Tuesday, October 30, 2018

Konfetti 23: Völkerball

Guillaume Brac ist ein Auteur der freien Zeit, des Rumhängens, des Urlaubflirts. Seine Filme spielen in den Sommerferien oder in sommerferienartigen Situationen: Arbeit, Schule, Uni sind weit weg, so weit weg, dass man fast vergessen könnte, dass es diese Zwangssysteme überhaupt gibt. Stattdessen etablieren sich andere sozialen Regelsysteme, andere Blickregime, andere Bildrhythmen. Nicht die Aussicht auf langfristiges Vorankommen, sondern kurzfristige Bedürfnisse und die Schönheiten des Moments bestimmen sein Kino.

Vielleicht auch deshalb hat Brac, wiewohl seit geraumer Zeit ein Liebling der französischen Filmkritik, bislang nur einen “echten” langen Spielfilm gedreht: Tonnerre (2013). Eher scheint es ihn zu kurzen und mittellangen Formaten zu ziehen, die um ein, zwei Situationen herum gebaut - und stets stark von den Darstellerinnen und Darstellern her gedacht - sind: Une monde sans femmes (2011), sein Durchbruchsfilm, ist nur gut 50 Minuten lang, Contes de juillet (2017) dauert zwar knapp über eine Stunde, ist aber trotzdem nur ein (großartiges!) Pseudofeature, das aus zwei voneinander unabhängigen mittellangen Filmen besteht. Sein neuester Film L'île au trésor wiederum ist zwar “abendfüllend”, aber nicht, wie die anderen genannten, fiktional, sondern dokumentarisch.

Das Dokumentarische ist für Brac vielleicht in erster Linie eine weitere Möglichkeit, sich den - aus Sicht seines dem Ephemeren gewidmeten Kinos - totalitären Zurichtungen der Spielfilmform zu entziehen. L'île au trésor ist in einem Naherholungsgebiet in der Umgebung von Paris gefilmt, das um einen natürlichen Teich herum entstanden ist (und das, glaube ich, auch schon der ersten Hälfte von Conte de juillet als Schauplatz diente). Der Titel ergibt Sinn: Diese Freizeitoase auf einer früh im Film eingeblendeten Landkarte sieht tatsächlich aus wie eine blau-grüne Schatzinsel inmitten eines durchurbanisierten Niemandslandes. Der Film besteht aus Portraits von Besuchern und Zufallsbeobachtungen, locker hinter-, oder fast eher nebeneinander aufereiht. Wenn der Sommer zuende geht, ist auch der Film aus.

Der Film beschreibt ein soziales Spektrum, im engeren Sinne ethnografisch ambitioniert ist er allerdings nicht. Genau wie Bracs fiktionale Arbeiten sich offensichtlich einer außergewöhnlichen Beobachtungsgabe, einer unbedingten Aufmerksamkeit für soziale Situationen verdanken, mobilisiert der neue Film die narrativen Potentiale des Alltags und zeigt, dass die Versuche einiger Jungs, sich an den Aufsehern vorbei ins Bad zu schleichen, als Ausgangspunkt gleich mehrerer tragikomischer Miniaturen dienen können.

Unter den vielen kleinen Schönheiten des Films sei nur eine Einstellung herausgegriffen: ein Mädchen, vielleicht acht Jahre, beim Ballspiel. Genauer gesagt: beim Völkerballspiel, also bei jenem sadistischsten aller Ballspiele, bei dem es darum geht, die gegnerischen Spielerinnen und Spieler mit Ballwürfen am Körper zu treffen, regelrecht “abzuschießen”. Die von Martin Rit durchweg mit unaufdringlicher Eleganz geführte Kamera isoliert das Mädchen im Bild, die restliche Spielsituaton bleibt unsichtbar (auch hier interessiert Brac nur das Detail, nicht das Ganze), beziehungsweise lässt sie sich nur aus den Bewegungen und Blicken des Mädchens erahnen. Sie scheint die letzte “Überlebende” ihres Teams zu sein. Das heißt, rund um sie ist die gegnerische Mannschaft platziert und versucht, auch noch sie außer Gefecht zu setzen.

