Friday, May 24, 2013

Regisseur der Zärtlichkeit

Waidmannsheil im Spitzenhöschen, Jürgen Enz, 1982

Am Anfang haut sie ab, mit der Leiter. Der Film setzt schon in der Flucht ein, das Haus hat sie schon verlassen, so wie die beiden Frauen auch in der ersten Einstellung von Herbstromanze die Haustür bereits hinter sich schließen. Was sie jeweils hinter sich lassen, sehen wir nicht. Auch nicht, wie sie den Entschluss fassen. Wenn der Film beginnt, gibt es immer schon kein zurück mehr.


Weil nicht, wie in Herbstromanze, das Taxi schon wartet, hält sie an der Straße ein Auto an. Das geht nicht gut.


"Da wollte mich doch soeben so ein Mistkerl im Auto glatt vergewaltigen."
"So ein Halunke. Da haben Sie ja Glück gehabt. Und wo wollen Sie jetzt hin?"
"Für heute reicht's mir."

Was ist das für eine Freiheit, die man mit schlafwandlerischer Lethargie sucht? Wovon flieht man, wenn jeder Schritt von schlaftrunkener Dudelmusik unterlegt ist? Vielleicht sucht sie von Anfang an, in ihrem Aufbruch ohne Aufbruch, nicht die Fremde, sondern nur eine Heimat, die sich ein wenig anders anfühlt. Sie landet jedenfalls in einer Art Zauberschloss der trappsigen Erotik. Selbst verglichen noch mit dem Landhaus aus Herbstromanze wirkt dieses Anwesen ganz besonders durch den Wind. Nicht umsonst ist der Hofnarr aus Herbstromanze im späteren Film zum Schlossmeister geworden.


(Beim nochmaligen Durchsuchen des Films habe ich bemerkt, dass es sehr wenige Einstellungen gibt, in denen nur eine Figur zu sehen ist. Meist geht es um mindestens zwei Menschen, die mit sozialen Ritualen beschäftigt sind. Und die sich diesen Ritualen, ganz egal ob Paartanz, Besäufnis, oder Sex, mit introspektiver Ernsthaftigkeit hingeben.)

Das Schloss ist pleite, lernt sie. Und sie kommt auf die Idee, nachdem sie sich ein schickes Trachtenkleid angezogen hat ("Das ist was für meinen gestörten Hormonhaushalt" meint der sie durchs Fernglas beobachtende Spanner, der seinerseits mit einer wuchtbrummigen Blondine den ganzen Film über schier Unglaubliches anstellt; in anderen Filmen könnte man so etwas "zotig" nennen, bei Enz passt so ein Wort nicht, bezeichnet gleichzeitig zu wenig und zu viel), dass man das Schloss in eine Jagdschule umfunktionieren solle.

Was auch passiert; der Schlossherr gibt Anweisungen, die befolgt werden. Die Jagdschüler erweisen sich als auf lethargische Art dauerhorny, wie alle anderen im Film. Die Jägersprache ergibt sich in einer Weise der Anzüglichkeit, die mit Esprit nichts, mit Zwanghaftigkeit alles zu tun hat. Eigentlich würde auch schon die brav aufgesagte Abschiedsformel "Waidmannsheil" - "Waidmannsdank" genügen, um zu zeigen, dass da ein Virus die Sprache befallen hat, der weder gut- noch bösartiger, sondern schlichtweg außerirdischer Natur sein muss.

Toll: die tanzenden Geister vor und auf der Treppe, noch ein Ritual, nochmal introspektive Ernsthaftigkeit. Dazu wieder Musik, gefühlt minutelang, das könnte auch als Installation funktionieren. (Wie heißen Treppen, die frei im Raum, also nicht in einem Treppenhaus, installiert sind? Für mich sind das die guten Treppen und Filme, in denen sie - oder natürlich "echte" Freitreppen - vorkommen, können nicht ganz schlecht sein.)


Die Sache mit der Ente (und wieder die Treppe):



Nicht bei allen Enzianern scheint der Film einen guten Ruf zu haben. Tatsächlich lähmt ihn das Sexfilmhafte zwischendurch immer wieder. Trotzdem hat er mich gefangen genommen. Und immerhin enthält er, kurz vor Schluss, den schönsten aller möglichen Enz-Dialoge:
"Du bist so zärtlich."
"Ja, Liebes. Die Wildheit überlassen wir den anderen."

