Kinder spielen in einer Art Abwasserkanal. Schnitt auf Veronica, eine Zahnärztin mittleren Alters mit blondierten Haaren, die in ihr Auto steigt und losfährt. Die Kamera beobachtet mal sie, mal die Landschaft hinter der Windschutzscheibe, dann, als sie am Abwasserkanal vorbeifährt passiert irgendetwas. Was genau, bleibt unsichtbar, es dringt in den Film ein als Störgeräusch, als das UKO Barbara Flückigers. Freilich ist das UKO hier gleichzeitig unidentifizierbar und präzise artikuliert. Genauer: die Unidentifizierbarkeit ist präzise artikuliert.
Genau das ist es, was La mujer sin cabeza zu einem großartigen Film macht: Die präzise Artikulation des Unpräzisen, der Verwirrung, des Chaos, eines aus dem Takt geratenden Lebens.
Der Vorgänger La nina santa war mir etwas zu gewollt kryptisch, geprägt von bloßen Gesten der Verweigerung: Keine Exposition, alle Sinnzusammenhänge erst im Nachhinein und vor allem mühsam konstruierbar, die Einstellungen absichtlich defizitär unter dem Aspekt des Narrativs. Nicht so recht konnte ich erkennen, was Martel damit will und ob da mehr dahinter steckt als die altmodische Attacke aufs Kinoerzählen.
Anders im neuen Film: Was auf der manifesten Ebene passiert (ohnehin nicht viel), ist stets glasklar, im Grunde geht es die ganze Zeit um die Natur des UKOs vom Filmbeginn. Veronicas Leben ist aus der Spur geraten, sie steht neben sich, immer neue Störgeräusche treten in ihr Leben und irgendwann beginnt sie das zu befürchten, was der Schnitt zu Filmbeginn präzise artikuliert im Ungewissen gelassen hat. Am Ende des Films gibt es dann einen qualitativen Sprung, vielleicht sogar einen Lernprozess, um den soll es hier aber nicht gehen.
In La mujer sin cabeza ist die Verwirrung zunächst eine der Protagonistin. Die Störungen, die "falschen" Anschlüsse, die dezentrierten Einstellungen, die den Hintergrund, die vermeintliche Nebensächlichkeit gegenüber dem Vordergrund und der Hauptfigur privilegieren, alles das ist streng genommen psychologisch motiviert. Nur dass aus dieser psychologischen Motivierung nicht folgt, dass Veronica auch nur irgendwie zu einer Identifikationsfigur wird. Sie dient via ihrer gestörten Wahrnehmung lediglich als Katalysator. Entscheidend ist nicht sie selbst, sondern der Blick, den der Film durch sie auf die Welt um sie herum gewinnt.
Keine Mühe macht es, die vielen Menschen um Veronica herum einzuordnen. Es gibt den Ehemann, den Liebhaber, die Kinder, die Nachbarn und vor allem jede Menge Dienstboten. Auch wenn der Film eine Figur nicht sofort eindeutig identifiziert, präzisiert er sie zumindest in Bezug auf ihre dem Film wichtigste Eigenschaft: den sozialen Status.
La mujer sin cabeza ist ein Film über das Personal, über die Dienstboten, über Krankenschwestern und Handwerker. Die bewegen sich um die verwirrte Veronica und managen ihr Leben, oft sind sechs oder sieben in einer einzelnen Einstellung versammelt, manchmal, aber nicht immer, im Hintergrund, der zum Vordergrund wird weil im Vordergrund Veronica steht, die mehr und mehr zu einer Leerstelle wird. Ein Leben führt Veronica, von dem sie selbst mehr und mehr abwesend zu sein scheint. Die Hierarchien sind nur scheinbar flach, dass Veronica überhaupt diesen Film durchsteht, verdankt sie der Tatsache dass die Dienstboten ihre Passivität durch unaufgeregte Zielgerichtetheit ausgleichen. Sie führen mit Veronica Gespräche, an denen Veronica eigentlich gar nicht beteiligt zu sein scheint und dies auch gar nicht sein muss: Sie antwortet nicht, aber der richtige Handgriff wird dennoch ausgeführt.
