements auf dem Boden, vor einer gigantischen Videoleinwand flatternde Konfetti, die fast nach elektronischen Störsignalen ausschauen, das konfettiartig gesprenkelte, spiegelbesetzten Kleid von Juliette Lewis, von Angela Bassets nackten Füßen aufgewirbeltes Konfetti während einer Verfolgungsjagd, ein einzelnes, grünes Konfetti, das an Ralph Fiennes’ Rücken klebt... 


Die Konfetti sind einerseits die konsequente Fortführung und Finalisierung eines visuellen Konzepts, das von Anfang an auf Reizüberflutung angelegt ist. Strange Days überfrachtet den Bildraum systematisch, auf mehreren Ebenen: Die Exzesse der Ausstattung werden verdoppelt durch die Exzesse der nimmermüden Kamerabewegung, verdreifacht durch die hochgradig artifizielle Lichtsetzung und vervierfacht durch die Kakophonie des vielspurigen Sounddesigns. Im Zeitalter digitaler Medien ist diese Form des audiovisuellen Exzesses quantifizierbar: In seiner Besprechung einer BluRay-Veröffentlichung des Films weist Andreas Oswald auf deren außergewöhnlich hohe Datenrate hin und führt als Beleg an: “So zeigt selbst der kolossale Konfetti-Regen beim Showdown keinerlei Kompressionsartefakte (...).” Konfettis im Film sind, unter digitalen Bedingungen, Informationsoverkill. Beziehungsweise sind sie informationstechnisch extrem uneffizient (und eben deshalb können sie, technologisch betrachtet, auch als eine Art Leistungsnachweis fungieren): tausende farbliche bewegliche Elemente, die Rechenleistung verschlingen und dabei kaum einen “inhaltlichen”, erzählerischen Mehrwert haben. Konfetti sind Rauschen, aber schönes Rauschen.


Andererseits verleihen die Konfetti Strange Days dennoch eine neue Qualität, die sich in meiner Wahrnehmung zunächst als eine Art frenetisch-rauschhafte Hochstimmung manifestiert, als eine positive Überreizung. Die bis dahin getrieben düstere Stimmung des Films hellt sich auf, aber nicht etwa, weil die Spannung abfallen würde. Eher werde ich im Konfettiregen in einen Zustand der fiebrigen Euphorie, der gesteigerten Aufmerksamkeit versetzt. Das ornamentale, barocke Moment des Films entfunktionalisiert und entspezifiziert sich, die Welt wird bunt, ohne Grund, und sie wird außerdem weniger Welt. Das bunte Flirren entfremdet nicht nur mich, sondern auch die Figuren im Film vom fiktiven Los Angeles. Alle gemeinsam werden wir aus dem raumzeitlichen Kontinuum der Diegese gerissen und gewinnen gleichzeitig an Glamour. Im Konfettiwirbel wird jedes Gesicht zum Starschnitt.


Es gibt im Verlauf dieser Schlusssequenz eine Einstellung, die die Feier von hoch oben zeigt, gefilmt von einer Kamera, die ein gutes Stück über den Hochhausdächern platziert ist. Aus dieser Perspektive sehen die in den Strassenschluchten feiernden Menschen selbst aus wie Konfetti. Beziehungsweise: Menschen und Konfetti, Substanz und Ornament sind nicht mehr voneinander zu unterscheiden. Das könnte ein tieferer Sinn der Szene zu sein: wir alle sind Konfetti oder werden zumindest zu solchem, in der Zukunft, im neuen Jahrtausend. Als Datenpunkte in den Informationsnetzwerken global agierender Konzerne gleichen und unterscheiden wir uns voneinander wie ein Papierschnipsel vom anderen. 


Konfetti als Präfiguration der digitalen Massen- und Kontrollgesellschaft? So ganz geht auch diese Lesart nicht auf, ihr widerspricht das instabile, flatterhafte des durcheinanderwirbelnden Buntpapiers. Auch das manifestiert sich besonders deutlich in den Aufsichten, die Mensch und Konfetti amalgamieren: Die flimmernde, unregelmäßige Textur, als die die feiernde Menge aus der Distanz erscheint, ist dem analogen Filmkorn näher als dem digitalen Pixel und tatsächlich lässt sich der rauschhafte Sog von Strange Days und insbesondere dieser Schlusssequenz in vollem Umfang nur während einer 35mm-Projektion des Films erfahren. Ähnlich lässt sich auch die ästhetische Struktur von Konfetti beschreiben: sie sind, zumindest so lange sie sich in der Luft befinden, nie mit sich selbst identisch, jede einzelne Konfettikonfiguration ist einmalig, unwiederholbar. Die Konfetti und das Filmbild betten die Figuren und meinen Blick weich, nicht hart. Das Massenornament der Konfetti verschluckt den Einzelnen nicht, es beschützt ihn. Das Konfettikino vermag auch und gerade im Zentrum des wildesten, überdrehtesten Spektakels Inseln der Intimität zu schaffen. Meine Lieblingseinstellung in Strange Days zeigt Angela Bassetts Gesicht, von vereinzelten Konfetti und Lichtreflexionen umflort, im Dunkel einer Limousine verschwindend.