Thursday, May 23, 2013

Fast & Furious 6, Justin Lin, 2013 / Star Trek Into Darkness, J.J. Abrams, 2013

Die schönste Szene im neuen Fast & Furious: Vin Diesel und Michelle Rodriguez zeigen sich, nach dem Wiedersehen aber nicht Wiedererkennen gegenseitig ihre Narben. Dadurch erkennen sie sich zwar auch weiterhin nicht (bzw: er "liest" ihre Narben, sie erkennt ihn trotzdem nicht), aber sie finden trotzdem irgendwie heraus, dass sie zusammen gehören; im Actionkino sind Körperaffinitäten immer wichtiger als irgendwelche Plotkonstruktionen. Und irgendwie weiß das auch die Blondine, die vorher noch mit Vin Diesel im Bett liegt (am Filmanfang, in einer Szene, die zeigt, dass das ein Film ist, der sich ein genaues Bild von seinem - männlichen - Glücksbegriff zu machen weiß. Die Frau in den Armen, der Blick aus dem Fenster auf die sonnendurchflutete Stadt am Meer, auf der Terrasse ein Motor, an dem Vin Diesel herumschrauben kann nach dem Aufstehen) und die am Ende ihre Nachfolgerin beglückwünscht. Ein schöner, entspannter Film auch insgesamt, wobei er mir noch weniger als die Vorgänger klar machen kann, wozu - außer für die Zielgruppenoptimierung natürlich - die Langweiler Paul Walker und Jordana Brewster nötig sind.

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Davor der neue Star Trek; auch recht schön, handwerklich teils großartig, im Vergleich nicht nur zu Fast & Furious 6, sondern auch zum direkten Vorgänger vielleicht etwas überspannt - und dann ist mir als Star-Trek-Unkundiger auch weiterhin nicht wirklich klar, was der spezielle Reiz an der Sache sein könnte; das einzige weiterreichende Projekt, das ich in den beiden Abrams-Filmen ausmachen konnte, ist, dem grundympathischen Spock seine grundsympathische Rationalität auszutreiben und ihn gleichzeitig zu heteronormalisieren. (Cheers war da schon viel weiter; da durfte Lilith Lilith bleiben.) Schönste Szene: Spock, Uhuru und Kirk (Chris Pine, sonst ziemlich unerträglich) in einer Art Raumkapsel, auf dem Weg vom Mutterschiff zu irgendeinem Planeten. Einander ab-, aber der jeweiligen Kamera zugewandt ein dreieckiger Bitchkrieg, in dem Spocks Makeup wunderbar zur Geltung kommt und in dem der Film für einmal doch zu dem queeren Melodram werden darf, das er als Ganzer verleugnet.

Thursday, May 16, 2013

Harte Schale (American Eighties 27)


Ein paar einführende Worte zu einer Vorführung von Michael Manns Thief, am 15.05. im Österreichischen Filmmuseum.

Christian Petzold hat einmal, bezogen auf zwei ganz andere Filme, die Spekulation angestellt, dass Heist-Filme, also Filme, die von Berufsverbrechern handeln, die einen Coup planen und ausführen, immer auch Filme sind, die ihren eigenen Herstellungsprozess thematisieren. In dem Sinne nämlich, dass das Filme über spezialisierte Profis sind, die für einen begrenzten Zeitraum und für ein einzelnes Projekt zusammenarbeiten und am Ende im Idealfall mit mehr Geld dastehen als vorher. Auch wir haben in den Sichtungen für die Reihe immer wieder nach Momenten gesucht, in dem das Kino der Achtziger Jahre sich auf die eine oder andere Art ein Bild von sich selbst macht. Und in der Tat scheint Thief, ein Heist-Film von Michael Mann, aus dieser Perspektive besonders interessant. Denn man kann in ihn nicht nur seine eigene Produktionswirklichkeit, sondern gewissermaßen eine ganze Filmgeschichtsschreibung hineinlesen.

Zu Beginn ist Frank, die Hauptfigur des Films, ein krimineller Unternehmer in eigener Sache, der frei über seine Arbeitszeit, aber auch zum Beispiel über sein Liebesleben verfügt. Angetrieben von einem Bild, das die Fetischstruktur des Kapitalismus auf Postkartengröße zusammenfasst, begibt er sich nicht nur beruflich in ein Abhängigkeitsverhältnis, sondern ordnet auch sein Privatleben der Warenform unter - das ist kein reading, für das ich mich hier weit aus dem Fenster lehnen muss, sondern ein Diskurs, den der Film ganz plakativ auf seiner Oberfläche führt.

