Friday, October 25, 2019

Konfetti 40: Spalier

Im Spalier aufgereiht erwarten Soldaten hinter dem Grenzzaun des fiktiven Fürstentums Marana die Passagiere eines Schiffes, das soeben im Hafen angelegt hat. Das Empfangskomitee soll den Prinzen Michael ausfindig und dingfest machen, der im Land erwartet wird (und die Herrschaft eines anderen, illegitimen Prinzen gefährdet).

Da wird ein Spießrutenlauf vorbereitet, könnte man meinen. Tatsächlich jedoch formen die Soldaten mitsamt ihrer in die Gasse hineinragenden Gewehre kein Bestrafungsdispositiv; vielmehr definieren sie eine Bühne. Deutlich wird das schon vor dem Eintreffen des Schiffes: Die Truppe wird von ihrem Vorgesetzten nicht mit militärischem Drill auf die Aufgabe eingeschworen - sondern musikalisch. Die steckbriefartige Beschreibung des Prinzen verwandelt sich in den Text eines mehrstimmig vorgetragenen Liedes (“Blaue Augen, blondes Haar / Alter: Fünfundzwanzig Jahr / Gesicht oval / Gestalt normal / und desgleichen / keine besonderen Kennzeichen”), das, sobald das Schiff anlegt, bruchlos übergeht in ein komplexeres musikalisches Arrangement: Die Stimme Gitta Alpars, der Sopranistin des Ensembles, legt sich über den Männerchor. Der plötzlich nur noch eine Art Rhythmusgruppe ist für das Solo der Diva. Es besteht jedenfalls eine hörbare Übereinkunft des Singens, des gemeinsam Musizierens, die Jäger und Gejagte miteinander verbindet.

Vor dem Grenzzaun stehen also die musikalischen Soldaten, in zwei Reihen in die Tiefe des Bilds gestaffelt. Einer nach dem Anderen treten dann die Mitglieder eines Opernensembles, das in Marana gastiert (oder zu gastieren vorgibt, eigentlich haben sie andere Pläne und natürlich ist Michael, der Gesuchte, Teil des Ensembles) in die Gasse, die von den Soldaten definiert wird. Die Ankommenden sind, nachdem sie durch ein Tor im Zaun treten, zunächst nur klein, im Hintergrund zu sehen und schreiten dann, während sie schon zu singen beginnen, durch das Spalier auf die Kamera zu, bis sie in einer Nahaufnahme ankommen und also das Bild dominieren. Nun erst ist der Bühnenraum komplett etabliert. Und zwar handelt es sich nicht um einen theaterhaften, sondern um einen genuin filmischen Bühnenraum, also einen, der in erster Linie vom zweidimensionalen Bild her gedacht ist: Die links und rechts jeweils zuvorderst platzierten Soldaten verdoppeln die Ränder der Leinwand, die ins Bild ragenden Gewehre isolieren, als zusätzliche Rahmung, die Gesichter der Vortretenden.

Wer vorn im Bild angekommen ist, sieht sich, im nächsten Schritt, mit der Aufgabe konfrontiert, diese Rahmungen zu überschreiten und also das Spalier zu durchbrechen. Den Sängerinnen und Sängern gelingt das, natürlich, singend. Jeder Neuankömmling trägt eine eigene Strophe vor, stets in derselben Melodie und stets im Stil einer humoristischen Selbstvorstellung: “Ich bin der Opernbösewicht / aber keine Angst, ich tu nur so / im Leben bin ich’s nicht”, “Ich bin noch jung und sing schon Alt” und so weiter. Die Musik greift auf alle Elemente der Filmsprache über: Wenn der Bass seine Stimme immer tiefer absenkt, spielt die Kamera das Spiel mit und gleitet ebenfalls an seinem Körper entlang in Richtung Boden.

Es geht bei alldem darum, die Grenzen des Bildraums zu erweitern, aber nicht rabiat, sondern spielerisch; es gilt, die Mensch gewordenen Begrenzungen des filmischen Bühnenraums weichzusingen, zu bezirzen, ihnen schöne Augen zu machen. Jeder und jede erreicht dies auf seine oder ihre eigene Weise. Selbstverständlich ist auch die List, mit deren Hilfe Michael, der Prinz, die Soldaten überlistet, eine musikalische List und gleichzeitig eine Bühnenlist: Max Hansen, der Darsteller des Prinzen, schreitet mit Perücke und in Frauenkleidern durch die Reihen der Soldaten und gibt sich als Understudy der Sopranistin aus: “Mir unterdrückt man mein Talent / Weil man mich zweite Besetzung nennt”. Raffinierter noch als alle seine Kollegen beherrscht der falsche (aber mit einem erstaunlichen Stimmumfang ausgestattete) Sopran den Bildraum und hängt, aus Lust am Rollenspiel, gleich noch eine zweite Strophe dran: “Was kann so schön sein / Wie Deine Liebe / Küss mich um die ganze Welt”.

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Die Szene findet sich in Carl Froelichs Die - oder keine, einer der Sternstunden des inzwischen weitgehend vergessenen, aber einst enorm populären Genres des Operettenfilms. Die - oder keine entstand 1932. Ein Jahr später übernahmen die Nationalsozialisten in Deutschland die Macht und auch das Kino. Die oben beschriebene Szene führt mir noch einmal in schmerzhaften Deutlichkeit vor Augen, was der deutschen Filmgeschichte in der Folge verloren gegangen ist: Im Nazikino wird der alle Aspekte des Filmischen umfassende musikalische Konsens aufgekündigt und die vorher noch flexiblen Ränder des Bildes verhärten sich.

Konfetti 39: Schützengraben

Der Erste Weltkrieg war nicht nur der historisch erste (große) Krieg, der vom Kino umfangreich reflektiert wurde, in gewisser Weise ist er bis heute der Inbegriff des kinematografischen Krieges geblieben. Keine andere kriegerische Auseinandersetzung in der Geschichte ist so eng mit einem spezifischen Arsenal an Bildern und dramatischen Situationen verbunden. Eben diese im Ersten Weltkrieg geprägten Bilder und Situationen sind heute die Kriegsfilmbilder und Kriegsfilmsituationen schlechthin, haben sich also bis zu einem gewissen Grad von ihrem Ursprung emanzipiert.