Das Tolle an der Einstellung ist die unbedingte Euphorie des Mädchens, ihre totale Hingabe an das Spiel. Wild schreiend und lachend rennt sie hin und her, vor dem Ball flüchtend. Für ein, zwei Minuten fühlt sie sich wie das Zentrum der Welt. Und zwar, wie Bracs Film zeigt, zurecht.

Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Konfetti 22: Listen

Cinephilie ist nicht zu trennen von der Praxis des Listenmachens, aber auch nicht vom Unbehagen an der Praxis des Listenmachens. Denn in der cinephilen Auflisterei - der besten Filme, der schlechtesten Filme, der unterschätztesten Schauspielerinnen, der überschätztesten Westernregisseure und so weiter - kommt all das, was an Cinephilie pathologisch ist oder zumindest sein kann, besonders deutlich zur Geltung: eine zwanghaft-kompulsive Verbissenheit, die Ordnung schaffen will, wo doch erst einmal nur Schaulust ist; der Narzissmus derjenigen, die alles und noch viel mehr und vor allem ganz viel völlig Unbekanntes gesehen haben; außerdem eine latent aggressive Note, etwa, wenn der populäre Szenefavorit auf die hinteren Ränge abgeschoben wird, einfach, weil das meine Liste ist und ich hier machen kann, was ich will.

Dennoch liebe ich Listen und erstelle gelegentlich auch welche. In einer populären Facebookgruppe, in der die Mitgliederinnen und Mitglieder ihre monatlichen Lieblingsseherlebnisse auflisten, bin ich allerdings nur noch passiv, als Leser, dabei. Ein dort immer mal wieder in der einen oder anderen Form auftauchender Streit betrifft die Länge der Liste: Könne jemand, wird gefragt, der (die weit überwiegende Mehrheit der Mitglieder ist männlich) regelmäßig mehr als 30 bis 40 Filme pro Monat aufliste, überhaupt ein “gesundes” Verhältnis zum Kino haben? Beziehungsweise neben dem Kino noch “ein Leben”?

Mich verwundern solche Fragen, schon aufgrund praktischer Überlegungen. Statistischen Erhebungen zufolge schaut jede und jeder Deutsche im Schnitt über 200 Minuten Fernsehen pro Tag. Das entspricht locker der Laufzeit zweier kompletter Spielfilme. 60 Filme pro Monat anzuschauen ist so gesehen keineswegs ein Zeichen für ein irgendwie extremistisches Verhalten, sondern lediglich eine unter mehreren Alternativen für die Freizeitgestaltung.

Es geht mir aber gar nicht darum (oder, ok, ein bisschen vielleicht schon), das Vielsehen zu verteidigen. Mich interessiert eher, warum in cinephilen Diskussionen - längst nicht nur in dieser speziellen Facebookgruppe - die Idee des Zuvielsehens überhaupt so präsent ist. Teilweise könnte sich das zurückführen lassen auf eine nachträgliche Internalisierung elterlicher Verbote und Mahnungen: Junge, geh doch mal raus. Nur müsste es dann andere Bereiche der popkulturellen Unterhaltung wie insbesondere das Fernsehen oder Computerspiele ebenfalls, beziehungsweise noch viel mehr treffen.

Ich habe allerdings den Eindruck, dass die Diskussion, zumindest in manchen ihrer Ausprägungen, kinospezifisch ist. Es scheint etwas am Kino, beziehungsweise an Filmen (denn wo und wie sie gesehen werden, spielt in diesen Debatten erst einmal keine Rolle) zu geben, das sie für Cinephile gleichzeitig zum Objekt der Begierde und verdächtig macht. Mehr als die exzessiven Nutzer anderer Produkte der Kulturindustrie sind Filmfans immer schon in Selbstrechtfertigungen verstrickt. Vielleicht, denke ich mir, liegt das an dem in mancher Hinsicht totalitären Anspruch, den Filme an ihr Publikum stellen. Anders als Fernsehen oder Musik fordern sie nicht nur unsere beiläufige, sondern unsere - zumindest halbwegs - konzentrierte Aufmerksamkeit und auch unsere körperliche Zugewendetheit. Sie etablieren ein recht eng gedachtes räumliches Verhältnis zwischen sich selbst und uns und zumeist fixieren sie uns dabei auf die eine oder andere Weise. Gleichzeitig geben sie uns, anders als Computerspiele oder, weniger deutlich, Bücher, nicht die Illusion, Kontrolle über sie erlangen zu können. Besonders deutlich ist das im Kinosaal, aber selbst zu hause vor dem Laptop stellt sich die Sache nicht grundsätzlich anders da. Natürlich kann ich den Film hier nach Belieben anhalten - aber dann ist er schlicht und einfach nicht mehr da, zumindest nicht mehr in all seinen Dimensionen.