Konfetti 47: Kolben

Eine kleine Theorie des Kinos entwirft das Musical Million Dollar Mermaid (1952; Regie Mervyn LeRoy) an einem Strand bei Boston. Der Film zeichnet die Karriere des australischen Schwimm- und Filmstars Annette Kellerman, im Film gespielt von ihrer popkulturellen Erbin, dem amerikanischen Schwimm- und Filmstar Esther Williams, nach. Zentral geht es in Million Dollar Mermaid um die Popularisierung und Kommerzialisierung einer Körperlichkeit, die stets gleichzeitig sportlicher und erotischer Natur ist und die ihre spektakulärste Ausprägung in der letzten halben Stunde des Films in einer Reihe von Wasserballettnummern - Choreographie: Busby Berkeley - erhält. Hier hat sich der Körper ganz und gar in visuelle Attraktion, beziehungsweise in sein eigenes Bild verwandelt.

Mindestens ebenso interessant ist jedoch eine weniger exzessive Szene früher im Film, eben jene am Bostoner Strand. Wir befinden uns noch am Beginn von Kellermans Karriere - und, historisch gesehen, im frühen zwanzigsten Jahrhundert, in einer Zeit, in der sich das Prinzip der spektakulären Körperlichkeit noch nicht voll entfaltet hat. Die Badegäste sind altmodisch-züchtig gekleidet, gemäß einer puritanischen Körperfeindlichkeit; die Männer zeigen immerhin an den Knien und Armen Haut, die Frauen bedecken bis aufs Gesicht alles. Kellerman wird, wenn sie den Strand betritt, buchstäblich zur Botschafterin des Neuen, beziehungsweise konkreter: Sie wird zur Botschafterin des One-Piece-Bathing-Suit, in dem sie an der Seite ihres Managers/Promoters James Sullivan (Victor Mature), der ihr Auftauchen bewusst als Provokation geplant hat, über den Sand stolziert.

Noch nicht einmal in voller Pracht. Sullivan hat Kellerman eine Art Cape umgehängt - um den kalkulierten Aufruhr in Grenzen zu halten, beziehungsweise um die körperliche Unversehrtheit seines Schützlings zu gewährleisten. Zur neuen Ordnung des spektakulären Körpers gehört schließlich auch ein Verhaltenskodex, der auf der Trennung von Blick und Aktion beruht: Anschauen ist erlaubt, Anfassen nicht. Freilich ist das Cape vorne offen und gibt den Blick auf die nackten Beine der Sportlerin freigibt. Diese Beine sind es, die zur eigentlichen Triebkraft des Neuen werden. Ihre rhythmischen, kraftvollen Bewegungen verändern die Welt, transformieren sie von einer statischen in eine dynamische Ordnung.

Der Wandel wird direkt im Bild nachvollzogen. Wenn Kellerman und Sullivan den Strand betreten, sind sie erst einmal nur Teil einer Strandtotalen. Aus dem Hintergrund des Bildes bewegen sie sich nach vorne, auf die zunächst noch unbewegte Kamera zu, und in dem Maße, in dem die beiden filmisch von ihrer Umgebung isoliert, zum dominierenden Element der Einstellung werden, verwandelt sich ihr Auftritt in einen Skandal. Sind die Irritationen zunächst nur auf der Tonspur wahrnehmbar, als eine langsam anschwellende Empörungskakophonie, so werden die anderen Strandbesucher_innen, wenn Kellerman und Sullivan damit beginnen, sich den Bildraum selbstbewusst anzueignen, in eine zunehmend auch sichtbare, motorische Unruhe versetzt. Sie drehen sich zu den beiden um, springen auf, einige beginnen, ihnen zu folgen.

Sobald die beiden im Zentrum des Bildes angekommen sind, beziehungsweise in einer Halbtotalen, die insbesondere Kellerman in voller Größe, von Kopf bis Fuß, vermisst, setzt sich auch unser Blick in Bewegung. Zunächst fährt die Kamera einige Sekunden vor den beiden her, lässt sich sozusagen mitreißen vom allgemeinen Vorwärtsdrang, dann folgen Aufnahmen der zunehmend agitierten Umgebung. Zwei Einstellungen lang befinden wir uns sozusagen in dem Strudel, den die skandalöse Körperlichkeit auslöst. Zwei Einstellungen lang schlingert die Kamera an Badegästen vorbei, die, wie durch einen Zaubertrick aktiviert, in Richtung Kellerman blicken und streben.

Doch der entscheidende Schnitt kommt erst noch: ein Sprung in die Nahaufnahme, der auf Kellermans Beine fokussiert. LeRoy filmt das von der Seite, die Kamera schwebt also parallel zu ihren Schritten über den Boden. Ganz direkt wird die Körperbewegung Antriebskraft des filmischen Bildes. Gleichzeitig betont das enge Framing der Einstellung den gleichförmigen, mechanischen Aspekt dieser Bewegung. Die Beine sind nicht mehr Teil eines autonomen Körpers, sondern werden zu zwei organischen Kolben, zu Teilen, beziehungsweise zum Kraftmoment einer Maschine, die alle anderen Körper zu bloßen Zuschauern und Reagierenden degradiert.

Beziehungsweise, und hier kommt endlich die kleine Theorie des Kinos ins Spiel: Die Beine werden zu jenem Mechanismus, der in analogen Filmprojektoren den Film zum Erscheinen bringt und der historisch erst die technisch-sozialen Voraussetzungen für die Spektakularisierung des Körpers geschaffen hat. Esther Williams’ Beine sind, anders ausgedrückt, mindestens für die Dauer dieser Nahaufnahme gleichzeitig spektakulärer Inhalt und technoökonomisches Formprinzip des Bildes. In der Kombination aus Zirkularität und Voranschreiten ähnelt ihre Bewegungsform jenem System von Zahnrädern und Riemen, das dafür sorgt, dass der Filmstreifen 24mal in der Sekunde weitertransportiert, aber auch 24mal in der Sekunde wieder zum Stillstand kommt. Ein Zyklus, der sich einerseits streng mechanisch wiederholt, der aber andererseits gerade nicht in Stillstand resultiert, sondern permanent Fortschritt und Veränderung produziert, Schritt für Schritt, Bild für Bild.