Das gilt vor allem für ein zentrales Rolle Motiv: Der Schützengraben ist nicht nur der privilegierte Schauplatz des Ersten Weltkriegs, sondern garn allgemein die Welt des Krieges en miniature. In ihm hat das Kino eine Möglichkeit gefunden, sowohl die Schrecken als auch den Thrill des Krieges audiovisuell handhabbar zu machen. Der Schützengraben ist ein Raum, der problemlos im Studio nachgebaut werden kann, er ist in seiner physischen Form überschaubar (bzw.: gerade nicht überschaubar, deshalb kann ein kleiner Bereich pars pro toto für den gesamten Graben, für die gesamte Front stehen), aber in seinen dramaturgischen Potentialen schier unerschöpflich. Zum Beispiel, weil er gleichzeitig ein Ort der klaustrophobische Einschließung und des unberechenbaren Chaos ist. Kaum jemand kann sich ungestört drei Schritte nach links oder rechts bewegen, aber gleichzeitig kann jederzeit aus dem Off des Bildes eine Granate genau vor meine Beine geflogen kommen.

Außerdem wird Krieg im Schützengraben in erster Linie über die Verteilung von Sicht- und Hörbarkeit, beziehungsweise, noch wichtiger, Nichtsichtbarkeit und Nichthörbarkeit, prozessualisiert. Konkreter ist im Schützengraben Sichtbarkeit, also die wichtigste sinnliche Basis des Filmischen, direkt mit dem Tod assoziiert. Besonders deutlich wird das in einer Szene, die in der einen oder anderen Variation fast in jedem Film, der im Ersten Weltkrieg spielt, auftaucht: Soldaten kauern im Schützengraben, während ein paar hundert Meter weiter, in den gegnerischen Stellungen, ein Scharfschütze lauert. Oder vielleicht nur gelauert hat, denn schließlich können die Soldaten im Graben das nicht überprüfen, ohne sich selbst in die Schusslinie zu begeben. Zumindest nicht direkt, visuell. Selbst sichtbar werden dürfen sie nicht, aber sie können das Feld des Sichtbaren manipulieren. Zum Beispiel mithilfe eines Helms, der, auf der Spitze eines Gewehrs balanciert, einen sich unvorsichtig weit aus der Deckung herauswagenden Soldaten simuliert. Fast immer läuft das darauf hinaus, dass der Helm eine Kugel einfängt - ein treffendes Bild dafür, dass und wie die moderne Kriegsführung vom Menschen abstrahiert: Der direkte Augenkontakt der Kontrahenten im Kampf Mann gegen Mann wird ersetzt durch den Einschlag eines Projektils auf einem gepanzerten Kopfschutz, unter dem sich kein Kopf mehr befindet.

Auch eine der eigenartigsten Schützengrabenszenen, die mir je untergekommen ist, beginnt mit einem derartigen Helmtest. In Steve Sekelys My Buddy (1944), einer faszinierenden, ziemlich abstrusen B-Produktion, die sich nur kurz dem Ersten Weltkrieg selbst widmet und anschließend eine Kriegsheimkehrerbiografie entwirft, die in einem Gangsterfilm mündet, kauert Eddie (Don Barry) gemeinsam mit seinem Schlachtgefährten Spats (Jay Norris) im Graben, belauert von einem deutschen Scharfschützen, der den in die Höhe gehaltenen Dummyhelm denn auch bei erster Gelegenheit durchlöchert. Eddie zieht daraus die richtigen Schlüsse, Spats allerdings nicht. Genauer gesagt bekommt der von seiner Umwelt überhaupt nicht mehr viel mit, weil er sich von dem Gespräch über die Heimat hat mitreißen lassen, das er und Eddie inmitten der Kriegswirren führen.

Eddie hatte ihm von dem Mädchen berichtet, das in Chicago auf ihn wartet. Spot ist schon von dieser Erzählung so agitiert, dass er aufzuspringen versucht. Noch kann Eddie ihn zurückhalten. Aber gleich anschließend beginnt Spats davon zu schwärmen, wie er in Amerika als Musicalstar auf der Bühne gestanden habe. Als er dann auch noch anfängt, zu singen, und zwar den Titelsong des Films, wendet Eddie sich kopfschüttelnd ab. Spats ist so komplett gefangen in seiner Performance, dass er sich bald, wie auf der Bühne, zu voller Größe aufrichtet. Es folgt ein Schnitt auf den Sniper, der das Gewehr anlegt, dann ein zweiter auf Eddie, der halb resigniert, halb belustigt in die Gegend blickt - und gleich darauf freilich aufschrickt, weil ein Schuss fällt, just als Spats bei den Worten “My Buddy” angelangt war.

Es geht noch weiter: Im Sterben gesteht Spats seinem Kumpel, dass seine Performance nicht auf einer Erinnerung, sondern auf einer Fiktion basiert. Er habe, erzählt er, während er seine letzten Atemzüge tut, in seinem Leben noch nie auf einer Bühne gestanden, stattdessen sei er als “soda jerk” in einer Apotheke angestellt gewesen. Seinen Traum von künstlerischer Selbstverwirklichung, von öffentlicher, stolzer Sichtbarkeit hat er erst jetzt verwirklicht, in der ungünstigsten aller möglichen Situation. Aber möglicherweise gleichzeitig: in der für ihn einzig möglichen. Vielleicht waren die nervernzerfetzende Hoschpannung und die Allgegenwart des Todes im Schützengraben notwendige Voraussetzung dafür, dass er sich in ein anderes Leben hineinimaginieren konnte. Der Schützengraben war für ihn die einzig mögliche Bühne. Wenn auch nur für ein paar kostbare Sekunden. Wiederum nur ein paar Sekunden nach Spats’ Tod stürmen jubelnde Soldaten die Szene - der Krieg ist aus.

in passing

Nachdem ich bis zum Schluss vergeblich versucht hatten, den Film interessant zu finden, stehe ich gleich bei Beginn des Vorspanns auf und gehe. Die Abspannmusik ist laut und auch eher schlimm. Das Kino hat nur ein schmales Foyer, wenn ich den Saal verlasse, bin ich in ein paar Schritten auf der Strasse. Tatsächlich höre ich, als ich die gläserne Eingangstür in die Stadt hinein öffne, immer noch die Musik: hallende Panflöten, die allerdings gleich, nach ein, zwei Schritten, noch bevor sich die Glastür hinter mir geschlossen hat, von einem anderen, surrenden Geräusch überlagert und auf erstaunlich exakte Weise ersetzt werden. Ich kann das neue Geräusch zuerst nicht zuordnen, aber dann erkenne ich, dass es von einem Elektroauto herrührt. Ein noch nicht ganz naturalisiertes Strassengeräusch, das vorläufig und in diesem Augenblick in den Bereich des Ästhetischen hereinragt. Ich wäre gerne eine Maschine, die solche Momente sucht und aufzeichnet und die sonst nichts macht.

