Saturday, November 08, 2008

La mujer sin cabeza / The Headless Woman, Lucrecia Martel, 2008

Kinder spielen in einer Art Abwasserkanal. Schnitt auf Veronica, eine Zahnärztin mittleren Alters mit blondierten Haaren, die in ihr Auto steigt und losfährt. Die Kamera beobachtet mal sie, mal die Landschaft hinter der Windschutzscheibe, dann, als sie am Abwasserkanal vorbeifährt passiert irgendetwas. Was genau, bleibt unsichtbar, es dringt in den Film ein als Störgeräusch, als das UKO Barbara Flückigers. Freilich ist das UKO hier gleichzeitig unidentifizierbar und präzise artikuliert. Genauer: die Unidentifizierbarkeit ist präzise artikuliert.
Genau das ist es, was La mujer sin cabeza zu einem großartigen Film macht: Die präzise Artikulation des Unpräzisen, der Verwirrung, des Chaos, eines aus dem Takt geratenden Lebens.
Der Vorgänger La nina santa war mir etwas zu gewollt kryptisch, geprägt von bloßen Gesten der Verweigerung: Keine Exposition, alle Sinnzusammenhänge erst im Nachhinein und vor allem mühsam konstruierbar, die Einstellungen absichtlich defizitär unter dem Aspekt des Narrativs. Nicht so recht konnte ich erkennen, was Martel damit will und ob da mehr dahinter steckt als die altmodische Attacke aufs Kinoerzählen.
Anders im neuen Film: Was auf der manifesten Ebene passiert (ohnehin nicht viel), ist stets glasklar, im Grunde geht es die ganze Zeit um die Natur des UKOs vom Filmbeginn. Veronicas Leben ist aus der Spur geraten, sie steht neben sich, immer neue Störgeräusche treten in ihr Leben und irgendwann beginnt sie das zu befürchten, was der Schnitt zu Filmbeginn präzise artikuliert im Ungewissen gelassen hat. Am Ende des Films gibt es dann einen qualitativen Sprung, vielleicht sogar einen Lernprozess, um den soll es hier aber nicht gehen.
In La mujer sin cabeza ist die Verwirrung zunächst eine der Protagonistin. Die Störungen, die "falschen" Anschlüsse, die dezentrierten Einstellungen, die den Hintergrund, die vermeintliche Nebensächlichkeit gegenüber dem Vordergrund und der Hauptfigur privilegieren, alles das ist streng genommen psychologisch motiviert. Nur dass aus dieser psychologischen Motivierung nicht folgt, dass Veronica auch nur irgendwie zu einer Identifikationsfigur wird. Sie dient via ihrer gestörten Wahrnehmung lediglich als Katalysator. Entscheidend ist nicht sie selbst, sondern der Blick, den der Film durch sie auf die Welt um sie herum gewinnt.
Keine Mühe macht es, die vielen Menschen um Veronica herum einzuordnen. Es gibt den Ehemann, den Liebhaber, die Kinder, die Nachbarn und vor allem jede Menge Dienstboten. Auch wenn der Film eine Figur nicht sofort eindeutig identifiziert, präzisiert er sie zumindest in Bezug auf ihre dem Film wichtigste Eigenschaft: den sozialen Status.
La mujer sin cabeza ist ein Film über das Personal, über die Dienstboten, über Krankenschwestern und Handwerker. Die bewegen sich um die verwirrte Veronica und managen ihr Leben, oft sind sechs oder sieben in einer einzelnen Einstellung versammelt, manchmal, aber nicht immer, im Hintergrund, der zum Vordergrund wird weil im Vordergrund Veronica steht, die mehr und mehr zu einer Leerstelle wird. Ein Leben führt Veronica, von dem sie selbst mehr und mehr abwesend zu sein scheint. Die Hierarchien sind nur scheinbar flach, dass Veronica überhaupt diesen Film durchsteht, verdankt sie der Tatsache dass die Dienstboten ihre Passivität durch unaufgeregte Zielgerichtetheit ausgleichen. Sie führen mit Veronica Gespräche, an denen Veronica eigentlich gar nicht beteiligt zu sein scheint und dies auch gar nicht sein muss: Sie antwortet nicht, aber der richtige Handgriff wird dennoch ausgeführt.
Die spröde, irritierende Filmsprache ist in La mujer sin cabeza mehr als nur vage Äquivalenz eines bourgeoisen Lebensstils. Sie ist die präzise filmästhetische Artikulation einer Klassendifferenz. Veronica kann sich die Abwesenheit vom eigenen Leben deshalb leisten (und der Film sich seine Ästhetik), weil neben ihr, am Bildrand und im Hintergrund, die Dienstboten darauf achten, dass alles seinen korrekten Gang auch dann nimmt, wenn die Anschlüsse nicht mehr stimmen und der filmische Raum diskontinuierlich wird.

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