Und damit entspricht die Erzählbewegung des Films jener Erzählung über das Kino der Achtziger Jahre, die davon ausgeht, dass die Freiheiten, die sich das Kino im Zuge von New Hollywood erkämpft hatte, in den Achtzigern schnell zugunsten einer sich konsolidierenden Industrie und ihrer Franchiselogik verschwindet; zugunsten einer Serie vorformatierter High-Concept-Spektakel, zwischen denen kaum noch Platz ist für das, was einmal aussah wie der neue amerikanische Autorenfilm. Man könnte diese Analogie in unterschiedliche Richtungen ausbauen und sich zum Beispiel auch fragen, was genau das für eine Freiheit war, die eine solche Filmgeschichte für die New Hollywood-Filme behauptet; ob das nicht schon immer eher die Freiheit jener Petit Bourgeoisie war, der Frank am Anfang von Thief ein auch nicht unbedingt sympathisches Gesicht leiht.

So oder so ist Thief ein hochreflexiver Film, der seinen Gangsterfilmplot von Anfang an, spätestens aber ab dem ersten Gespräch Franks mit seinem Auftraggeber, als orthodox marxistische Allegorie reformuliert. Und gleichzeitig ist der Film seinerseits ein durchoptimiertes, metallisch auf Hochglanz poliertes, zu den elektrischen Klängen von Tangerine Dream getaktetes Konsumprodukt, inszeniert von einem vormaligen Werberegisseur der bald darauf als Produzent der Fernsehserie Miami Vice den look der kulturindustriellen Achtziger entscheidend und nicht nur im Guten mitprägen sollte, seinerseits produziert von Jerry Bruckheimer, der heute vielen als die Verkörperung all dessen gilt, was im amerikanischen Kino der letzten 30 Jahre falsch gelaufen ist. Ich frage mich jedesmal, wenn ich den Film sehe, warum ich ihm das alles zusammen durchgehen lasse, was genau es ist, das den Film davor bewahrt, ein einfach nur besonders zynisches Stück postklassisches Hollywood-Konfektionskino zu sein.

Zum Teil ist das sicherlich der Verdienst Michael Manns. Mann kommt zwar von der Werbung, anders jedoch als einige andere Regisseure, die in den späten Siebzigern und frühen Achtzigern über die commercials nach Hollywood kamen, wie zum Beispiel Adrian Lyne oder Alan Parker, verstand er sich von Anfang an und versteht sich eigentlich bis heute als Genreregisseur. Am Genrekino scheint ihn dabei zumindest auch eine gewisse Art von Professionalismus zu interessieren, die das Genrekino als Produktionsform prägt und die, wie das Petzold-Zitat andeutet, in einigen Genres auch thematisch wird. In Thief findet sich nicht nur eine nicht zu übersehene visuelle Parallelisierung von schwerindustrieller Arbeit und Räuberhandwerk; sondern vor allem eine fast schon dokumentarisch anmutende Aufmerksamkeit, die dem prozessualen Ablaufen des Coup entgegen gebracht wird.

Das eigentliche piece de resistance des Films ist aber sein Hauptdarsteller. James Caan ist, mit seiner kläffenden Stimme, seinem grobschlächtig-bulligen Auftreten ein Schauspieler des dreckigen Siebzigerjahre-Kinos. Die Achtziger waren ganz eindeutig nicht Caans Jahrzehnt, Thief blieb sein einziger wichtiger Film der Dekade, zwischen 1982 und 1987 drehte er gar keinen einzigen Film. Das hatte sicherlich eher private Gründe, es gab da unter anderem einen privaten Unglücksfall und wohl auch ein ausgewachsenes Drogenproblen, aber es ist gleichzeitig so, dass in der Zeit nicht viele Filme entstanden sind, in denen man sich einen Schauspieler wie Caan auch nur vorstellen hätte können.

Mit den muskulösen Helden des Eighties-Männerkinos hat er schon deshalb nichts zu schaffen, weil sich sein hartgesottenes Äußeres nie zur spiegelglatten Oberfläche verhärtet, sondern noch in dem Sinn eine “harte Schale” ist, als dass sie auf die in sie eingeschlossene, weiche Innerlichkeit stets mitverweist. In Thief trifft diese alte Form maskuliner Härte, die noch auf biografische und historische Prägung verweist und zum Beispiel auch von Willie Nelson verkörpert wird, der eine kleine, aber sehr zentrale Nebenrolle spielt, auf die neue Härte der geschichtslosen Oberflächen. Mehr als die vulgärmarxistischen Dialoge sind es die Spuren, die diese Konfrontation auf James Caans Gesicht einträgt, die Thief zu einem jener nebenbei bemerkt gar nicht einmal so seltenen Filme machen, in denen das Hollywoodkino mehr über sich selbst verstanden zu haben scheint als seine schärfsten Kritiker.