Tuesday, October 22, 2019

Konfetti 37: Mehr Hochhäuser


Mit einer Szene auf einem Hochhausdach in Manhattan habe ich diese Serie begonnen: In Klaus Lemkes Sylvie stehen ein Mann und eine Frau auf einem der Türme des World Trade Center und werden dabei einige Minuten lang zum Mittelpunkt des Universums. Aus der Szene spricht ein unglaubliches, gewissermaßen dreifaches Selbstbewusststein. Zunächst ist das Hochhaus selbst eine weitere Evidenz des ohnehin legendären Selbsbewusstseins der amerikanischen Nation und ihrer zum Himmel strebenden Architektur, dann, innerfiktional, zeugt die Szene vom Selbstbewusststein von Sylvie und ihrem Begleiter Paul, die gerade erst in New York angekommen sind und sich die Stadt gleich mit der größten aller möglichen Gesten aneignen; und schliesslich bewundern wir das Selbstbewusstsein von Klaus Lemke, dem deutschen Regisseur, der zum ersten Mal in Amerika filmt, seinem Traumland, aber gleich als erstes eine Helikopterhochhausaufnahme ausprobieren muss.

All dieses Selbstbewusstsein (das freilich erst interessant wird, weil es sich an Unfertigem bricht, an der Unfertigkeit der Gesten der Darsteller, der Unfertigkeit der wenigstens teilweise improvisierten Mise-en-scene, der Unfertigkeit des eben erst fertiggebauten und noch nicht für den kommerziellen Gebrauch hergerichteten Hochhauses) hat natürlich damit zu tun, dass sowohl Sylvie und Paul als auch Lemke New York bereits aus dem Kino kennen. Nicht nur aber sicher in erster Linie das Kino hat New York und dessen Wolkenkratzer zu einem Ort gemacht, das zu center-of-the-world-Posen einlädt (oder zumindest eingeladen hat - in der instagramoptimierten Gegenwart taugt, die richtigen Bildbearbeitungsskillz vorausgesetzt, fast jeder, also letztlich kein, Ort zum Mittelpunkt der Welt). Einer der Filme, der dieses Potential entdeckt oder jedenfalls erstmals voll ausgeschöpft hat, dürfte Rouben Mamoulians Applause gewesen sein.

Der Film stammt aus dem Jahr 1929, aus der frühen Tonfilmzeit. Genauer gesagt ist das ein Film, der mit dem Ton auch gleich die moderne Großstadt noch einmal neu für sich zu entdecken scheint. Wenn die Hauptfigur April (Joan Peers), die ihre Kindheit und Jugend in einer Klosterschule verbracht hat, nach New York City zurückfährt, um wieder bei ihrer Mutter Kitty Darling (Helen Morgan), einer Burlesquetänzerin, einzuziehen, dann inszeniert Mamoulian das wie eine zweite Taufe. April taucht in den Lärm, den Rauch, den Bewegungswust der Großstadt ein, vermittels einer mehrminütigen Montagesequenz, die ohne Dialoge auskommt - ein dröhnendes Sozialmaschinenasphaltgedicht, gleichzeitig euphorisierend und einengend.

In der Welt, die April betritt, bleibt erst einmal nur Letzteres übrig: die Enge. Ihr New Yorker Leben besteht praktisch nur aus der Burlesquebühne und einem erweiterten Backstagebereich, Freiraum gibt es keinen. Auf der einen Seite lauern die begierigen Blicke der Burlesquekundschaft, auf der anderen ein trostloses, klaustrophobisches Familienmelodram: Aprils Mutter ist zwar stets guten Willens, kann sich aber nicht von ihrem narzisstischen, cholerischen Freund trennen, der sie schon lange betrügt und der nun auch noch ein Auge auf die Tochter wirft.

Eine Zufallsbekanntschaft bringt die Wende. In höchster Verzweiflung irrt April durch die Gassen, die Kamera fokussiert ihre Beine in Großaufnahme. Andere Beine, Männerbeine drängen an sie heran, ein Hund schwirrt auch noch herum, sie scheint schon fast ganz aufgelöst zu sein im Gewimmel der Großstadt, menschliches Treibgut… aber dann erweisen sich zwei der Männerbeine als Felsen in der Brandung, sie gehören einem redlichen Matrosen, die beiden verlieben sich ineinander - und irgendwann fahren sie dann gemeinsam hoch aufs Dach eines der Hochhäuser Manhattans.

Dort oben ist die Großstadt nicht mehr nur der Moloch, der die Individuen verschlingt. Aus der Vogelperspektive wird das Geplante, Funktionierende an ihr sichtbar und auch hörbar. Die dichte, dumpfe Lärmkulisse entwirrt sich zu diskreten, sortierbaren Klangereignissen. Hier zeigen April und ihr Matrose einander, wie die Straßenzüge kerzengerade in die Tiefe des Raums führen, wie die Autos die Spuren halten und wechseln, wie die vielen, kleinen Menschen da unten vor sich hin wuseln (manche mögen unter die Räder kommen, die allermeisten erreichen doch ihr Ziel). In Sylvie ist nur das eine Hochhaus, auf dem die deutschen Besucher landen, neu, in Applause ist die Idee “Hochhaus” überhaupt neu.

New York 1929 ist eine junge Großstadt und deshalb ist auch der Blick auf New York ein junger Blick auf die Großstadt. Die Kamera ist zumeist hinter April und dem Matrosen und außerdem relativ hoch positioniert, nur ihre Köpfe sind unten noch im Bild, manchmal schwenkt sie noch höher, sodass die beiden ganz aus dem Blick geraten. Auch das Geländer, an das sie sich lehnen, schaut nicht allzu stabil aus. Nie würden die beiden darauf kommen, auf dem Hochhaus lässigen Schabernack zu treiben, wie Jahrzehnte später Sylvie und Paul. Der Blick vom Hochhaus herunter ist noch kein souveräner Blick, weder ist von vorn herein klar, wie die Welt von da oben ausschaut, noch, was der Blick mit den Blickenden anstellt. Der Mittelpunkt des Universums zu sein: Das müssen April und ihr Matrose erst noch üben.