Bühnenkünste wie das Theater wiederum mögen ein noch strengeres Regime für ihre Zuschauer etablieren. Aber es besteht da zumindest in der Theorie die Möglichkeit, die Bühne zu stürmen. Das projizierte Bild hingegen lässt sich von mir nicht beirren. Film ist, so gesehen, tatsächlich die asymmetrischste aller Kunstformen. Vielleicht lässt sich der Eingangssatz auch deshalb verallgemeinern: Cinephilie ist nicht zu trennen vom Unbehagen an der Cinephilie.

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Konfetti 21: Pferd und Beethoven

Claudia Weills Debüt Girlfriends, ein Klassiker des amerikanischen Independentkinos der 1970er, ist einer der ultimativen New-York-Filme. Genauer gesagt: einer der ultimativen New-York-indoor-Filme. Ein paar Szenen spielen auf der Straße, aber die meisten in Innenräumen, zumeist in Appartments, die deutlich zu eng geschnitten und eher behelfsmäßig eingerichtet sind. In Susan Weinblatts (Melanie Mayron) Wohnung liegen den gesamten Film über Umzugskisten herum. Es geht um eine Form von Wohnen, die noch nicht zur Häuslichkeit sich verfestigt hat. Und es geht um die Freiheiten einerseits, die Härten andererseits, die diese Form der urbanen Existenz mit sich bringt.

Susan hat zunächst eine Mitbewohnerin, Anne Munroe (Anita Skinner), die allerdings früh im Film heiratet und auszieht. Bald darauf besucht Susan die Frischverheirateten, die sich etwas außerhalb der Stadt aufhalten, in einem Sommerhaus. Es ist allerdings Winter, was sich spätestens in einer Einstellung zeigt, die aus dem Wohnzimmer des Hauses hinaus gefilmt ist und die für mich zu den schönsten dieses schönen Films gehört. Im Vordergrund ist der Fensterrahmen zu sehen sowie ein Gatter und die dürren Äste eines Baumes, dahinter steht ein Pferd auf einer verschneiten Wiese.

Die Einstellung folgt auf eine Szene, die mit einem entspannt-spielerischen Gespräch während des Mittagessens beginnt und damit endet, dass Susan halb frustriert, halb verirrt alleine am Tisch zurückbleibt, während ihre Gastgeber in einem anderen Zimmer einen Streit ausfechten. Man kann gar nicht so ganz genau sagen, wie es zu diesem Umschwung kommt. Eine Grundgereiztheit ist vermutlich von Anfang an vorhanden, Susan kommt nicht damit klar, dass sie im Leben ihrer Freundin nur noch als ein Besuch vorkommt, Anne weiß nicht, wie sie sich mit ihrer neuen Rolle arrangieren soll und ihr Mann hat das Gefühl, im Weg zu sein, ein überflüssiges Hindernis in der Auseinandersetzung zweier Frauen. In so einer Situation genügt eine ungeschickte Bewegung, ein allzu insistierender Blick, um die Geselligkeitsperformance zusammenbrechen zu lassen.

Es folgt, wie gesagt, die Pferdeeinstellung, zehn Sekunden lang, eine Naturminiatur eingelassen in ein Mosaik zivilisatorischer Neurosen. Auf der Tonspur ist, und erst das macht die Einstellung zu etwas Besonderem, Beethovens “Für Elise” zu hören. Allerdings nicht professionell vorgetragen, flüssig perlend, die einzelnen Anschläge wie an einer Schnur aufgezogen, sondern tastend, holprig, gelegentlich neu ansetzend oder Töne verfehlend.

