Tuesday, November 24, 2009

Bled Number One, Rabah Ameur-Zaïmeche, 2006

Fast noch besser als sein noch etwas ungehobeltes, aber sehr bemerkenswertes Debut Wesh Wesh hat mir dieser Nachfolger gefallen. Die Hauptfigur Kamel, verkörpert vom Regisseur selbst, verbindet die beiden Filme, sonst eher wenig. Am Ende von Wesh Wesh musste man annehmen, dass Kamel von der Polizei erschossen wurde, ich bin mir nicht ganz sicher, ob die Existenz des zweiten Films diese Lesart völlig verunmöglicht. Vielleicht ist Bled Number One eher eine Fantasie darüber, was passiert wäre, wenn Kamel die Schüsse der Polizisten überlebt hätte und anschließend abgeschoben worden wäre als eine klassische Fortsetzung. Das würde einersets erklären, warum Kamel sich so ironisch-distanziert, fast schlafwandlerisch durch dieses Algerien bewegt (kein Protagonist im engeren Sinne ist dieser Kamel, eher die Verkörperung einer Haltung zu den Bildern, die der Film gibt; Kamel ist nicht ganz Teil der Welt, durch die er sich bewegt und zwar nicht nur, weil er in sozialer Hinsicht nicht mehr in sie passt, er scheint neben dieser sozialen auch eine ontologische Differenz zu figurieren), andererseits wäre es eine Rechtfertigung (wenn es denn eine solche bräuchte) für die vielen elegischen Stillstellungen, die immer wieder in den Film einbrechen - insbesondere die wundervollen Auftritte Rodolphe Burgers als einsamer Gitarrist.
Wesh Wesh zeichnet sich zwar ebenfalls durch kleine, genaue Beobachtungen der Mikrostruktur des Banlieus aus, Beobachtungen, die nicht auf ihre Plotfunktion reduziert werden können und vielleicht tatsächlich interessanter sind als der im engeren Sinne politische Gestus des Films, aber als Ganzer blieb der Film doch dem Bewegungsbild verhaftet. Bled Number One dagegen zerfällt nicht nur auf der Makroebene in mehrere Erzählungen: Kamels Ankunft, die Attacke junger Islamisten auf Dominospieler und Biertrinker, der Leidensweg Louisas, einer Frau, die von ihrem Mann vor die Tür gesetzt wurde und jetzt um ihre Kinder kämpft. Auch die einzelnen Szenen sind nur selten zielstrebig, plotorientiert aufgelöst. Sehr oft zeigt Ameur-Zaïmeche soziale Situationen in der Totale, lässt sie sich gemäß ihrer Eigendynamik entwickeln: die Schlachtung eines Ochsen, der Tanz der Männer, ein Konflikt in der Bar, die Ankunft Louisas in der Psychiatrie usw. Manchmal gibt es auch sonderbare Aufnahmen mit langer Brennweite, die man eher aus Paranoiafilmen der 70er kennt denn aus dem neorealistisch geprägten world cinema unserer Tage. Die Tonspur besteht oft nur aus einer höchstens halb differenzierbaren Geräuschkulisse, die Tatsache, dass und die Art, wie geredet wird, ist nicht selten wichtiger als der Inhalt der Gespräche.
Also: ein sonderbarer, faszinierender Film, dessen Ästhetik einige Rätsel aufgibt, die ich nach der ersten Sichtung noch nicht so recht zu lösen vermag. Bei alledem ist Bled Number One stets sehr genau in seiner Beschreibung von Macht- und Sozialstrukturen. Das Dorf, in dem Kamel landet, wehrt sich nach Außen gegen die Islamisten, die die Macht zu übernehmen drohen, die archaisch-patriarchalen Strukturen im Inneren werden dennoch nicht hinterfragt und auf Solidarität darf Louisa erst hoffen, wenn sie ganz unten in der sozialen Hierarchie angekommen ist. Kurz davor die eine utopische Szene, die schönste des Films vielleicht: Kamel, Louisa und zwei weitere Frauen am Strand, zwischen zwei riesigen, rostüberzogenen, ausrangierten Frachtschiffen (die Dinosaurier der Schwerindustrie der Vergangenheit, irgendwie scheint dieses wahnwitzige Bild auch etwas mit den in diesem Film allgegenwärtigen Bild von Männern zu tun zu haben, die untätig vor ihren Häusern sitzen und dabei fast zwangsläufig auf dumme Gedanken kommen - oder versuchen, das wenige, was ihnen geblieben ist, trotzig und traditionsbewusst zu verteidigen). Kamels Blick auf die Frauen, der Blick der Frauen auf Kamel: die nassen Kleider kleben an den Körpern, deren Umrisse sich zum ersten und einzigen Mal im Film unter ihnen abzeichnen dürfen.

4 comments:

Paul said...

Ui, seit ich die arte-Ausstrahlung vor ein paar Monaten verpasst und noch mehr nachdem ich bei der Viennale "Dernier Maquis" gesehen habe, bin ich auf der Suche nach einer untertitelten Version des Films, egal ob offiziell oder inoffiziell, konnte aber leider bis auf die für mich nutzlose französische DVD nirgends etwas finden.

Hast du eventuell einen Tip für mich?

Lukas Foerster said...

Ich habe ihn im Kino gesehen, die französische DVD scheint keine Untertitel zu haben. Ich kann mich mal ein wenig umschauen, schreibe mir am besten eine Mail, vielleicht finde ich etwas.

Lukas Foerster said...

Ich habe ihn im Kino gesehen, die französische DVD scheint keine Untertitel zu haben. Ich kann mich mal ein wenig umschauen, schreibe mir am besten eine Mail, vielleicht finde ich etwas.
Grüße, Lukas

Paul said...

Ein unglaublich guter Film, sowohl was seine (brandaktuellen) Themen, aber vor allem auch die total unkonventionelle, direkte, rauhe Art, diese Themen bzw. Einblicke filmisch zu reflektieren, angeht; ich bin völlig hin und weg... (9,4 geb ich dem sogar)