Konfetti 38: Bücher

Über "die verschmelzung von book mit looks, die verschiebung von book zu looks" schreibt die österreichische Schreiberin und Kinogängerin Sissi Tax in ihrer schönen, schmalen Schrift "the looks, not the books" (Leipzig: Institut für Buchkunst, 2016), die auch mich nachhaltig sensibilisiert hat für den semantischen Komplex Kino-Buch-Frau. Einer der Kronzeugenfilme in "the looks, not the books" ist John M. Stahls Leave Her to Heaven (1945), insbesondere die Anfangsszene, in der der männliche Protagonist sein eigenes Portrait auf der Rückseite eines Buches entdeckt, das eine ihm im Zugabteil gegenübersitzende unbekannte Schöne liest (siehe auch hier). 

In Mervyn LeRoys nur ein Jahr später entstandenem Without Reservations bin ich auf eine Zwillingsszene gestoßen. Tatsächlich sind in dieser reichlich absurden romantischen Komödie Kino und Buch, look and book, von Anfang an so eng ineinander verzahnt, dass keine Möglichkeit besteht, sie wieder auseinanderzudividieren. Der Film beginnt mit der Testvorführung eines Newsreelclips, der über den Siegeszug eines fiktonalen Bestsellers namens "Here´s Tomorrow" berichtet. Die Autorin des Buchs, Christopher Madden (Claudette Colbert), ist ebenfalls Teil der Newsreel. Ob sie einen Schlüsselroman zur Lage der Nation und der Welt verfasst habe, wird sie gefragt. Sie weist das lächelnd zurück, die Geschichte samt Hauptfigur gehöre ins Reich der reinen Fiktion: "Any resemblance between Mark Winston and any living person is purely coincidental."

Nur: Ist die Ähnlichkeit des gezeichneten Gesichts des Titelhelden, das auf dem Umschlag von "Here´s Tomorrow" zu sehen ist, mit dem Gesicht eines der größten Filmstars der Zeit ebenfalls "purely coincidental"? Freilich evoziert die Skizze gerade nicht das Gesicht von Cary Grant, der laut der fiktionalen Newsreel in der anstehenden Verfilmung des Buches die Hauptrolle übernehmen soll. Das gezeichnete Antlitz hat ein deutlich markanteres Kinn als Grant, dafür sind Nasen und Augen kleiner, die Stirn breiter…

Wenige Szenen später sitzt dieses Gesicht der Autorin leibhaftig gegenüber, in einem Zug, der sie nach Hollywood bringen soll, zur Vorbereitung der Dreharbeiten. Aber sie bemerkt zunächst nichts, beschäftigt sich mit ihren Notizen, während sich auf der Bank ihr gegenüber zwei uniformierte Männer niederlassen. Auch wir sehen zunächst deren Gesichter nicht, aber erkennen einen der beiden an seiner Stimme: Ohne jeden Zweifel handelt es sich um John Wayne, der ebenso offensichtlich die Vorlage der Zeichnung auf dem Buchcover ist. Die Verschmelzung von book und looks hat ihren Ort zunächst nicht im Bild, sondern auf der Tonspur.

Nur, dass innerhalb der Fiktion des Films zwar ein Filmstar namens Cary Grant, aber keiner namens John Wayne existiert. Aus Sicht von Christopher ist das Gesicht, das sie anblickt, als sie schließlich doch aufblickt, und das sie gleich verdutzt mit dem Titelbild ihres Buches abgleicht (praktischerweise liest eine andere Mitreisende "Here´s Tomorrow") ein zufälliges Allerweltsgesicht; und dessen Ähnlichkeit mit der Coverzeichnung kann ihr nur als eine pure und deshalb doch wieder sinntragende Koinzidenz erscheinen, als ein Wink des Schicksals. (Das Coverbild ist offensichtlich ein Schwellenphänomen - aber spiegelt es nun die Welt ins Buch hinein, oder, andersherum, das Buch in die Welt hinaus?) Tatsächlich wird Kit, ob der plötzlichen Materialisierung der von ihr ersonnenen literarischen Figur, erst aus der Bahn ihrer eigenen Gedanken, dann vom geradlinigen Weg in Richtung Hollywood abgelenkt.

Gemeinsam mit den beiden Soldaten begibt sie sich auf einen anderen, ungerichteten Trip, auf einen “ohne Reservierung”, der nicht in die Filmmetropole an der Westküste, sondern ins amerikanische Heartland führt und den die Schriftstellerin außerdem inkognito antritt. Um an die Realität des Mannes, in den sie sich natürlich bald verliebt, zu glauben, muss sie die Autorenschaft (an ihm) leugnen - und stattdessen selbst zu einer Fiktion werden. Passend zu Waynes Rollennamen Rusty wird sie zu Kitty. Anders ausgedrückt: Jetzt sehen wir plötzlich zwei Weltstars dabei zu, wie sie Allerweltsamerikaner spielen, die eine Allerweltsliebesgeschichte eher füreinander aufführen als dass sie sie wirklich erleben würden. Zu allem Überfluss erweist sich diese Liebesgeschichte dann auch noch als eine spiegel-, beziehungsweise geschlechterverkehrte Version der Liebesgeschichte, die das Buch "Here´s Tomorrow" erzählt. 

"Time Without End" heißt das fiktionale Buch in Leave Her to Heaven; in Without Reservations eben: "Here´s Tomorrow". Im Kern ist das zweimal derselbe Titel, einmal in der Noir-, einmal in der Comedyvariante. Es geht in beiden Fällen um eine Fiktion der ewigen Wiederkehr, in beiden Filmen sind es Bücher, die ein System von Spiegelungen und einander verfehlenden Blicken in Gang setzen. (Oder, genauer: Es sind Buchumschläge, die zu Umschlagplätzen von Identität werden.) Ihnen entspringt eine Mechanik der Projektion und der Selbstfiktionalisierung, die auf ein letztlich nicht zielführendes, produktives, sondern zirkuläres bis, Happy End hin oder her, offen destruktives Begehren hinausläuft.