Die volle Komplexität der Pferdeminiatur offenbart sich erst in der Einstellung, die auf sie folgt. Der anschließende Umschnitt zeigt zweierlei: Zum einen ist die Klaviermusik, wie man sich angesichts der Vortragsweise bereits denken konnte, in der Szene verankert; tatsächlich ist es Susan selbst, die am Klavier sitzt. Zum anderen befindet Susan sich zunächst alleine im Zimmer. Woraus folgt, dass der Blick auf das Pferd in der Einstellung vorher nicht nur nicht ihr eigener gewesen sein kann, sondern überhaupt nicht an die visuelle Perspektive einer Figur gebunden war.

Ein eigenartiger Blick ist das: Er ist markiert als ein Blick durch ein Fenster, von innen nach außen, aber gleichzeitig ist er autonom, entkörperlicht. Und er amalgamiert mit der zögerlichen Beethovenmelodie auf der Tonspur. Musik und Blick entspringen nicht ein und demselben Bewusststein, aber sie entsprechen einander. So ähnliche Bilder kennt man zur Genüge aus dem internationalen Autorenkino: Landschaftsaufnahmen und Klaviermusik, klassischer geht es kaum. Aber in Girlfriends schwingt noch etwas Anderes mit. Was hier isoliert wird, ist ein Stück ästhetische Erfahrung im Modus der Kontemplation, ein Naturschönes, das allerdings nicht zu einer stabilen, warenförmigen Postkartenansicht gerinnt, sondern brüchig bleibt, sich nur durch einen glücklichen Zufall ergibt, nicht ohne weiteres wiederholbar (oder mobilisierbar) ist. Entscheidend ist dabei gerade die Imperfektion, das Zögerliche des Klavierspiels: Weil dadurch ein subjektives Element in die Anordnung eingeführt wird. Das Resultat ist ein zerbrechlicher Moment des Glücks, der Übereinstimmung von Innen und Außen, Psyche und Welt, Kunst und Leben.

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Für mich ist die Pferdeeinstellung Teil einer kleinen Serie von Filmszenen, beziehungsweise -motiven, auf die ich zufällig gestoßen bin, durch die Arbeit an diesem Blog. Es geht in ihnen, auf jeweils unterschiedliche Weise, darum, wie eine weibliche Subjektivität zum Ausdruck kommt - oder eben nicht. Und gleichzeitig geht es um das Verhältnis von Bild und Ton. Gene Tierneys stumme Anrufung des Geliebten, die von der Tonspur gleichzeitig aufgegriffen und überschrieben wird; das Tschaikowski-Klavierkonzert, das in Vittorio Vottavafis Una donna libera den Gefühlen einer Frau zunächst Substanz verleiht, nur um sich, wenige Einstellungen später, in eine Autorität zu verwandeln, die über die Frau und das Bild gebietet; die Pfeife, die in The Man With the Golden Arm um Eleanor Parkers Hals hängt, die sie vor Vergewaltigern beschützen soll, aber nutzlos ist, wenn sie den Versuch unternimmt, aus einem allzu engen Drehbuchkorsett auszubrechen. (Auch Mae Wests Gesang in Belle of the Nineties passt in diese Reihe - allerdings als Gegenbeispiel eines offenherzigen, zumindest an der textuellen Oberfläche ungebrochenen, fast schon aggressiven Selbstausdrucks. Ton und Bild gehen eine unproblematische, gar utopische Verbindung miteinander ein.)

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Thursday, October 25, 2018

Konfetti 20: Pfeife

Otto Premingers The Man With the Golden Arm gilt als einer der ersten Filme, die Drogenmissbrauch offen thematisieren. Zumindest im Hollywoodstudiokino war das vorher nicht in dieser Form möglich und der Film selbst sorgte dafür, dass die Zensurregeln anschließend gelockert wurden. Die Hauptfigur Frankie Machine, ein heroinsüchtiger Kartenspieler, der von einer Karriere als Jazzmusiker träumt, wird von Frank Sinatra verkörpert, dessen gleichzeitig energetisches und fragiles Spiel im Zentrum des Films steht.