Die spröde, irritierende Filmsprache ist in La mujer sin cabeza mehr als nur vage Äquivalenz eines bourgeoisen Lebensstils. Sie ist die präzise filmästhetische Artikulation einer Klassendifferenz. Veronica kann sich die Abwesenheit vom eigenen Leben deshalb leisten (und der Film sich seine Ästhetik), weil neben ihr, am Bildrand und im Hintergrund, die Dienstboten darauf achten, dass alles seinen korrekten Gang auch dann nimmt, wenn die Anschlüsse nicht mehr stimmen und der filmische Raum diskontinuierlich wird.
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Saturday, November 08, 2008
Thursday, May 18, 2006
La Niña santa, Lucrezia Martel, 2004
Lucrezia Martels Film verzichtet fast durchweg auf Establishing Shots und besteht zu großen Teilen aus Großaufnahmen von Gesichtern und anderen Körperteilen. Das Framing der Gesichter entspricht jedoch nicht den Kino bzw. Fernsehkonventionen, die gefilmten Personen sind meist unruhig, positionieren sich in ungewöhnlichem Winkel zur Kamera, scheinen eben die zentrierte Einstellung, die gesucht wird, abzuwehren. Auch die Lichtregie trägt zu dem oft leicht verwirrenden Gesamteffekt bei. Hinter den Gesichtern, die meist sehr nah an der Kamera vorbeihuschen, finden sich selten klare Strukturen, diffuse Beleuchtung lässt den Hintergrund im Unklaren. Doch oft finden sich nicht nur im Vorder- sondern auch im Hintergrund Menschen, die sich bewegen, einer genaueren Analyse durch den Zuschauer im Weg stehen.
Alle Figuren der Handlung zeichnen sich durch ihre jeweils spezifische Körperlichkeit aus. Auch einzelne Körperteile spielen wichtige Rollen. Nachdem Dr. Jano Amalia zum zweiten Mal betatscht, wird er auf dem Weg nach Hause dazu gezwungen, dieselbe Hand immer wieder zu anderen Zwecken zu verwenden.
Die Welt der Erwachsenen ist geprägt durch eine Vielzahl sexueller Bindungen, die allerdings sozial und religiös extrem überformt sind, was teilweise bizarre Ausmaße annimmt. Die Verstrickungen der einzelnen Beziehungen spiegelt sich in den scheinbar ungeordneten, chaotischen, letztlich bedrückenden Anordnungen der Mise en Scene spiegeln. Lange scheint es, als gebe es auch für Amalia keinen Ausweg aus den zahlreichen Fallen der Gesellschaft. Die letzte Szene weißt eventuell doch einen Weg. Während ihre Mutter durch die Teilnahme an Janos Showuntersuchung noch einmal deutlich macht, dass sie in den Vexierspielen der verlogenen Sexualität unrettbar verloren gegangen ist, endet Amalias Geschichte mit einer kleinen Utopie. Zwar ist auch die erwachende lesbische Liebe nicht ohne Probleme (noch in der letzten Szene bleibt der Status der Beziehung unklar), doch das Bild der Mädchen im klaren Wasser des Pools verspricht einen Ausweg aus der Welt der zungenküssenden Religionslehrerinnen.
Alle Figuren der Handlung zeichnen sich durch ihre jeweils spezifische Körperlichkeit aus. Auch einzelne Körperteile spielen wichtige Rollen. Nachdem Dr. Jano Amalia zum zweiten Mal betatscht, wird er auf dem Weg nach Hause dazu gezwungen, dieselbe Hand immer wieder zu anderen Zwecken zu verwenden.
Die Welt der Erwachsenen ist geprägt durch eine Vielzahl sexueller Bindungen, die allerdings sozial und religiös extrem überformt sind, was teilweise bizarre Ausmaße annimmt. Die Verstrickungen der einzelnen Beziehungen spiegelt sich in den scheinbar ungeordneten, chaotischen, letztlich bedrückenden Anordnungen der Mise en Scene spiegeln. Lange scheint es, als gebe es auch für Amalia keinen Ausweg aus den zahlreichen Fallen der Gesellschaft. Die letzte Szene weißt eventuell doch einen Weg. Während ihre Mutter durch die Teilnahme an Janos Showuntersuchung noch einmal deutlich macht, dass sie in den Vexierspielen der verlogenen Sexualität unrettbar verloren gegangen ist, endet Amalias Geschichte mit einer kleinen Utopie. Zwar ist auch die erwachende lesbische Liebe nicht ohne Probleme (noch in der letzten Szene bleibt der Status der Beziehung unklar), doch das Bild der Mädchen im klaren Wasser des Pools verspricht einen Ausweg aus der Welt der zungenküssenden Religionslehrerinnen.
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