Wednesday, September 25, 2019

Konfetti 36: Silhouette

Nacktheit ist im Kino längst nicht mehr der Skandal, der sie einmal war. Dennoch stellt sie immer noch eine Art Grenz- oder Testfall des Visuellen dar. Der Nacktheit ist die Behauptung einer absoluten Sichtbarkeit inhärent, auch deshalb (und eben nicht nur aufgrund von historishen Zufälligkeiten wie Zensurbestimmungen oder Moralvorstellungen) ist sie nach wie vor mit einem Tabu belegt. Das sich allerdings längst nicht mehr in absoluten Bilderverboten äußert, sondern in einer Tradition des spielerischen Ent- und Verhüllens, die sich durch alle Epochen der Filmgeschichte verfolgen lässt.

Mich interessiert ein Sonderfall. Wenn ein nackter Körper nicht “direkt” vor der Kamera steht, sondern sich als Silhouette auf einer Oberfläche, zum Beispiel einem Vorhangstoff, abzeichnet: Was genau sehen wir dann? Den Körper oder nur ein Bild, das den Körper darstellt? (Sehen wir im Kino nicht ohnehin immer nur sein Bild?) Führt von der Silhouette nicht stets eine Spur zum realen Körper? (Eine Spur allerdings, die unter Umständen täuschen kann.) Könnte man anders herum vielleicht sogar sagen, dass die Silhouette eines nackten Körpers noch nackter ist als ein Bild des “echten” nackten Körpers? Schließlich muss der Film, der eine nackte Silhouette zeigt, diese Nacktheit ausstellen, damit sie überhaupt sichtbar wird, er muss also gerade das, was einen nackten von einem angezogenen Körper unterscheidet, in den Blick rücken.

Nicht zuletzt ist die nackte Silhouette fast schon automatisch ein Zeichen, das Nacktheit kommuniziert. Die nackte Person ist - zumindest vorläufig - nur noch ein Bild der / ihrer eigenen Nacktheit und als solches etwas, das auf eine andere, betrachtende Person verweist - das gilt selbst dann noch, wenn in der entsprechenden Szene keine andere Figur anwesend ist. In einem solchen Fall können wir kaum anders, als uns vorzustellen: stünde dort jemand, so würde dieser jemand genau dies jetzt sehen. Der nackte Körper selbst braucht kein Gegenüber, unverstellte, "direkte" Nacktheit kann zum Beispiel auch einfach auf den Naturzustand des Menschlichen verweisen; die Silhouette eines nackten Körpers ist ohne Gegenüber hingegen kaum interessant. Die Nacktheit hat die Sphäre des Kreatürlichen verlassen und ist in den Bereich des ästhetischen Spiels hinübergetreten.

Eine Szene, die solche und ähnliche Fragen aufwirft, findet sich in Frank Wisbars Barbara - Wild wie das Meer, einem bundesdeutschen Inselmelodram aus dem Jahr 1961, das in den letzten Jahren, im Verlauf mehrerer Sichtungen, zu einem meiner Lieblingsfilme avanciert ist. Die Silhouette taucht an einem neuralgischen Punkt der Handlung auf: Die Arztwitwe Barbara (Harriet Anderson) übernachtet gemeinsam mit Paul (Helmuth Grien), der die Praxis ihres verstorbenen Mannes übernehmen soll, in einem Landgasthaus. Da der Platz eng ist, schlafen Barbara und Paul im selben Zimmer, getrennt nur von einem Stofftuch und einer Art Gatter.

Dass die beiden sich zueinander hingezogen fühlen, wurde vorher ausreichend deutlich. Ein Liebespaar werden sie allerdings erst durch die Silhouette der nackten Barbara, die sich, bevor sie sich ins Bett legt, kurz auf dem Leintuch abzeichnet. Da es sich um einen noch weitgehend züchtigen Unterhaltungsfilm handelt, ist die Nacktheit nur Andeutung, aber eben: eine entscheidende Andeutung. Auf dem Stoff zeichnet sich ab, wie Barbara sich, aufrecht stehend, dabei die Rundungen ihres Körpers betonend, das Kleid über den Kopf zieht. Paul schaut zunächst in ihre Richtung, dann richtet er den Blick hilflos nach oben.

Er selbst hatte sich vorher, ganz ohne Silhouette, das Hemd ausgezogen. Sein nackter Körper ist im Bild deutlich präsenter als der ihre. Aber anders als seine ist ihre eine kommunikative, kalkulierte Nacktheit: Während er sich einfach nur auszieht, kontrolliert sie, was er von ihr sehen darf. Im nächsten Schritt kontrolliert sie, was er von ihr berühren darf. Nachdem sie eine Weile still nebeneinander liegen, gleichzeitig getrennt von und vereint durch Wisbars Montage, die die beiden auf Kopfkissen gebetteten Köpfe zeigt, in Großaufnahmen isoliert, schiebt Barbara eine ihrer Hände durch einen Spalt in der Stoffwand und lässt sie von Pauls Hand einfangen. Anschließend steht sie auf und blickt, durch einen anderen Spalt, zu ihm herunter. Weiterhin ist sie ihm nur als ein Bild verfügbar, allerdings nun als ein Bild, das Annäherung zulässt. Durch die Latten des Gatters hindurch küssen sie sich, und erst dann öffnet Barbara eine hölzerne Tür - es öffnet sich, anders ausgedrückt, ein dritter Spalt, der ihn, so steht zu vermuten, zu ihr führen wird.

Eine Verführungsszene, in der sich der Körper in ein Kommunikationsmittel verwandelt, über das souverän verfügt wird. An die Stelle der Wucht sexuellen Begehrens, die geläufigen Vorstellungen zufolge idealerweise vom ganzen Körper in all seinen sinnlichen Dimensionen und außerdem gewissermaßen in einem Ruck Besitz ergreifen soll, setzt Wisbars Film eine Abfolge erotischer Dispositive, die auf einzelne Sinne (Blick; Tastsinn) und isolierte Körperteile, beziehungsweise -aspekte (Gesicht, Hand, Nacktheit) verweisen; diesen korrespondiert eine Abfolge von Öffnungen, die metaphorisch den Geschlechtsakt vorwegnehmen.





