Konfetti 46: Scharnier

Liebe und Musik - im Laufe eines knappen Jahres Konfetti hat sich dieser Zusammenhang als ein doppeltes Grundmotiv erwiesen, das in vielen Texten dieses Blogs auf die eine oder andere Weise verhandelt wird. Die Liebe und die Musik gehören zusammen, zumindest im Kino. Aber sie stehen, und eben das zeichnet sie als genuine Medien des Kinematografischen aus, in keinem fixen, vorab festgelegten Verhältnis zueinander. Über die ganze Filmgeschichte hinweg kombinieren Filme ganz unterschiedlicher Genres und Machart die beiden Bestandteile des Musik-Liebe-Komplex immer wieder neu, mal werden sie gegeneinander ausgespielt, mal fließen sie ineinander. Mal “untermalt” die Musik die Liebe, mal verleiht umgekehrt die Liebe der Musik Schwung.

Helmut Käutners Wir machen Musik (1942) ist ein Film, der diese kinematographische Multivalenz von Liebe und Musik direkt zum Thema macht. Den Titel könnte man ausbauen zu: Wir machen Musik - und lieben uns. Die beiden einander als Liebesobjekt erwählenden Hauptfiguren sind Berufsmusiker: Er, Karl Zimmermann (Viktor de Kowa), würde am liebsten Opern komponieren, sie, Anni Pichler (Ilse Werner), schreibt und singt Schlager. Die Geschlechterdifferenz bildet sich auf eine künstlerisch-kulturelle ab und auch wenn letztere im Finale ziemlich eindeutig in Richtung Unterhaltungsmusik aufgelöst scheint (der Film läuft auf eine aufwändig gestaltete Revuenummer zu, in der ein überdimensionierter Konzertflügel als Showbühne fungiert), wird die Frage, wie (und ob) sich die Liebe musikalisieren, beziehungsweise die Musik romantisieren lässt, in jeder einzelnen Szene wieder neu und stets etwas anders beantwortet.

Nachdem die beiden Hauptfiguren ziemlich genau in der Mitte des Films heiraten, stehen im Wohnzimmer, gewissermaßen als Pendant zum Ehebett, nicht mehr ein, sondern zwei Klaviere, auf denen Anni und Karl, in einem Moment des ehelichen Überschwangs, Rücken an Rücken sitzend, ein vierhändiges Stück aufführen, das in einen Kuss übergeht; ein regelrechter musikalischer Orgasmus. Wenig später allerdings hängt, aufgrund eines typischen musikkomödiantischen Missverständnisses, der Haussegen schief und nach einem direkt neben dem Musikinstrument ausgefochtenen Streit bleibt nur noch einer, er, am Klavier sitzen.

Es folgt die virtuoseste Szene des Films: eine Trennungsdramaturgie, in der sich Musik und Liebe mit fast schon mathematischer Präzision verfehlen. Es beginnt damit, dass sich Mann und Frau voneinander wegdrehen. Er wendet sich seinem Klavier zu, sie dem Schlafzimmer, das vom Wohnzimmer nicht durch eine Tür, sondern durch einen Vorhang abgetrennt ist - ein Hinweis auf die theaterartig-performative Natur des Beziehungsspiels. Während er versuchsweise ein paar Akkorde anschlägt und anfängt, quasi als Begleitung seines Spiels in einem bereits deutlich weniger agitierten Tonfall laut über die plötzlich krisenhafte Beziehung nachzudenken, packt sie hastig ein paar Kleider in einen Koffer.

Währenddessen wechselt die optische Perspektive. Karl wird nun nicht mehr in der Rück-, sondern in der Vorderansicht gefilmt, außerdem ist das Framing weiter und die Kamera gleitet solange um ihn herum, bis der Eingang zum Schlafzimmer, in dem Anni sich zu schaffen macht, genau hinter ihm zu sehen ist. Sie tritt schließlich, während Karl ganz in sein Klavier und seinen Monolog vertieft ist, aus dem Schlafzimmer, also aus dem intimsten Beziehungs- und Liebesraum, hervor, in Reisemontur und mitsamt gepacktem Koffer. Einmal noch schneidet der Film auf sie, auf ihren resignierten Blick in Richtung des Ehemanns, der nicht merkt, dass er längst nur noch ein musikalisches Selbstgespräch führt, dann schlägt sie die Augen nieder und strebt der Wohnungstür entgegen.

Die Kamera ist derweil wieder bei Karl, und sie dreht sich mitsamt Annis Bewegungen kreisförmig um den Klavierspieler und dessen Instrument. Der musizierende Karl ist das Scharnier, um das das Bild rotiert - er fungiert als das narzisstisches Zentrum der Szene, paradoxerweise entgleitet ihm aber gerade deshalb, gerade weil er sich als der Mittelpunkt der Welt geriert, die Kontrolle. Sein Redefluss - der sich die ganze Szene über nie ganz zum rhythmischen Sprechgesang konkretisiert, aber sich gleichzeitig nicht vom Klavierspiel lösen möchte, nicht ins Feld der dialogischen Alltagskommunikation überwechseln will, der in diesem Sinne ständig zwischen musikalisierter Rede und der Sprache der Liebe changiert - mündet schließlich doch noch in einer direkten Ansprache: “Du musst mir natürlich entgegenkommen, naja, das ist ja klar, nicht… Aber ich werde Dir auch entgegenkommen… Wir wollen uns beide entgegenkommen… Anni, wir könnten uns vielleicht auf der Höhe der Schlafzimmertür treffen”.