Durchaus zurecht. Und doch hat mich beim Wiedersehen eine andere Figur mehr interessiert: Frankies Frau Sophia, genannt Zosh, gespielt von Eleanor Parker. Die Figur ist dasjenige Element, das an dem in vieler Hinsicht erstaunlich realistisch anmutenden Film aus heutiger Sicht am Falschesten oder jedenfalls Fragwürdigsten wirkt, zumindest auf den ersten Blick. Sie verkörpert einen melodramatischen Exzess, der dem psychosozialmedizinischen Drama, das der Film in erster Linie ist, fremd bleibt: eine offensichtlich psychisch labile junge Frau, die vorgibt, nach einem Unfall ihre Beine nicht bewegen zu können, um Frankie, der sie nicht liebt, an sich zu binden.

Es liegt nahe, Parkers Figur zumindest teilweise metaphorisch zu lesen, als eine Verkörperung der Zwänge und Ängste (vor Veränderung, vor allem), die Frankie an die Droge binden. Auch, weil es eine andere, “gute” Frau gibt, die für die Hoffnung auf Gesundung steht: Eine von Kim Novak gespielte Nachbarin, bei der Frankie Unterschlupf findet, erst fürs Musizieren, später für den kalten Entzug. Parker hat beim impliziten Vergleich der beiden Frauen von Anfang an einen schlechten Stand. Bereits ihr Rollenname - Zosh Mashine - ist unvorteilhaft bis fast schon bizarr (Novaks Figur heißt dagegen wie ein harmloses, gutmütiges Buddy-Girlfriend: Molly Novotny).

Aber die beiden Frauen sind eben nicht, wie das in einem aktuellen, filmschulsmarten Film vielleicht der Fall wäre, tatsächlich psychische Projektionen. Sie bleiben gleichzeitig autonom gedachte Figuren einer fiktionalen Welt. Erst diese Dopplung verleiht ihnen Komplexität und, im Fall von Parker, Tragik. Letzteres, die Tragik, findet im Film eine sonderbare Verkörperung: in einer Pfeife, die Zosh um ihren Hals hängen hat. In erster Linie ist die Pfeife, auch das thematisiert Preminger offen, eine Rape-Whistle, ein letztes Hilfsmittel für eine im Rollstuhl sitzende und deshalb Vergewaltigern hilflos ausgelieferte Frau.

Als solche wird die Pfeife in The Man With the Golden Arm allerdings nicht eingesetzt, überhaupt hat sie im engeren Sinne keine narrative Funktion. Zosh sitzt fast den gesamten Film über hinter verschlossener Tür in ihrer Wohnung, manchmal gemeinsam mit Frankie, manchmal alleine. Sie sperrt die Welt aus, auf eine Pfeife ist sie dabei nicht angewiesen (erst recht nicht, weil sie ja eigentlich durchaus ihren Rollstuhl verlassen könnte). Dennoch bleibt die Kamera erstaunlich oft auf der Pfeife hängen und Zosh selbst greift immer wieder, wie unwillkürlich, zu dem Objekt, das sie um den Hals trägt. Aber nicht aus Angst; jedenfalls nicht aus Angst vor einer Vergewaltigung. Einmal bläst sie, im Verlauf einer Auseinandersetzung mit Frankie, in die Pfeife, aber halbherzig, es ertönt lediglich ein schwacher, jämmerlicher Ton. In diesem Moment ist für mich klar: Die Pfeife ist auch beides, materielles Objekt und Metapher. Sie ist nicht nur ein materielles Holfsmittel, sondern sie steht außerdem ein für Zoshs Wunsch, aus dem Korsett, das sie umgibt, auszubrechen; und zwar ist das ein Ausbruchswunsch auf zwei Ebenen, er richtet sich gleichzeitig gegen das Gefängnis, das sie sich selbst erbaut hat und gegen ein Drehbuch, das sie als Metapher missbraucht (und deshalb als Figur opfert).

Anders formuliert: Zosh sehnt sich nach einer Möglichkeit, sich Auszudrücken. Die Pfeife ist ein potentielles Medium dieses Ausdrucks, aber gleichzeitig unbrauchbar, weil sie keine Nuancen und Innerlichkeit darstellen kann, sondern lediglich einen einzigen, grellen Ton hervorbringt. Insofern ist sie letztlich doch nur ein weiteres Zeichen für die absolute Hilflosigkeit einer Frau, die nur funktional denken kann, weil sie, vom Drehbuch, nur funktional gedacht wird. Einmal bläst Zosh dann doch richtig, lauthals, in die Pfeife: Unmittelbar bevor sie sich vom Balkon stürzt und Selbstmord begeht.