Außerdem verweist die Szene auf eine andere, frühere im Film. Während einer feuchtfröhlichen Feier landet Barbara mit einem spanischen Matrosen in einem Stall. Erst streckt sie sich einladend im Stroh aus, aber als er sich auf sie legt und sie stürmisch zu küssen beginnt, streckt sie ein Bein aus - und öffnet mit ihren Zehen ebenfalls ein Gatter. Hinter dem sich eine Gruppe von Schafen befindet, die sogleich das Liebesnest stürmt und den Matrosen vertreibt. Geht es also darum, dass Barbara die “tierische” Sexualität ablehnt zugunsten einer verfeinerten und letztlich fast körperlosen Liebeskunst? Wohl kaum, sowohl Barbara als auch Wisbar haben einfach nur ein filmisches, effektbewusstes Verhältnis zum Sex.
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Tuesday, September 17, 2019

Zu den Sternen, hierher


Es mag, der beiden "wilde Tiere auf verlassenen Raumstationen"-Szenen zum Trotz, dem Zufall geschuldet sein; aber mich interessiert doch die sonderbare Ähnlichkeit von High Life und Ad Astra. Schon die Ausgangssituation: In beiden Filmen wird die Hauptfigur mit einer neuen, posthumanistischen Ordnung des Wissens konfrontiert , die sie zurückweisen muss, zugunsten von primären Bindungen, die den Massstab des Menschlichen respektieren. (Ein zentraler Unterschied, allerdings: in High Life geht es um den posthumanistischen Gehalt, in Ad Astra um die posthumanistische Form dieser neuen Wissensordnung). Insofern sind beides skeptische, vielleicht auch konservative Filme und Ad Astra ist zwar der pragmatischere, aber nicht unbedingt der weniger pessimistischere. Eben weil sich am Ende keine neue Schöpfung andeutet, sondern eine resignative Anerkennung der Welt als eine beschädigte. Der Ausweg in die Biologie ist verschlossen, es genügt, wenn man die psychologische Evaluierung wieder besteht. Mir ist das, glaube ich, näher.

Wednesday, September 11, 2019

Konfetti 35: Liebesbriefe

Es ist nicht unbedingt ein Akt der Notwehr, aber doch einer der bestimmten Ablehnung: Ich wünsche mich, während ich Peter Farrellys Green Book sehe, in einen anderen Film. In einen, der im realexistierenden Green Book als Ahnung enthalten ist, aber sich nicht entfalten kann. Und zwar wünsche ich mich in einen Film, der seinen Ausgangspunkt nicht bei der Konzertreise nimmt, die den schwarzen, distinguierten Pianisten Don Shirley (Mahershala Ali) und dessen weißen working-class-Chauffeur Tony Vallelonga (Viggo Mortensen) durch den amerikanischen Süden führt, oder jedenfalls nicht bei der Freundschaft, die sich zwischen den beiden ungleichen Reisenden nach initialen Spannungen erwartungsgemäß entwickelt; sondern bei einem Briefwechsel, der eine dritte Figur ins Spiel bringt: Tonys Frau Dolores (Linda Cardellini).

Die bittet ihren Mann vor dessen Reiseantritt: Bitte schreibe mir doch regelmäßig. An Tonys brummeliger Antwort ist abzulesen, dass das geschriebene Wort nicht gerade seine Stärke ist (während er in seinen wasserfallartigen Redefluss gelegentlich durchaus rhetorische Perlen einfließen lässt: “I'm not worried. In fact, when you see me worried, you'll know”). So kommt es, dass er sich die Briefe nach hause bald von Don diktieren lässt. Wodurch sich deren Inhalt und Form radikal verändern. Aus - so steht zu vermuten - grobschlächtigen, kurz angebundenen Wasserstandsberichten werden über Nacht glühende Liebesbriefe, geschliffen formulierte Sehnsuchtspoesie.

Im Film ist das, wie gesagt, nur eine Nebenhandlung. Die sich, das ist das zentrale Problem, das ich mit Green Book habe, rückstandslos einfügt in eine Ökonomie der soziokulturellen Aushandlung. Wie Tony dem Pianisten Street-Smartness beibringt, erweckt Don in seinem Chauffeur den Sinn für das Wahre, Gute und Schöne (und nebenbei werden, wieder und wieder, Alltagsrassismen symbolisch besiegt und Klassenschranken, genauso symbolisch, eingerissen). Dieses Gegeneinanderaufrechnen sorgt dafür, dass der Briefwechsel, wie alles andere, eine rein funktionale Drehbuchidee bleibt, ein Rädchen in einem Plotgetriebe, das letztlich keine Verwendung hat für die leise, ironische Perversion, die in diesem für sich selbst genommen schönen Einfall angelegt ist.

Denn schließlich kann man die Sache auch so sehen, dass Tonys Briefe, sobald er sie sich von Don diktieren lässt, gar nicht mehr Tonys Briefe sind; sondern eben Dons. Tony ist gar nicht Beteiligter, sondern lediglich ein Medium dieser Kommunikation. Tatsächlich macht eine Szene spät im Film deutlich, dass Dolores genau weiß, aus welchem Kopf die poetischen Ergüsse stammen, die sie über mehrere Wochen hinweg erhalten hat: Als Don nach dem Ende der Konzertreise Tonys Wohnung aufsucht, umarmt sie den Besucher und flüstert ihm ihren Dank ins Ohr. In dem auf Oscartauglichkeit optimierten Film, der Green Book leider ist, verweist diese Botschaft einzig auf Dolores’ Freude darüber, dass Don ihrem Mann “neue Horizonte eröffnet” hat, die möglicherweise auch auf das Eheleben ausstrahlen. In dem anderen, besseren Film, den ich mir ersehne, könnte diese Umarmung eine ganz neue, verborgene Welt evozieren.