Karl wendet, wenn er diese Worte spricht, den Kopf vom Klavier weg in Richtung Vorhang; allerdings nicht, wie er glaubt, in Richtung Anni. Ganz im Gegenteil dreht er sich nur immer weiter von ihr weg, da sie gerade dabei ist, auf der anderen Seite des Klaviers die Wohnung zu verlassen. Wenn er die letzten Sätze spricht, hat sie die Tür bereits hinter sich geschlossen, seine Worte zielen ins Leere. Stattdessen blickt er, wenn er sich umdreht, fast direkt in die Kamera, die sich inzwischen so weit um den Pianisten herum gedreht hat, dass sie nun ungefähr dort positioniert ist, wo Karl Anni vermutet. Die Kamera hat ihren Platz eingenommen und registriert an ihrer Statt sein Versöhnungsangebot.











Hier offenbart sich ein entscheidender Unterschied zwischen Musik und Liebe: Musizieren kann man notfalls allein, zur erfüllten Liebe gehören zwei. Der Versuch, Liebe und Musik unilateral zu synchronisieren, ist gescheitert. Freilich nur vorerst. Als beschwingter Revue- und, das sei bei aller filigranen Liebessemantik nicht vergessen, Durchhaltefilm kann uns Wir machen Musik das Happy End nicht verweigern. In der letzten Szene kehrt Karl aus dem Theater, in dem er gerade Annis Revue bewundert hatte, in seine Wohnung zurück, die er geschmückt und herausgeputzt vorfindet. Staunend steht er vor dem ungewohnten Anblick, als hinter ihm Anni erscheint - sie tritt durch eben jenen Vorhang hin zum Schlafzimmer, hinter dem er sie früher im Film zu Unrecht vermutet hatte und schlingt die Arme um ihn. Sie ist zu ihm zurückgekehrt - zu ihren Bedingungen.


Konfetti 45: Dirigentin

“Wenn ich dirigier’ / auf dem Podium / jedes Stückerl von mir / liebt das Publikum”, singt die Komponistin Mary von Wollheim (Rosy Borsody) in Stefan Szekelys Ball im Savoy (1935). Die Satzstellung führt (zumindest vorderhand) in die Irre. Nicht Mary ist es, die mit Haut und Haaren das Publikum liebt; vielmehr wird sie selbst, wenn sie sich auf der Bühne exponiert, zur genau inspizierten Attraktion. Deshalb hatte sie vor dem Auftritt auch ein Problem, wegen eines Unfalls, der ihr Abendkleid in Mitleidenschaft gezogen hatte. “Ich muss dirigieren und bin hinten nackt”, meint sie daraufhin zu einem Hotelangestellten. Das ist natürlich ungünstig, schließlich stehen Dirigenten im Allgemeinen mit dem Rücken zum Publikum. Das also in diesem Fall ein Paar “Stückerl” zuviel zu Gesicht bekommen würde.

Wenn das Dirigieren in Ball im Savoy zu einer Frage der Sichtbarkeit wird (und also zu einer Attraktion eigenen Rechts; vorderhand hat es schließlich den Zweck, etwas Anderes effektiv in Szene zu setzen, und zwar im Normalfall keine visuelle, sondern eine akustische Sensation), hängt das dann damit zusammen, dass diesmal nicht, wie sonst meistens, ein Mann, sondern eine Frau zu dirigieren sich anschickt? Letztlich bleibt das in der Schwebe. In einem der Operettentradition verpflichteten Film wie Ball im Savoy verdichten sich Geschlechter- und andere Diskurse nicht thesenhaft, sondern spielerisch. Jedenfalls ist die Lösung, die Mary für ihr Problem findet, interessant: Nachdem sie zunächst mit dem Gedanken spielt, ihr gewagtes Outfit zum neuesten modischen Schrei umzudeklarieren, hat sie eine bessere Idee und bittet ihren Gesprächspartner, den Hotelangestellten, um dessen Frack. Sie betritt die Bühne in der Berufskleidung eines männlichen Dirigenten. Die Provokation, die ihre Weiblichkeit in dieser Situation darstellt, wird dadurch nur noch eklatanter.

Die zentrale Pointe besteht allerdings darin, dass Mary, sobald sie einmal auf der Bühne steht, gar nicht dirigiert. Jedenfalls nicht im strengen Sinn des Wortes. Sie inszeniert sich selbst durchaus als eine Art Impressario: Sie ist nicht nur eine Performerin, die ein ihr vorgängiges Werk interpretiert, sondern vollumpfänglich die Schöpferin und auch der Inhalt des Spektakels, das sie vorführt. Aber in erster Linie singt sie ein Lied darüber, wie das ist, wenn sie dirigiert, und sie tanzt, dem Publikum zugewandt. Genauer gesagt trägt sie einen selbstkomponierten Schlager vor, dessen Text von einem Modetanz handelt, den sie gleichzeitig vorführt. Keineswegs ist das eine säuberlich durchgearbeitete Choreografie. Vielmehr hüpft Mary auf der Bühne herum. Fröhlich, energisch, nicht unelegant, aber schon auch ein wenig erratisch.