Monday, May 13, 2013

Verbindungen (American Eighties 26)


Ein paar einführende Worte zu einer Vorführung von Brian de Palmas Blow Out, am 12.05. im Österreichischen Filmmuseum.



Der Film des heutigen Abends gehört vermutlich zu den bekannteren der Reihe. Schon aufgrund seines Regisseurs: Brian de Palma ist zwar nach wie vor kein anerkannter Meisterregisseur wie seine Zeitgenossen Martin Scorsese und Fracis Ford Coppola - aber wer sich auch nur ein wenig ausführlicher mit dem neueren amerikanischen Kino auseinander gesetzt hat, der hat für gewöhnlich zumindest eine Meinung zu de Palma. Und selbst viele derjenigen, die nach wie vor eher skeptisch sind, erkennen an, dass Blow Out ein außergewöhnlicher Film ist. Blow Out ist nicht der populärste seiner Filme, aber von allen De-Palma-Regiearbeiten vermutlich diejenige, die man am ehesten als kanonisiert bezeichnen könnte; Blow Out hat zum Beispiel auch ein gewisses akademisches standing und er ist vor ein paar Jahren von Criterion auf DVD und BluRay veröffentlicht worden. Es ist also ein Film, der mehr und mehr als Autorenfilm wahrgenommen wird, als in gewisser Weise für sich selbst stehendes Meisterwerk des postmodernen Kinos, das man genüsslich immer neuen Relektüren unterziehen kann.

Ich habe da in dem Fall gar nicht viel dagegen einzuwenden, der Film gibt das in meinen Augen durchaus her. Trotzdem interessiert uns zumindest jetzt, wo wir die Reihe komplett zusammengestellt haben, nicht mehr so sehr das, was den Film aus der Masse der Produktion abhebt, sondern ganz im Gegenteil das, was ihn doch wieder mit anderen Filmen, mit den Filmen, neben denen er einst im Kino gelaufen ist, verbindet. Denn Blow Out ist ganz unverkennbar ein Kind seiner Zeit. Im Folgenden möchte ich kurz einige Linien andeuten, über die diese Verbindungen verlaufen. Und werde dafür andere Linien weglassen, die den Film als Autorenfilm mit anderen Autorenfilmen - Hitchcock, Antonioni - verbindet.
Zum Beispiel der Hauptdarsteller: John Travolta war einer der größten Stars, die das Kino der späten Siebziger und frühen Achtziger hervorgebracht hat. Gemeinsam mit Richard Gere, den Sie gestern hier in American Gigolo sehen konnten, kann er einstehen für eine neue Schauspielergeneration, die auch eindeutig nicht mehr New Hollywood angehört, das sieht man schon ihren Körpern an, erst recht ihrem Schauspiel. Man muss allerdings dazu sagen, dass Blow Out für Travolta der erste Misserfolg nach einer Serie zum Teil sehr großer Hits war.

Ein andere Verbindungslinie stellt der Regisseur selbst dar: Brian de Palma hat in den Achtzigern viel drehen können, insgesamt acht Filme, viele davon Studioproduktionen, wobei der Film des heutigen Abends von Filmways Pictures produziert wurde, einer Independentfirma, die bald darauf in Orion Pictures, einem der zentralen Independent Studios der Achtziger, aufging.  Im Hollywood der Achtziger war noch Platz für einen genuin exzentrischen Regisseur wie de Palma. Man muss allerdings dazu sagen, dass de Palma auch damals selten ganz in der Mitte der Industrie seine Filme drehte und dass seine Filme schon damals nicht immer besonders gut liefen - selbst Scarface war zunächst nur ein mittelgroßer Erfolg und wurde erst durch die VHS-Veröffentlichung zu dem Kultfilm, der er heute noch ist und die meisten anderen seiner Filme aus der Zeit waren sogar kommerzielle Flops, unter anderem eben auch Blow Out.
Wohin Filme wie Blow Out zumindest auch gehören, wo sie sich selbst verorten, sieht man in dem Film selbst. Die Hauptfigur arbeitet als Sounddesigner für ein kleines Studio namens “Independence Pictures Incorporated”, dessen Büroräume über Pornokinos und Sexshops gelegen sind und in dem billige Exploitationfilme mit Titeln wie “Bad Day at Blood Beach” oder “Bordello of Blood” entstehen. Und der Film Blow Out versucht nicht, zu verbergen, dass er sich infizieren lässt von diesen fiktionalen Blutbädern - wenn auch vielleicht nicht so gründlich, wie das die beiden Filme, die de Palma direkt davor und direkt danach gedreht hatte, taten: die Hitchcock-Paraphrasen Dressed to Kill und Body Double.