Es ist das erste und einzige Treffen der beiden im Film. Vorher, wenn Don die Briefe diktiert, hat er nur eine vage Ahnung von der Empfängerin, und auch Dolores weiß kaum etwas über den eigentlichen Autor der Worte, die sie liest. Gerade in diesem doppelten Nichtwissen liegt das Potential dieser Briefe. Es ermöglicht beiden Seiten, die Kommunikation zu überformen mit eigenen Projektionen. Der allein in einem extravagant ausgestatteten New Yorker Appartment lebende Don ist, das macht eine weitere Szene des Films (auch die eingebaut in die aufdringliche Ökonomie soziokultureller Aushandlung) deutlich, schwul, die reale Dolores dürfte ihm kaum - aber natürlich kann man sich auch da nicht sicher sein - als ein Objekt erotisch-ästhetischer Anbetung taugen. Was ihn am Briefeschreiben fasziniert, ist vielleicht eher der Wunsch, mit seine Kunstfertigkeit für einmal einen Menschen ganz persönlich, intim zu berühren. Dolores wiederum sehnt sich weniger nach dem konkreten männlichen Körper Dons, als nach einem Ausbruch aus ihrer engen Lebenswelt. Die Briefe sind Elemente einer doppelt verfehlten Kommunikation - die aber trotzdem stattfindet und eine Funktion erfüllt, weil sie die Erfahrungswirklichkeit zweier Menschen verändert und die von identitären Zuschreibungen überformte Realität um einen Möglichkeitsraum erweitert. Oder hätte erweitern können, wenn der Film denn bereit gewesen wäre, es zuzulassen.

Tuesday, June 18, 2019

Konfetti 34: Blick


Der Production Code der Filmindustrie Hollywoods, dem sich zwischen 1934 und Mitte der 1960er Jahre alle amerikanischen Produktionen, die auf eine landesweite Auswertung spekulierten, unterwerfen mussten, trägt gelegentlich seltsame Spuren in die Filme ein. So zum Beispiel auch in Mervyn LeRoys Waterloo Bridge (1940), einem Film, in dem es sehr zentral darum geht, dass eine Frau für Geld mit Männern schläft, in dem das Wort “prostitution” aber kein einziges mal fällt. Wenn die Hauptfigur des Films, Myra (Vivien Leigh), sich dazu entschließt, ihren Lebensunterhalt mit Sex zu verdienen, wird das stattdessen, in einer der außergewöhnlichsten Filmszenen, die mir in letzter Zeit begegnet sind, über ihren Blick kommuniziert.








Zu Beginn steht Myra, mit dem Rücken zur Kamera, in einer Ausbuchtung der Londoner Brücke, die dem Film ihren Namen gibt. Und zwar genau an derselben Stelle, an der zu Filmbeginn ihr Love-Interest, Roy (Robert Taylor), gestanden hatte und von der aus die Liebesgeschichte der beiden ihren Ausgang genommen hatte. Inzwischen ist Roy fort, im Krieg, Myra hält ihn sogar für tot und nun ist sie eine vereinzelte verlorene Seele auf der Brücke. Dann wird sie von einer Männerstimme aus dem Off angesprochen. Harmloser Smalltalk ist das, dessen Intentionen freilich glasklar sind. Die Kamera registriert, wie sich in Myras Rücken Spannung aufbaut. Schließlich dreht sie sich um und schaut ins Off des Bildes, zuerst mit einem passiven, zurückhaltenden Gesichtsausdruck, dann zuckt ein Lächeln über ihre Lippen, ein Lächeln, das mehrmals ansetzt, erst beim dritten Versuch komplett gelingt, und dann läuft sie seitlich aus dem Bild heraus.

Der Film lässt das in Unschärfe gehüllte, nun menschenleere Brückengeländer ein paar Sekunden lang stehen. Es folgt eine kurze Montagesequenz, die vergehende Zeit bezeichnet - die Brücke im Wechsel der Jahreszeiten. Freilich löst sich der Film mit dem Übergang von der Romanze zur Prostitution von diesem Schauplatz: Die nächste Szene spielt am Bahnhof der Stadt, und hier kommt es auch zum erwähnten Blick. Myra läuft auf eine Gruppe Soldaten zu, die einem ankommenden Zug entsteigen. Die Kamera fährt vor ihr her und konzentriert sich dabei auf ihr Gesicht. Myra kontrolliert zunächst ihre Frisur mithilfe eines kleinen Spiegels, dann blickt sie sich um. Genauer gesagt: Sie scannt ihre Umgebung ab, dreht den Kopf mal leicht nach links, mal leicht nach rechts, folgt kurz der Bewegungen eines Passanten, wendet sich dann schnell dem nächsten zu. Gelegentlich umspielt ein Lächeln ihre Lippen, jenes Lächeln, das ihr auf der Brücke noch nicht so recht gelingen wollte, das aber nun seinen korrekten Ort gefunden hat und Bereitschaft zur Kommunikation unter bestimmten Bedingungen anzeigt.

Über eine halbe Minute dauert die Einstellung, der eine weitere, fast ebenso lange folgt, die noch näher an Myras Gesicht heranrückt. Dessen Mikrobewegungen kommen schließlich zum Stillstand, das Antlitz verfällt in Schockstarre: Roy lebt doch noch, er ist einer der Soldaten, die dem Zug entsteigen. Allerdings ist dann schon wieder die Mechanik des Melodrams. Erstaunlicher ist das Vorhergehende. Und zwar ist Myras Gang durch den Bahnhof deshalb so erstaunlich, weil der Film Prostitution nur andeuten, nicht zeigen oder auch nur verbal vereindeutigen darf. Weil er die Prostitution und alles, was sie für die Figur bedeutet, nur über den Blick kommunizieren kann. Dieser Blick zeigt, das zeigt der Film, erstaunlicherweise ohne in Moralismus zu verfallen, dass sich für die Hauptfigur in der Tat alles verändert hat, seit sie dem Geschäft der käuflichen Liebe nachgeht. Myra blickt in dieser Szene, als würde sie die Welt ein zweites Mal entdecken. Weil sie nun Dinge in ihr und vor allem an den Männern wahrnimmt, die sie vorher nicht gesehen hatte.










Es gibt, nebenbei bemerkt, am Ende des Films eine Szene, die eine pointierte Spiegelung dieses Blicks enthält. Roy, der lange nicht begreift und auch nicht begreifen will, wie Myra in seiner Abwesenheit ihr Geld verdient hat, wird, als seine Geliebte verschwindet, von einer anderen Figur durch das Londoner Rotlichtviertel geführt, in der Hoffnung, dass Myra dort irgendwo unterwegs ist. Wenn im Verlauf dieses Rundgangs Roy endlich doch ein Licht aufgeht, kann sich das aus Zensurgründen ebenfalls nicht im Dialog niederschlagen. Sondern muss sich, gleich noch einmal, in einem Blick niederschlagen. Genauer gesagt in der Art, wie Roy zunächst verwirrt, dann zunehmend bedröppelt aus der Wäsche schaut. „You don’t need to say it, I understand“, meint er zuletzt.