Gegen Ende der Nummer ein Schnitt: Die Kamera nimmt Marys Vorführung nicht mehr frontal auf, mehr oder weniger aus Publikumsperspektive, sondern direkt von oben. Wir sehen in dieser Aufsicht nicht nur Mary, sondern außerdem eine Gruppe von Tänzerinnen, die um die singende Dirigentin herum einen Kreis bilden. Das Bild, das dabei entsteht, lässt sich sofort zuordnen: Die Bühne hat sich in eines jener Frauenkörperornamente verwandelt, die im Kino der 1930er Jahre allgegenwärtig und vor allem mit dem Hollywoodchoreographen Busby Berkeley assoziiert sind. Diese im ansonsten aufs menschliche Gesicht fixierten Erzählkino ungewöhnliche Perspektive interessiert sich nicht für das Individuelle an den Figuren, sondern sozusagen am rhythmischen Potential ihrer Körperlichkeit. Die Regelmäßigkeit der Bewegung und die Uniformität der Bekleidung der Showgirls fügen sich in Muster, die in einer beständigen Transformation befangen sind.

Allerdings passt sich Rosy von Borsody in diesen verräumlichten Rhythmus gerade nicht ein. Die Konvention des Berkeley-Ornaments wird nur aufgerufen, um vorzuführen, was nicht in ihr aufgeht. Der Eigensinn, das Individuelle der Sängerin verliert sich auch in der Aufsicht nicht, ganz im Gegenteil: Die regelmäßigen Bewegungen der Tänzerinnen um sie herum lassen die Anarchie ihres Tanzstils nur noch deutlicher sichtbar werden. Mal schlagen ihre Gliedmaße rechts, mal links aus, mal wirbelt sie nach unten, mal nach oben. Keineswegs geht es dabei um einen Ausbruchsversuch. Mary scheint sich vielmehr pudelwohl zu fühlen als das chaotische, instabile Zentrum einer ansonsten regelhaften Struktur.









Konfetti 44: Notation

Vom “ureigenen Wesen jeder Melodie, (...) der Einstimmigkeit näherzukommen” spricht der Pianist und Komponist Grigorij Michailow (Albrecht Schoenhals) in einem parodistisch überspitzten Dozententonfall. Er steht vor einer Kreidetafel, auf der Notenlinien aufgemalt sind. Nun beginnt er, auf diese hastig eine kurze, beispielhafte Partitur zu skizzieren. Lisa (Ingeborg Theek) wartet derweil schweigend und eingeschüchtert am Rand der Tafel. Sie ist, und das weiß sie auch, nicht als Grigorijs Schülerin, sondern als seine potentielle Geliebte zugegen in dieser Szene des Willi-Forst-Klassikers Mazurka (1935). Die Worte des Musikers zielen nicht auf ihre Belehrung, sondern auf ihre sexuelle Eroberung.

Dennoch ist die Tafel mitsamt der musikalischen Notation das bestimmende Element der Szene. Sie bildet nicht einfach einen neutralen Hintergrund, sondern definiert ein exakt begrenztes, regelmäßiges Feld, das im Folgenden auch die Bewegungen der beiden Figuren rahmt. Beziehungsweise: auf dem die Figuren verzeichnet werden. Die musikalische Notation verwandelt sich in eine filmische. Nicht mehr geht es darum, das auf und ab einer Melodie grafisch festzuhalten, sondern darum, die Annäherung zweier Figuren im Bild nachvollziehbar zu machen.

Wobei es sich um eine recht einseitige Angelegenheit handelt. Grigorij ist von Anfang an als das aktive Element gekennzeichnet. Schließlich ist er der Herr der Tafel, im Besitz der Kreide, allein zeichnungsberechtigt, außerdem steht er mitten im Bild, mitten in der Notation, während Lisa zunächst noch halb im Außen verbleibt. Zwar hatte sie sich kurz zuvor selbstbewusst einmal quer durch die Tafel bewegt, aber nun, da er die Definitionsmacht über die Szene an sich gerissen hat, traut sie sich nicht mehr, sich selbst in die Notenzeilen einzutragen. Stattdessen greift Grigorij nach ihrer Hand, zieht sie an sich und macht sie gleichzeitig zum Teil der filmischen Partitur.

Im Moment des Kusses nun erfolgt ein abermaliger Ebenenwechsel: Orgelmusik setzt ein, laut und bestimmt. Vorher war die Szene nur von diegetischen, direkt im Bild verankerten Klängen begleitet gewesen (da die beiden sich in einer Musikschule befinden, sind aus den Nebenzimmern gelegentlich Melodiefetzen zu vernehmen), nun tritt ein extradiegetischer Score hinzu, also Musik, die auf eine der profilmischen Welt äußerliche Komposition verweist. Wobei die Sache in diesem Fall komplizierter ist. Schliesslich hatte Grigorij tatsächlich ein paar Noten auf die Tafel gemalt, bevor er Lisa an sich zieht. Die Orgelmusik setzt erst ein, wenn beide küssend vereint vor der Tafel stehen - und dabei grafisch exakt mit den eingetragenen Noten zur Deckung kommen. (Im Folgenden, im Affekt der Umarmung, löst sich der Film von der Kreidetafelrahmung, rückt per Montage den beiden Figuren auf den Leib; nur die finale Engführung von Musik, Bild und Begehren ermöglicht den Sprung in die körperliche Intimität.)