Was in diesem setting und gerade auch zum Beispiel in der Eingangssequenz sichtbar wird, ist eine Verbindungslinie zu jenem B-Kino der Achtziger, das in der Filmmuseums-Reihe ein wenig zu kurz kommt, das dafür aber in der parallelen kleinen Filmschau im Filmcasino sehr präsent ist: Das Kino von Regisseuren wie James Glickenhaus, Larry Cohen, Stuart Gordon oder William Lustig, allesamt Leute, die das Exploitationkino als Form ernst genommen hatten und die in den Achtziger Jahren noch die Möglichkeit hatten, an der dreckigen Unterseite des großen Kinos ein gutes Auskommen zu finden. Ein Kino, das gemeinsam mit seinem Ort, dem klassischen Bahnhofskino, verschwunden ist. Man kann tatsächlich in den Filmen der Achtziger Jahre nachvollziehen, wie die entsprechenden Kino-Marquisen langsam aber sicher aus dem Stadtbild verschwunden sind.
Andere Verbindungslinien haben sich mir tatsächlich erst jetzt, wo ich die Filme hier konzentriert im Kino sehen kann, erschlossen. Mit den beiden Filmen des gestrigen Abends, mit American Gigolo und mit Cutter’s Way, verbindet den Film zum Beispiel nicht nur eine Nähe zu Motiven des film noir. Man könnte alle drei auch, wenn man filmhistorisch nicht ganz so weit zurück blicken will, mit den Paranoia-Thrillern der Siebziger in Verbindung bringen. Man könnte alle diese Filme, ganz wertfrei erst einmal, als unterschiedliche Schwundstufen des Paranoia-Motivs bezeichnen, das in den Siebziger Jahren noch eine Art epistemisches Versprechen war: Wer die Verschwörung durchschaut, der gewinnt dadurch Wissen über und auch wieder Handlungsmacht in der Gesellschaft. In American Gigolo und vor allem Cutter’s Way hat man dagegen den Eindruck, dass die Verschwörung sich nicht mehr besonders viel Mühe gibt, vielleicht, weil sie von Anfang an gewonnen hat; weil man gegen höchstens noch einen individuellen, sich irgendwie falsch anfühlenden Triumph erringen kann. Bei Blow Out steht die Sache wieder anders: Die Verschwörung hat hier vorderhand noch dasselbe Gewicht wie in den Siebzigern, ihre Enttarnung erschöpft sich jedoch in einem technokratischen Durcharbeiten von Medientechnik, das in Komplizenschaft steht mit der Verschwörung selbst; auch das ist ein Motiv, das schon in den Siebzigern auftaucht, aber auf eine so zynische Pointe, wie sie am Ende von Blow Out steht, wäre das Siebzigerkino wohl nie gekommen.
Eine weitere, eher spekulative Verbindung könnte man außerdem zu einem Film ziehen, der hier vor zwei Tagen lief: Sowohl in Albert Brooks’ Komödie Modern Romance als auch in Blow Out gibt es ausführliche Szenen am Filmschneidetisch, in denen es darum geht, ein vorgegebenes Bild mit einem angemessenen, bzw besonders effektiven Sound zu verbinden. Wie sich diese Szenen zueinander verhalten - falls sie es überhaupt tun -, welche Neurosen sich da jeweils vermitteln, das wäre eine eigene Untersuchung wert, hier lasse ich es jetzt erst einmal als einen jener Zufallsfunde stehen, den man wohl nur im Rahmen einer solchen Filmschau machen kann.

Saturday, May 11, 2013

59. Kurzfilmtage Oberhausen: Einige Filme

***** Home, Luther Prize, 1999

Leider nur im Sichtungsraum gesehen: eine betörende autobiografische Geisterbildschichtung, sich selbst zersetzende Familienalben, konstelliert zu einer Art Erinnerungswohnzimmer, das gleichzeitig die Hölle auf Erden ist (vor sich hin radebrechender Nonsensemonolog, als Loop geschaltet) und sich doch irgendwie heimelig anfühlt. Irgendwo in diesem Raum, in diesen Bildern, in dieser Stimme gibt es etwas, nach dem auch ich mich sehnen würde, noch Jahrzehnte später. Ein Meisterwerk.

