Monday, December 10, 2007

La graine et le mulet, Abdel Kechiche, 2007

Abdel Kechiche rückt seinen Akteuren so nah auf den Leib, wie das sonst nur die Dogma-Filmer versuchen. Überhaupt bricht Kechiche wohl nur recht wenige Regeln des berüchtigten Manifests und reiht sich in die lange Reihe derer ein, die Authentifizierung vor allem über Handkameraexzesse zu erreichen können glauben.
Zu Beginn: Sozialdrama galore. Nach einer noch recht entspannten Episode um (wie sich bald herausstellen wird: außerehelichen) Sex auf einem Touristenschiff, wendet La graine et la mulet sich konsequent dem harten Alltagsleben zweier Immigrantenfamilien zu. Der touristische Blick ist nur Antithese zu allem, was folgen wird. Der falschen Objektivität des Touristen möchte Kechiche eine Vielzahl an Subjektivitäten entgegensetzen, Subjektivitäten, die sich oft gegenseitig widersprechen und sich nur widerstrebend den zahllosen sozialen Verträgen, die das Leben ihrer Träger objektiv bestimmen, unterordnen.
Doch zunächst wie gesagt: Sozialdrama pur. Im Mittelpunkt steht Anfangs der alternde Slimane. Nach einigen Lektionen in Sachen neoliberalem Outsourcing werden die Kinder, die Ex-Frau und die Freundin eingeführt, die Kamera bleibt weiterhin nah an den Gesichtern und Händen, auch wenn die Tochter ihren (französischen und zumindest grenzchauvinistischen) Mann in einer überaschend didaktischen Passage über die Regeln des Wirtschaftsspiels aufklärt.
Sobald Thematik und Ausgangsposition etabliert sind, löst sich die Erzählung mehr und mehr von Slimane, der schließlich fast das gesamte letzte Drittel des Films nur noch damit zubringen wird, einige Kinder zu verfolgen, die sein Moped gestohlen haben. Nun kommt jeder zu seinem Recht, noch die scheinbar unwichtigsten Figuren des Ensembles erhalten ihre Subjektivität, von den eben nicht nur rein funktionell bestimmten Antagonisten der Immigrantenclans, den alteingesessenen vollblutfranzösischen Geschäftsmännern bis zu den oben erwähnten Mopeddieben und den fast schon sprichwörtlichen alten Männern, die im Cafe sitzen.
Durchaus beeindruckend ist die Konsequenz, mit welcher Kechiche diese multiple Subjektivierung in Szene setzt. Freilich gibt La graine et la mulet im Zweifelsfall stets dem Familienmelo den Vorzug vor der Erkundung sozioökonomischer Zusammenhänge. Und auch die dramatische Struktur des gesamten Filmsfolgt diesem Paradigma und reduziert die anfangs noch recht frei angelegten Konflikte zu einer mehrschichtigen Parallelmontage mit Suspense und allem, was dazu gehört. (Im Grunde ist La graine et la mulet klassisches Kino in Reinform, vor allem in seinem Streben nach motivischer Kohärenz und seiner bedingungslosen räumlichen Verdichtung der Ereignisse.)
Was bleibt sind vor allem viele lange Gespräche. Die sind oft sehr schön: Die junge Rym steht während einer ruhigen, konzentrierten Unterredung vor einer rosa gemusterten Tapete, während sich hinter dem sitzenden Slimane ein Fenster zum Hafen öffnet; ein Familienessen entwickelt sich zur polyphonen Sprachsynphonie. Doch nicht ganz lässt sich der Eindruck verdrängen, dass Kechiche im Zweifelsfall der Soap Opera immer etwas zu gewogen ist. Vor allem in Bezug auf die Schließung, die nun tatsächlich viel zu viel schließt. So ist La graine et la mulet zwar ohne Zweifel ein guter Film. Ein ehrlicher jedoch nur bis zur vorletzten Einstellung. Und ein "neues Kino der Menschlichkeit" (Hochhäusler)? Ich weiss nicht so recht...

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