Auch wenn die Orgelmusik klanglich nichts mit der dahingeschluderten Kreidenotation zu tun hat, so stellt sie doch eine Art verspätete Fortsetzung des musikwissenschaftlichen Diskurses fort, mit dem die Szene eingesetzt hatte. Genauer gesagt handelt es sich um ein dreistufiges Modell: die Notenschrift springt erst auf die Liebesdramaturgie über, und dann auf die Tonspur des Films. Verzeichnet wird in dieser rapiden Bewegung allerdings weniger eine wechselseitige Verführung denn, siehe oben, eine Eroberung. Die romantische “Einstimmigkeit” stellt sich durchaus her, aber nur, weil sie in einem Akt der auktorialen Gewalt verfügt wird. 




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Auf der einen Seite der Mann, der Bild, Musik und Begehren orchestriert, auf der anderen Seite die Frau, die sich dieser gesamtkunstwerklerischen Komposition als Material zur Verfügung zu stellen hat… Die Asymetrie dieser Anordnung wird besonders deutlich im Abgleich mit einem anderen Film, der denselben Dreischritt noch einmal aufgreift - Joe Mays Confession (1937) ist das Hollywoodremake von Mazurka, und zwar ein Remake, das auf weitgehenden filmischen Gleichklang mit dem Original setzt. May hat, so ist zu lesen, Cast und Crew von Confession fast zur Weißglut gebracht mit seiner Insistenz darauf, den älteren Film Einstellung für Einstellung noch einmal neu drehen zu wollen. Aber wie sklavisch man sich auch an eine gegebene Partitur hält - es kommt doch bei jeder einzelnen Interpretation etwas Neues heraus.

So auch im Fall der Szene vor der Kreidetafel. Grigorij heißt jetzt Michael und wird von Basil Rathbone gespielt, Lisa ist immer noch Lisa, aber jetzt im Körper von Jane Bryan. Die Szene entfaltet sich ansonsten bis hinein ins Framing identisch: Wieder doziert der Musiker, wieder trägt er, wie zum Beweis, ein paar Noten in das Tafelbild ein, wieder sind beide Figuren vor der Notation im Profil zu sehen, wieder erfolgt ein Kuss, mit anschließend einsetzender Orgelmusik. Aber die exakte Wiederholung der filmischen, raumzeitlichen “Rahmenbedingungen” lässt nur umso deutlicher die Unterschiede hervortreten, die es zwischen den beiden Szenen durchaus gibt. Sichtbar wird eine differentielle Musikologie des Filmischen, die vielleicht auch etwas mit dem Übergang von Nazideutschland zu Hollywood zu tun hat.

Anders ausgedrückt: Die Körper der Schauspieler_innen können verstanden werden als Instrumente, die eine Partitur bespielen. Jedes Instrument hat dabei eine eigene Klangfärbung. Das beginnt bei ihrer Positionierung: In Confession steht die Frau etwas näher bei dem Mann und vor allem hat sie sich bereits ins Notenbild vorgewagt. Aus freien Stücken hat sie sich auf die musikalisch-romantische Dramaturgie der Szene eingelassen. Die Kreidenotation selbst befindet sich im Bild exakt zwischen beiden - in Forsts Version war sie eindeutig dem Mann zugeordnet gewesen, bei May hingegen wird sie, auch wenn ursprünglich von Michael angefertigt, von beiden Seiten als Partitur eines geteilten Begehrens akzeptiert.

Besonders deutlich wird die Differenz beim Kuss selbst. Wenn Michael seine Hand ausstreckt, dann ist das kein Befehl, sondern ein Angebot, das von Lisa freudig angenommen wird. Sie strebt mit so viel Schwung auf den Musiker zu, dass sie sogar die Bildkomposition aus dem Gleichgewicht bringt. Anders als bei Forst finden das küssende Paar und die Kreidepartitur, die filmische und die musikalische Notation, erst nach einem Schnitt in die Nahaufnahme völlig zur Deckung. Vielleicht weil es in Confession um eine Form von Harmonie geht, die nicht auf Ein-, sondern auf Zweistimmigkeit beruht.



Konfetti 43: Seifenblasenelefanten

Die vielleicht schönste Szene im Disney-Zeichentrickklassiker Dumbo (1941) beginnt als Halluzination. Der junge Elefant des Titels und sein Begleiter, die Maus Timothy, trinken Wasser aus einem Eimer, in den kurz voher, von den beiden unbemerkt, eine noch halbvolle Flasche Champagner geworfen worden war. Der Schauwein macht nicht nur die beiden Freunde betrunken, sondern er bildet auch Blasen, die sich bald verselbständigen, Dumbo und Timothy als Sitzkissen oder Lehne dienen und schließlich ihre Form zu wandeln beginnen. Nicht mehr runde, wabernde Kugeln steigen in die Höhe, sondern Quader, Wolken, bald noch deutlich komplexere Gebilde: rosarote Elefanten aus Schaum.

Wenn die Champagnerblasen Elefantengestalt annehmen und sich dabei nicht nur bizarr verformen, sondern außerdem ein Eigenleben entwickeln, verändert sich auch der filmische Raum. Genauer gesagt: er teilt sich. Dumbo und Timothy befinden sich, so ist jedenfalls anzunehmen, weiterhin in einer einigermaßen plastischen, restrealistischen Cartoonwelt, das Elefantenballett hingegen entfaltet sich vor einer weitgehend abstrakten Kulisse. Beziehungsweise: es stellt einen eigenen Raum her, der sich beständig transformiert, in einem Moment komplett von amorphen Farbklecksen überschwemmt ist, im nächsten wieder von elefanten- oder auch schlangenförmigen Kreaturen bevölkert wird, die sich vervielfältigen, verformen, verfärben, Tänze aufführen auf einer zumeist komplett planen, schwarzen Fläche, die mal aus Wasser, mal aus Eis, mal aus Schnee zu bestehen scheint.