Wednesday, May 29, 2019

Konfetti 33: Bisamratte

Information ist laut Gregory Bateson “ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht”. Im Film ist zwar - das macht ihn zur Kunst - nicht von vorn herein geklärt, welcher Unterschied einen Unterschied ausmacht und welcher nicht; aber vielleicht könnte man dennoch sagen: der Film ist unter allen Künsten diejenige, in der die meisten Unterscheidungen getroffen werden können, und vielleicht ist sie deshalb tatsächlich die informationsreichste. Der Film, beziehungsweise jeder einzelne Film, ist ein hochkomplexer Bedeutungsgenerator. Jeder Aspekt, jede Figur, jede Szene, jedes Wort, jedes einzelne Bild, jede Differenz zwischen zwei Bildern ist mit Sinn regelrecht getränkt, kann als Keimzelle dienen für fast unendliche Sinnnuancen. Es braucht nur jemanden, der oder die den Sinn an den Film heranträgt.

In The Chewin’ Bruin’, einem kurzen Animationsfilm von Bob Clampett, ist die Information, an der ich hängenbleibe, zunächst nur eine nicht exakt bestimmbare Irritation. Irgendetwas stimmt nicht mit einer Bildkomposition, die zeigt, wie eine Gruppe Bisamratten sich auf einer schneebedeckten Wiese tummeln und dabei von einem Jäger beobachtet werden. Genauer gesagt scheint eines der sieben Tiere, während sich die imaginäre Kamera auf die Gruppe zubewegt, kurz zu blinken.

Da ich den Film zuhause auf DVD sehe, habe ich die Möglichkeit, mir die Szene noch einmal genauer anzuschauen, Bild für Bild. Und tatsächlich: Während alle anderen Bisamratten kontinuiertlich im Bild bleiben und auch nur minimale Bewegungen vollführen, verschwindet die siebte, kleinste, für zwei Einstellungen komplett aus dem Bild. Nur um anschließend ihre alte Position wiedereinzunehmen. Der Unterschied, der einen Unterschied macht, ist in diesem Fall eine überraschende Leerstelle. Die siebte Bisamratte wird markiert, eben weil sie kurzfristig gar nicht mehr da ist, weil sie weniger stabil zu sein scheint als ihre Mitgeschöpfe.

Genauer gesagt ist sie, wie in der Folgenden Bildstrecke nachvollzogen werden kann, zwar in zwei Einstellungen verschwunden, aber nur in einer Zeichnung, die, leicht variiert, zweimal hintereinanderkopiert, im Film auftaucht. Wie in den meisten klassischen Animationsfilmen sind die Figuren in The Chewin’ Bruin’ mit einer Frequenz von 12 Bildern pro Sekunde animiert. Das heißt, jedes Stadium einer Bewegung ist, um den Film an die normale Vorführfrequenz anzupassen, und also auch auf der DVD, doppelt präsent. Wenn sich allerdings, wie in der Bisamrattenkomposition, innerhalb einer Sequenz die optische Perspektive aufs Geschehen verändert, dann geschieht das doch wieder kontinuierlich über alle 24 Frames pro Sekunde hinweg. Soll heißen: Die “Bewegungen” der “Kamera” - in diesem Fall ein kurzes “Travelling” - sind flüssiger als das, was sie “einfängt”.

Was nun ist die Bedeutung der wahlweise blinkenden oder kurzfristig verschwindenden Bisamratte? Gut möglich, dass es sich lediglich um einen Flüchtigkeitsfehler handelt, wie er dem äußerst produktiven Animation Department von Warner Brothers schon einmal unterlaufen kann. Im Produktionsjahr 1940 war alleine Bob Clampett für elf zwar kurze, aber jeweils sehr unterschiedliche und durchaus kunstvoll gestaltete Filme verantwortlich. Da die klassischen Zeichentrickstudios allesamt mit limited-Animation-Techniken wie Bildfolien und Cels arbeiteten, ist etwa denkbar, dass im Verlauf der Fertigung bei einem Bild eine der Folien vergessen wurde; und dass die Produzenten später, als das Missgeschick bemerkt wurde, der Ansicht waren, dass es nicht sinnvoll sei, wegen einer dereratigen Kleinigkeit (es handelt sich schließlich um die kleinste der sieben Bisamratten) eine Deadline zu gefährden.

Who knows. Aber auch: who cares. Im Kino emanzipiert sich die Bedeutungsgenese von der Produktionsrealität genauso gründlich wie von auktorieller Intention. Auf der Leinwand führen die Lichter und Formen ein Eigenleben. Vielleicht gilt das für Animationsfilme noch einmal verschärft. Wo der Realfilm noch automatisch an gewissen Vorgaben der Naturgesetzlichkeiten und der Alltagswahrnehmung abgegleichen wird (werden die auf der Leinwand außer Kraft gesetzt, so stellt sich automatisch die Frage: Wie, zum Teufel, habe sie das nun schon wieder gemacht?), ist im Trickfilm grundsätzlich alles möglich. Die relative Kontinuität der Bilder ist, auch wenn sie in fast allen Filmen des Genres beobachtet werden kann, bloße Konvention. Kein Bildelement hat ein Recht auf oder die Pflicht zur fortgesetzten Existenz.

Genau das ist für mich auch die Bedeutung der Markierung, die Clampett, ob bewusst (was ich ihm durchaus zutraue) oder nicht, in seinen Film einträgt. Die instabile Bisamratte verweist auf die Instabilität des Sinnsystems Film an sich, auf das nichthintergehbar Diskontinuierliche an ihm. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die narrative Rahmung. Schließlich ist es, siehe oben, ein Jäger, der die Bisamratten aufstöbert und der außerdem, kurz nach dem Blinken, mit seinem Gewehr auf die Gruppe zielt. Aber in der Hoffnung, die Beute dingfest zu machen und damit einen stabilen Bedeutungszusammenhang von Ursache und Wirkung, Jäger und Gejagtem, Schuss und Treffer zu etablieren, zielt er, wie The Chewin’ Bruin’ zeigt, buchstäblich ins Leere. Selbst mit vorgehaltener Waffe lässt sich das Kino, und ganz besonders das animierte Kino, nicht auf fixierte Bedeutungsgehalte festlegen.