***** 4x4 Episodes of Singapore Art, Ho Tzu Nyen, 2005

Wenn es (in welchem Medium auch immer) eine eindringlichere, überzeugendere Verteidigungsrede der künstlerischen Moderne bis hin zur postconceptual art gibt, dann kenne ich sie noch nicht - was so viel auch wieder nicht heißt, zugegeben; aber wie es dieser dialogisch und durchaus im starken Sinne kulturpädagogisch angelegten Arbeit gelingt, unbedingten Objektbezug mit "gesellschaftspanoramatischen" und historiografischen Ambitionen zu verbinden, ist kein kleines Wunder.

***** Ein neues Produkt, Harun Farocki, 2012

Drei "Schaubildszenen", die man vielleicht einmal zusammen sehen und vergleichen sollte: das paranoid verformte psychische Dispositiv, das in Hong Sang-soos Woman on the Beach symbolbildhafte Form annimmt; die längst postparanoide Psychose, die Imelda Marcos in Ramona S. Diaz' Biopic Imelda offenbart, wenn sie ihre metaphysischen Erkenntnisse zeichnerisch darlegt; und eben die Tafelbilder in Farockis Ein neues Produkt, deren zwanghaft anmutende Proliferation nicht länger nur auf ein individuelles Krankheitsbild verweist. Andere Vergleichsobjekte?

***** Utama - Every Name in History Is I, Ho Tzu Nyen, 2003

***** Poemfield No. 2, Stan Vanderbeek, 1967

***** Dernek aka Country Fair, Zoran Tadic, 1975

Der schönste einer kleinen Gruppe jugoslawischer Dokumentarfilme, ein Mann, der als Arbeitsmigrant in Deutschland lebt, kehrt für einen kurzen Besuch in sein Heimatdorf zurück und wird zum Ethnografen seines eigenen Lebens. Großartig, wie der Film Innen- und Außenperspektive ineinander übergehen lässt. Toll sind die "Steinweitwurf"-Szenen, die auch in einem anderen Film des Programms auftauchen.

***** The Moon Has Its Reasons, Lewis Klahr, 2012 (eingereicht, aber nicht Teil des Festivalprogramms)

***** Kirik beyaz laleler aka Off-White Tulips, Aykan Safoğlu, 2013

Schön, dass der Film den großen Preis gewonnen hat. Weniger schön der Begründungstext: Wenn ein poetischer Dokumentarfilm einen verstorbenen Schriftsteller über die raumzeitliche Distanz direkt anspricht, ist das etwas anderes, als wenn eine Festivaljury den Regisseur desselben Films ankumpelt.

**** Boomerang, Richard Serra, Nancy Holt, 1974

**** GHL, Lotte Schreiber, 2012

**** Konstallationen 1, Helga Fanderl - 21 Filme

Ein Werk, das neben dem Leben her fließt und gar nicht mehr will, als gelegentlich etwas herauszugreifen, was die Überhöhung lohnt. Schön, dass es so etwas gibt.

**** A Story for the Modlins, Sergio Oksman, 2012

**** Ein Gespenst geht um in Europa, Julian Radlmaier, 2013

**** Goodbye X Goodbye, Max Linz, 2012 (eingereicht, aber nicht Teil des Festivalprogramms)

*** Visionary Iraq, Gabriel Abrantes / Benjamin Crotty, 2009

Portugiesische und tatsächlich irgendwie auf Fado gestimmte Variante der queeren Melodramunfälle, wie sie George Kuchar vor allem in den Siebzigern gedreht hat. Pappmachekino der enervierenden, aber doch irgendwie berührenden Art.

*** Microbrigades - Variations of a Story, Florian Zeyfang, Alexander Schmoeger, Lisa Schmidt-Colinet

Die Frage, wie man so etwas Elementares wie den Wohnraumbau, also die räumliche Organisation des täglichen Lebens, systematisch (und deshalb noch nicht: bürokratisch) durchdenkt, stellt der Film nicht auf eine Art, die mir besonders zusagt; dass er sie stellt, darf man ihm aber anrechnen.

** Phantoms of a Libertine, Ben Rivers, 2012

Willkürlich abgefilmte Fundstücke aus einer verlassenen Wohnung, vor allem Fototapetenartiges. Vielleicht ist das die Art von Obskurantismus, die als 16mm-Projektion doch wieder eine Art von Schönheit entfaltet - ich habe auch diesen Film nur in den Sichtungsräumen sehen können. Aber ich habe doch den Verdacht, dass ich mit dieser speziellen Art des materialfetischstischen Obskurantismus generell nicht allzuviel anfangen kann.