Kurzum: Einige Minuten lang löst sich der Film von allen (im Zeichentrickfilm ohnehin komplett selbstauferlegten) Realismusbeschränkungen, verliert sich im Spiel der Formen und Figurierungen. Erst wenn der Rausch ausklingt, stellt sich die einigermaßen stabile Ausgangssituation wieder her, die rosaroten Elefanten sinken aus der Sphäre der befreiten Fantasie herab, werden zu Wolken am Horizont eines idyllischen Landschaftspanoramas. So schreibt sich der individuelle Exzess des Rausches, das Prickeln des Champagners auf der Zunge, in die Welt ein, als eine kleine, aber - in einem Film wie Dumbo, in dem alles Innere, jeder Gedanke, jede Emotion sich als schöner Schein veräußert - entscheidende ästhetische Differenz. Natürlich heißt das andersherum: Im nüchternen Zustand haben wir keinen Zugriff auf diese andere, entgrenzte, verflüssigte oder gar gasförmige Weltwahrnehmung, wir müssen uns mit der Konstanz von Materie anfreunden.

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Die soeben im Kino angelaufene neue Version der Dumbo-Geschichte, von Tim Burton inszeniert, ist ein Realfilm. Zumindest nominell; der großohrige Elefant im Zentrum stand nie vor einer Kamera. Er ist, wie große Teile des Dekors, komplett am Computer entworfen worden. Die Menschen hingegen, die ihn bestaunen, bemitleiden, verfolgen, im Fall von Eva Green sogar auf ihm durch die Lüfte reiten, sind aus Fleisch und Blut. Insofern ist die Welt des neuen Dumbo von Anfang an hybrid, in sich gespalten; allerdings sind die Bruchstellen in der Postproduktion so gründlich vernäht, dass eindeutige Demarkierungen - wie im älteren Film der Übergang vom zentralperspektivisch organisierten Illusionsraum zur rauschmittelinduzierten Abstraktion - nicht ohne Weiteres auszumachen sind.

Das gilt auch für jene Szene in Burtons Dumbo, die die Nummer mit den rosaroten Elefanten wiederaufgreift - und die gleichwohl auch im Remake zu den schönsten Passagen gehört. Wieder schaut ein Elefant Elefanten an, allerdings diesmal nicht aufgrund von Alkoholgenuss. Diesmal sind die Seifenblasen Teil einer Zirkusvorstellung. Akrobatinnen lassen sie in der Zirkuskuppel aufsteigen, bestaunt wird das Spektakel vom Publikum auf den Zuschauerrängen - und auch von Dumbo, der, am Rand der Manege stehend, gebannt nach oben blickt und verfolgt, wie die Blasen sich teilen, wie sie sich, schimmernd und wabernd, zu Seifenelefanten zusammensetzen und schliesslich, wie 1941, zu tanzen beginnen.

Gleich mehrmals wird in dieser Szene Dumbos Auge in Großaufnahme gezeigt. In ihm spiegelt sich, perspektivisch verzerrt, die Seifenblasenchoreographie. Die rosaroten Elefanten in Dumbo 2019 sind nicht bloße Fantasie, sondern in der perzeptiven Wirklichkeit der Hauptfigur verankert. Anders oder zumindest prägnanter als im älteren Film stellt sich insofern die Frage nach dem Verhältnis der beiden Ebenen zueinander. Wir sehen, dass Dumbo die rosaroten Elefanten sieht, und fragen uns deshalb: Was sieht er in ihnen? Was sieht der digitale Elefant, wenn er auf seine ebenfalls digitalen Ebenbilder schaut? Sieht er in ihnen das, was sie ihm ähnlich macht (auch sie sind Elefanten, auch sie können fliegen), oder das, was sie von ihm trennt (sie sind fast schon mathematisch perfektionierte Modelle von Elefanten, die sich in einem abstrakten Raum frei entfalten können, im Vergleich zu ihnen ist der in unserer materiellen Welt gefangene Dumbo schrecklich plump und tollpatschig)?

Dumbo wird wenig später selbst Teil der Zirkusvorführung werden. Die rosaroten Elefanten nehmen seinen eigenen Auftritt vorweg. Vielleicht machen sie ihm außerdem Mut und helfen ihm, ebenfalls abzuheben; vielleicht machen sie ihm aber auch Angst in ihrer eleganten Souveränität. Wir wissen es nicht. Sicher ist hingegen: Im Kino der Gegenwart taugen selbst rosarote Seifenblasenelefanten nicht mehr als Markierungen einer reinen ästhetischen Differenz. Jedes Bild ist allseitig von Sinn umstellt.

Monday, November 04, 2019

Konfetti 42: Sexy Extra


Es gibt Ausnahmen, aber im Allgemeinen scheint das Kino nur noch wenig Interesse zu haben am Fluss des Alltagslebens, wie es sich im öffentlichen, und ganz besonders im urbanen Raum manifestiert. Dabei war das über lange Zeit eines seiner zentralen Themen, in den ersten Jahren nach der Erfindung des Mediums vielleicht sogar sein wichtigstes. Unzählige “Strassenszenen” wurden zwischen 1896 und den frühen 1900ern von den Kameras der Lumiere-Brüder und ihrer Konkurrenten aufgezeichnet, das Publikum des jungen Kinos konnte sich, so scheint es, nicht sattsehen an den Rhythmen, Moden und Texturen der Straßen und Plätze, die es selbst, vor und nach dem Kinobesuch, bevölkerte.