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Konfetti 19: Tschaikowski

Musik im Film ist automatisch Filmmusik. Und zwar in dem Sinne, dass es stets eine zwingende, nicht verhandelbare Bindung gibt zwischen den Bildern und den Tönen, die sie begleiten. Insofern ist die filmwissenschaftliche Unterscheidung zwischen innerdiegetischer Musik (die ihren Ursprung in der Welt des Films hat, von den Figuren der Handlung gehört, vielleicht sogar von ihnen produziert wird usw.) und außerdiegetischer Musik (dem “Score”, der die Bilder “untermalt”, der atmosphärische und dramaturgische Akzente setzt, aber innerhalb der Diegese eine Realität hat), wie hilfreich sie im Einzelfall auch sein mag, aus systematischen Gründen fragwürdig. Weil sie nicht von der Materialität der audiovisuellen Gesamtheit Film ausgeht, sondern von erzähltheoretischen Setzungen.

Interessanter als die Frage, wie sich die Musik zur Narration verhält, finde ich eine andere, verwandte, die gleichzeitig diffuser und konkreter ist: Wo ist die Musik, die wir in Filmen hören, verankert? Zum Beispiel frage ich mich das in einer der wahnwitzigsten, hemmungslosesten Filmszenen, denen ich in letzter Zeit begegnet bin - entdeckt habe ich sie in Vittorio Cottafavis Una donna libera (1954). Cottafavis Film gehört zu einer Gruppe gesteigert musikalischer Melodramen, deren Eigentümlichkeiten einer eingehenderen Untersuchung harren: Filme, in denen das tragische Sich-Verfehlen der Liebenden nicht nur musikalisch ausformuliert wird, sondern fast schon direkt in der Partitur nachvollzogen werden kann. Andere Beispiele: Douglas Sirks Schlussakkord, Helmut Käutners Romanze in Moll; Alfred Hitchcocks The Man Who Knew Too Much (1956) passt, wiewohl nicht primär ein Melodrama, auch in die Reihe.

Im Fall von Una donna libera geht es um ein weltbekanntes Musikstück: um Tschaikowskis erstes Klavierkonzert, genauer gesagt um dessen erstaunliche Anfangsminuten. Sie begleiten, oder besser: sie sind verwoben mit einer Szene, die den Überschwang einer - für den Moment - alles überschwemmenden Liebe darstellt. Liana Franci (Françoise Christophe) hat sich in den Dirigenten Gerardo Villabruna (Pierre Cressoy) verliebt, für ihn ihren Verlobten verlassen und mit ihrer Familie gebrochen. Ihre Liebe wird, das ist zu diesem Zeitpunkt bereits zu ahnen, nicht erwidert, zumindest nicht adäquat. Er könne doch, sagt Gerardo in einer früheren Szene, nicht nur eine Frau lieben, da er mit seiner Musik stets zu so vielen gleichzeitig spreche. Wenn dann später, nach einer guten halben Stunde Laufzeit, Tschaikowskis Musikstück auftaucht (zum ersten, aber nicht zum letzten Mal; es ergreift in der Szene vom Film Besitz, gibt ihn hinfort nicht mehr frei), dann zeigt es nicht eine romantische Verschmelzung, eine Einswerdung an, sondern eine Liebe, die von ihrer Unmöglichkeit her gedacht ist.

Die Musik setzt am Ende einer Szene ein, in der Liana mit ihrer Mutter streitet. Genauer gesagt: sie setzt ein, wenn die Mutter sich, weil ihr keine Erwiderung mehr einfällt, frustriert umdreht und von ihrer Tochter entfernt. Die Musik nimmt den Platz der Mutter ein; und sie wird lauter, während sich die Tochter auf ihr Bett wirft und zu weinen beginnt. Gleichzeitig rückt die Kamera näher an Liana heran, isoliert ihren vom Schmerz überwältigten, zitternden Kopf auf dem Kopfkissen.