* Falling Into or Against, Jil Leung, 2013

Eine Auftragsarbeit fürs "Flatness"-Programm, deren ungestalte Form gewissermaßen das ganze Elend der Sektion in sich trägt: Form als etwas, das man ausfüllt, indem man verschiedene Dinge hineinfüllt, deren Präsentmachen im Diskurs man gerade für angesagt hält. Liebe zum Beispiel. Oder Hologramme. Oder lens flares.

* Speech Act, Herman Asselberghs, 2011

Schlimmer waren da nur noch diejenigen Filme, die den politischen Subtext des Programms, vielleicht unfreiwillig, offenlegten. So wie diese formal beknackt lehrmeisterliche, inhaltlich naive und ihrem Gegenstand in keiner Hinsicht gerecht werdende Lektüre von Avatar, die zu dem estaunlichen Ergebnis kommt, dass Pasolini und Visconti irgendwie avancierter waren als Cameron und die die dialektischen Einsätze popkultureller Formen im Sinne eines orthodoxen Antiimperialismus stillstellt.

* Dirty Pictures, John Smith, 2007

Oder noch schlimmer: Zwei Hotelzimmerminiaturen, erst in Bethlehem, dann in Jerusalem, verbunden durch einen Voice-Over-Kommentar, der eine Reihe unangenehmer Verschiebungen vornimmt, deren widerwärtigste die vom Holocaust-Gedenktag zur "Rampe" eines Checkpoints an der Grenze zwischen Israel und der West Bank ist. John Smith war wohl einmal ein interessanter Filmemacher. Jetzt ist er nur noch ein alter, eitler Mann, dem dringend jemand die Kamera wegnehmen sollte.

Friday, May 10, 2013

You're muted


What follows is my response to a paper on "Must-Klick TV" presented by Jennifer Gillan at a recent workshop held at FU Berlin.

Jennifer Gillan's paper discusses the web- and social-media-elements of tv shows like Lost and Pretty Little Liars; elements like, for example, fan-generated websites, Alternate Reality Games or specialized twitter accounts. In this short response, I'd like to look at a related aspect of the contemporary media landscape, from a different viewpoint, but with a similar question in mind: How can traditional forms of television programming sustain themselves as televisual texts when being confronted with a changing mediascape.
The form I'm interested in, is one of the most consistently succesfull genres of American television history: the sitcom. For several decades, the sitcom has been a surprisingly, even stubbornly conservative form: On a technical level, not much differentiates the first big success of I Love Lucy from a sophisticated 1990s sitcom like Seinfeld – or a recent program like The Big Bang Theory for that matter. All these shows are produced in a multi-camera mode that might be described as a curious residue of stage theater and vaudeville performances in the medium of television in as much as it privileges, at least in some aspects, the unity of time and space of the stage over the spatiotemporal fractures, which are generally thought to be a prime characteristic of technology-based audiovisual media.
In the last decade, however, the sitcom form has become much less stable. New formats like Curb Your Enthusiasm, both the British and the American Version of The Office, or, more recently, Louie, dismissed the multi-camera mode for production modes that are more in line with other forms of contemporary fictional television. Some of the innovations in the field of the sitcom can be described easily in the terms of Gillan's paper: It's especially obvious that shows like The Office or Parks & Recreations take its stilistic cues from reality tv. Likewise, other recent sitcoms like Community and 30 Rock seem to cater to the knowing internet-savvy audience in a way similar to a show like Lost. So, the changes in the sitcom form can and should be discussed in relation to the competing and intersecting mediascapes of the present day. The show I'm interested in here might open up this particular discourse a little bit further, because it has been a television-internet hybrid from the beginning.
Web Therapy started out as a web series, a comedy program consisting, like most web series, of short segments of five to seven minutes length. In 2009, Web Therapy was one of the first shows to successfully cross over into television. To be sure, Web Therapy isn't a runaway success. A low profile show on the pay-tv-channel Showtime, it might have been canceled long ago if not for its low production costs: The first two seasons recycled a lot of footage from the web series. The television version of Web Therapy combines this original footage with new segments, which prolong the episodes to the classic sitcom format of 20 to 30 minutes each. In this respect, Web Therapy might be typical for the new televisual economics of fragmented audiences and lowered thresholds for success.
The premise of both the web and the tv version is identical: Fiona Wallace, its main charakter, is a psychotherapist developing a new therapeutical method: All sessions of her soon to be franchised „Web Therapy“ take place online - and in the timeframe of three minutes. In the web series version, the show constisted of these – most of the times quickly derailing - sessions only. The tv version includes other storylines, that might seem like concessions to the more converntional sitcom form: Most importantly, Fiona Wallce gains a husband and a mother, which might set the stage for classic family sitcom shananigans.
More interesting than this changes is, I think, the fact, that some other basic characteristics of the show did not change at all. The tv version of Web Therapy is a show that seems to be thoroughly connected to the new media environment: In a very general sense, the whole show is set on the web. Instead of the master set of classic sitcoms – like the bar in Cheers, Jerry's apartment in Seinfeld or so many family living rooms – Web Therapy is set on the screen of Fiona's laptop. The conversations, that almost exclusively make up the show, evolve on pop-up-windows via skype – not only the therapy sessions but also the marriage quarrels with the husband and Fiona's increasingly weird relashionship with her mother are dealt with exclusively online.
From this perspective, Web Therapy seems to be a strange hybrid, at the same time the complete opposite of the classic sitcom form and its transformed continuation. The spatial unity, central to the multi-camera mode, makes way for the radical spatial fragmentation of mediated communication: In the world of Web Therapy, there seems to be almost no opportunity, or even need for eye to eye contact, let alone bodily interaction. The world of Web Therapy is made up of a theoretically infinite number of completely discontinuous spaces, artificially connected by the synthetic master space (instead of master set) of the laptop user interface.
It can be argued, however, that space in the classic sitcom was always first and foremost a vessel for communication. The standardizes sitcom sets weren't, for the most parts, at least, interesting in their own right, but for their ability to create different kinds of communicative environments – you might think, for example, of the dominance of the coach in so many sitcom sets. If communication has always been front and center in the sitcom form, Web Therapy might be thought of not as a repudiation, but as a radicalisation of the sitcom form. And at the same time it might allow some glances at the new kinds of communication, that has its roots in the web and might become more prominent in other medial settings, too.
In Web Therapy, a show almost exclusively made up of talking heads, there is virtually nothing but communication. This communication, however, is far removed from the everyday, gossipy, open-ended talk that characterized sitcoms like Friends and Seinfeld. In sharp contrast, most communication in Web Therapy is framed at least threefold: diegetically as therapy talk, temporal by Fiona's self-imposed three minute time limit, grafically by the boundaries of the pop-up window. In a way, by removing it from the social, everyday world it is normally based in and in a way also by removing it from the body, which is most of the times reduced to a head-and-shoulders, Web Therapy absolutizes, canalizes and deroots communications. The humor of the show stems directly from this derooting and its psychological consequences that might be described as so many inflations of so many disembodied selfs.
So, I think, what Web Therapy suggests, is that, as long as sitcoms and maybe also other fictional television shows continue to function als televisual forms, they'll survive all other changes the new media environment is going to introduce.