Noch bis mindestens in die 1960er Jahre bleibt das Kino neugierig auf das Straßenleben, dessen Teil es immer auch selbst war (eine etwas spekulative These: mit der Verdrängung des Kinos aus den Innenstädten setzte auch die Verdrängung der Innenstädte aus dem Kino ein…). Längst nicht nur in Filmen, die an Originalschauplätzen gedreht werden, sondern auch in vielen reinen Studioproduktionen aus der klassischen Ära des Kinos finden sich Miniaturen des mal hektischen, mal relaxten urbanen Alltags, manchmal komplett losgelöst von der eigentlichen Handlung des Films, manchmal geschickt an deren Rändern platziert. Beides, und vielleicht insbesondere Letzteres, also weniger die explizite dokumentarische Geste, als die Kunst des Seitenblicks, der das dramatische Geschehen unaufdringlich in der Lebenswelt verankert, ist den Filmen inzwischen, das ist zumindest mein Eindruck, weitgehen verloren gegangen.

Nicht zuletzt lässt sich diese unschöne Veränderung daran ablesen, dass im Kino der Gegenwart (wiederum natürlich: mit Ausnahmen) Bitplayer und Statisten an Bedeutung verloren haben. Wo sie doch auftauchen, da sind sie kaum mehr als bloße Staffage - dazu da, eine gegebene Komposition zu vervollständigen, sich möglichst bruchlos in ihre Umgebung einzupassen, wie lebendige Möbelstücke. Wenn ich mir ältere Filme anschaue, entdecke ich hingegen immer wieder außergewöhnliche Gesichter und Körper, die mir von der Leinwand aus entgegenspringen, mich momenthaft in ihren Bann ziehen und damit auch der Haupthandlung eine neue Intentität und Lebendigkeit verleihen - weil sie ein Moment der Kontingenz in den Bilderfluss einfließen lassen: Wie wäre es, wenn der Film nicht weiter unsere Hauptfigur, sondern plötzlich dieser Passantin oder jenem stillen Beobachter auf ihren jeweils eigenen Wegen folgen würde?

Zum Beispiel: Was wäre, wenn Robert Hossein als Hauptdarsteller des von ihm selbst inszenierten schönen, psychosexuell ambitionierten, Film-Noir-inspirierten Thriller Toi… le venin (Nachts, wenn der Schleier fällt, 1958) in einer Szene kurz vor Schluss die beiden blonden Schwestern, die vorher die zentrale Achse des Films bilden, links liegen lassen würde zugunsten einer brünetten Zufallsbegegnung? Die Szene dauert nur ein paar Sekunden und ist, streng genommen, gar keine eigenständige Szene, sondern nur ein Szenenübergang. Unmittelbar vorher hatte Hossein am Bett einer der Schwestern (Marina Vlady) gesessen, von der Großaufnahme ihres tränenseligen Gesichts in Bann gehalten. Nach einer Schwarzblende sehen wir Kopf und Schultern einer Schaufensterpuppe - die einerseits, aufgrund ihres ebenmäßigen, fast unnatürlich glatten Gesichts als ein Echo auf die Vlady-Großaufnahme erscheint; die aber andererseits und gleichzeitig einen deutlich anderen Frauentyp evoziert: ein schmales statt rundes Gesicht, einen kühl reservierten statt offenherzig zerfließenden Blick.

Anschließend fährt die Kamera ein wenig zurück, wodurch sich die Szenerie erweitert: Wir sehen nun eine junge, der Schaufensterpuppe auffallend ähnelnde Frau, die vor einem Modegeschäft steht und in das Schaufenster blickt. Eis essend (damit die Kühle ihrer gesamten Präsenz betonend, aber auch sexualisierend) schaut sie auf ihr Ebenbild, das sie so sehr zu fesseln scheint, dass sie sich, während sie sich von dem Laden und der Kamera zu entfernen beginnt, noch einmal nach der Puppe umdreht.

Gerade als sie den Ladeneingang passiert, tritt Hossein (sein Filmname: Pierre Manda) aus dem Geschäft. Für einen Moment scheint eine Begegnung möglich. Die unbekannte Schöne hat den Kopf immer noch leicht nach links, in Richtung Laden gedreht, Hossein läuft eilig und fast direkt auf sie zu - dreht sich dann allerdings von ihr weg, und wechselt ein paar Sätze mit einer Verkäuferin, die hinter ihm aus dem Geschäft tritt. Er hat, erfahren wir, soeben ein Kleid gekauft, womöglich das, das die Schaufensterpuppe trägt und das er nun Vlady schenken möchte. Hossein hat eben nicht gesehen, was wir unmittelbar vorher gesehen haben: dass das Kleid der brünetten Passantin viel besser stehen würde. Wenn er anschließend den Bürgersteig überquert und etwas ungelenk seinem Auto zustrebt, ist die ihrerseits selbstsicher davonspazierende Frau mit dem Eis noch ein paar Sekunden lang im Bild zu sehen. Es ist nun offensichtlich, dass sie einen anderen Pfad verfolgt als der Film, der für ein paar Augenblicke mit ihrer lakonisch-eleganten Präsenz beehrt wurde.