Wenn die Musik in diesem Moment einen Ort hat, dann befindet er sich in Lianas Inneren. Aber gleich darauf löst sich die Kamera von ihrem Gesicht und gleitet, während die Tschaikowskimusik (eine repetitive Streicherpassage) abermals lauter wird, über glitzerndes Wasser, es folgt ein Schwenk auf eine Villa, und, nach einem weiteren Schnitt und einem weiteren Schwenk, ein Blick durchs Fenster dieser Villa: Gerardo sitzt am Klavier - und spielt auf diesem offensichtlich die (sich gleichzeitig langsam in den auditiven Vordergrund drängende) Klavierstimme des Konzerts. In wenigen Sekunden wechselt die Musik mehrmals ihren Ort. Gerade noch ein Klang der Innerlichkeit, wird sie zunächst zum aufbrausenden Bewegungsmoment (nicht einfach nur wird die Kamera mobilisiert; der Film überschreitet, angeleitet von der Musik, die Grenzen von Raum und Zeit). Anschließend wird sie, während sich langsam die Klavierstimme in den Vordergrund drängt, zum Produkt einer künstlerischen Tätigkeit.

Wobei die Sache an dieser Stelle komplizierter ist. Denn Gerardo kann natürlich nur die Klavierstimme spielen. Zu hören ist jedoch die Gesamtheit des Konzerts, mitsamt Orchesterstimme. Tatsächlich ist neben Gerardos Stuhl ein Tonbandgerät platziert. Sichtbar ist es gleich im ersten Bild, das das Klavier zeigt, ins Zentrum rückt es jedoch erst einige Sekunden später: Gerardo hält inne, nimmt die Finger von den Tasten, notiert etwas auf seinem Notenblatt, blickt erwartungsvoll zur Seite - und während das Thema der Einführung wieder einsetzt, schwenkt die Kamera auf das Tonbandgerät. Deutlich wird in diesem Moment, dass das Tonband das gesamte Konzert abspielt, nicht nur die Orchester-, sondern auch die Klavierstimme.

Wodurch die Musik ein weiteres Mal ihren Ort wechselt. Genauer gesagt dreht sich das Verhältnis von Figur und Musik komplett um: Nicht Gerardo bringt die Musik hervor, sondern die Musik bringt Gerardos agitierte Bewegungen hervor. Das Klavier verwandelt sich von einem Klangkörper in ein Requisit, fast schon eine Attrappe. Ein Triumph der Musik nicht nur über den Musiker, sondern sogar über das Musikinstrument.

Die Frage, ob Gerardo Momente vorher “wirklich” gespielt, oder nur einen Pianisten imitiert hatte, stellt sich gar nicht erst. Denn der nächste Schnitt offenbart, dass Liana inzwischen ebenfalls zu Gerardo geeilt ist: Sie steht in der geöffneten Verandatür und blickt ihn an. Eine Kamerafahrt isoliert in Großaufnahme ihr Gesicht, das gleichzeitig von hämmernden Klavierklängen bearbeitet wird. Ganz anders funktioniert diese Einstellung als die erste, die (siehe oben) Liana, nach dem Gespräch mit der Mutter, im musikalischen Bild isoliert hatte. Die Musik hat sich Schritt für Schritt von einem Medium emotionaler Expressivität, das die Bilder sozusagen von innen anreichert, in eine autoritäre Kraft verwandelt, die über die Figuren und den gesamten Bildraum gebietet.

Wenn sie sich in den folgenden Einstellungen wieder von ihrer konkreten Manifestation im (fragilen) Medienverbund Künstler - Klavier - Tonband löst und Bildern unterlegt ist, die Liana und Gerardo nun endlich gemeinsam zeigen (unter anderem beim Baden und auf einem Segelboot), dann ist klar: Die Musik mag die Liebenden zusammengebracht haben; sie hat jedoch jederzeit die Möglichkeit, sie auch wieder voneinander zu trennen - weil Musik, selbst die Tschaikowskis, nicht nur eine romantische, synthetisierende Kraft ist, sondern auch und gleichzeitig eine nihilistische, analysierende.

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