Friday, May 03, 2013

59. Internationale Kurzfilmtage Oberhausen: A Story for the Modlins, Sergio Oksman, 2012

Ein bewegender, kleiner Film. Am Anfang die Credits von Rosemary's Baby, in denen der Name, um den es geht, gerade nicht auftaucht: Elmer Modlin(g) war ein Extra in Polanskis Film, er ist einer derjenigen, die in der letzten Szene in dem Zimmer neben dem diabolischen Kinderwagen herumstehen und Mia Farrow beobachten. Im weiteren geht es darum, ein Leben - eigentlich: drei Leben - halb der Vergessenheit zu entreißen, halb komplett neu zu erfinden. Der zweite Schlüssel neben Rosemary's Baby ist ein Zufallsfund: Maudling lebte mit Frau und Kind seit den Siebzigern in Spanien, Sergio Oksman, der Regisseur des Films, gelangte an ihre kleine Hinterlassenschaft: Hauptsächlich Fotografien, ein paar Briefe und ein verstörendes Videotape, das vor allem auf Elmers Frau fokussiert, eine verhinderte Künsterin, die einer (unsichtbar bleibenden) dritten Person ihre Gemälde und Skulpturen, die sich durch krude Religiosität und eine geradezu atemberaubende Hässlichkeit auszeichnen, vorführt. Wie Oksman aus all dem eine Seklusionsfantasie zusammenfabuliert (seinen teilfiktionalen Charakter stellt der Film offen aus; die recht zahlreichen Filmrollen, die Elmer Modling auch in Spanien noch angenommen hatte, bleiben zum Beispiel komplett außen vor): Das hätte leicht abgeschmackt und bösartig ausgehen können. Zum Glück bleibt A Story for the Modlins durchgehend im Modus eines spierlerischen Minimalismus (hauptsächlich besteht er aus Fotografien, die übereinandergelegt und dann wieder weggenommen werden), der die wenigen materiellen und imaginären Spuren, die die Modlings hinterlassen haben, nicht überformen, sondern lediglich auf sprechende Symmetrien und Potentiale abtastet.