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Monday, September 27, 2010

Works and Workers at Denton Holme, 1910

Einen fünfminütigen "Fabriktorfilm" - genau das und nichts anderes ist er - haben die beiden Kuratorinnen an das Ende ihrer wundervollen Filmreihe Suffragetten - Extremistinnen der Sichtbarkeit (mehr hier) gesetzt. (Stimmt nicht ganz, es gab ganz zum Schluss noch eine anarchische Überraschung, die meinen verlinkten Text an einer Stelle Lügen straft.) Die Kamera filmt nicht, wie bei den Lumieres, nur aus einer Position, sondern sammelt mehrere Szenen. In fast jedem Bild sind 20, 30, oft noch deutlich mehr Menschen versammelt. Die meisten sind offensichtlich Arbeiter, Arbeiterinnen und deren Kinder. Einige Männer scheinen einem Aufsichtsteam anzugehören; ich weiß nicht, ob das ein Team des Films ist oder eines der Fabrik - oder ob das auf dasselbe heraus kommt, weil die Fabrik nicht nur Auftraggeber, sondern auch Produzent war. Diese wenigen Männer leiten gelegentlich das Gewusel vor der Kamera an, wobei meist nicht klar wird, was das exakte Ziel der Anleitung ist, welcher Bildeffekt erzielt werden soll, welche Abrichtung da antrainiert wurde und reproduziert werden soll. Was eh alles nicht so recht klappt. Zu viel Bewegung, zu viele Menschen, zu früh kommt auch immer wieder der Schnitt.
Eine Momentaufnahme des Verhältnis von Kino zur Masse 15 Jahre nach Erfindung des Mediums. Es gibt hier nicht den Lumiereschen Strom einer eindeutig gerichteten, gleichzeitig naturalisierten Bewegung, sondern den vielfach unterbrochenen Fluss (vielleicht eher: ein halbchaotisches System) unterschiedlicher, ein-wenig-choreografierter (und damit teilweise entnaturalisierter) Vektoren. Die Menschen - in der Reihenfolge ihrer Häufigkeit: Frauen, Kinder, Männer - blinzeln nicht mehr nur verschämt in Richtung Filmteam, sie richten sich offensiv nach der Kamera aus, manchmal schauen sie nur, manchmal posieren sie wie in Gangsterfilmen, die es also schon damals gegeben haben muss. Jedenfalls spricht aus der Reaktion auf die Kamera ein Wissen übers Kino, das noch nicht in Respekt umgeschlagen ist. Noch kann jeder ein Filmstar werden. Gleichzeitig reagiert de Masse als Masse, jeder einzelne ist sich nicht nur der Kamera, sondern auch deren Verhältnis zur Gesamtsituation bewusst. Die Kamera, die sich auch selbst ein wenig bewegt (ein Schwenk erst über lässig an der Mauer lehnende Frauen, dann über lässig an der Mauer lehnende Männer, räumlich getrennt und doch vereint im Habitus), bannt die Masse nicht, sie aktiviert sie.

Wednesday, October 07, 2009

Bioscope, K.M. Madhusudhanan, 2008

Nach einmaligem Ansehen traue ich der eigenen Begeisterung für diesen Film noch nicht vorbehaltlos über den Weg. Zumindest aber ist Bioscope ein Film, der mich wie aus dem Nichts hart, schwer und tief getroffen hat. Das indische Kino ist für mich ein schwieriges Objekt. Ohne erklären zu können, weshalb, bin ich mir ziemlich sicher, dass die schönsten Filme der Welt indische Filme sind, aber bis heute habe ich wenig unternommen, diesen Schatz für mich zu bergen. Vielleicht, weil ich nicht weiß, wo ich anfangen soll: Im Grunde laufen mehrere Nationalkinematografien parallel, außerdem gibt es eine auf den ersten Blick recht strikte Trennung zwischen kommerziellem und unabhängigen Kino - die auf den zweiten Blick vermutlich nicht so einfach aufrecht zu erhalten wäre. Andererseits verhält es sich in China auch nicht anders und da hält mich das auch nicht ab. Wie dem auch sei, ich kenne bislang nur ein gutes halbes Dutzend waschechte Bollywoodfilme und auch nicht viel mehr indisches Autorenkino.
Bioscope ist ein tamilischer Film, der Regisseur ist von Haus Maler, das sieht man dem Film an. Sein Film ist einer über das Kino. Und ein Film über die bleierne Zeit der britischen Kolonisierung Indiens. Beides kommt zusammen, wenn die Kolonisierten auf die handgekurbelten Filme aus dem Bioscope starren. Wenn der Lumieresche Zug in den Bahnhof fährt, ergreift niemand die Flucht. Die Augen bleiben starr auf das flackernde Schwarz-Weiß der hier tatsächlich völlig stummen Leinwand gerichtet. Auch, wenn Wienes Caligari oder Filme des indischen Stummfilmpioniers Dadasaheb Phalke projiziert werden. Nur Diwakaran wendet den Blick und schaut von den Bildern auf den Apparat, der sie produziert, sowie auf Dupont, den Europäer, der die sich noch nicht sehr flüssig bewegenden Bilder nach Indien gebracht hat. Diese eine Kopfbewegung ist schärfere und treffendere Ideologiekritik als jede Apparatustheorie. Diwakaran tritt später an die Stelle Duponts und kurbelt selbst.
Mehr passiert eigentlich nicht: zuerst kurbelt Dupont, danach Diwakaran. Dazwischen Gespräche über die neue Technik, die den Dorfbewohnern eher schwarze denn weiße Magie ist. Und ein eher angerissenes als durcherzähltes Melodram um Diwakaran und seine kranke Frau Nalini, die einst, wie mehrere intensive Rückblenden offenbaren, einen Weißen, einen Kolonisator am Strand entdeckt und sich von diesem Erlebnis nie wieder erholt zu haben scheint. Infiziert vom Fremden siecht sie dahin.
Vor allem aber vollzieht Bioscope: Stillstellungen. Gesichter in Großaufnahme am Strand, vor Lehmstraßen, alles feucht, trüb, matt, platt, träge, bleiern außer wenn es um Dorftratsch geht. Traurige Lieder, deren Texte eigentlich keine Untertitel benötigten. Die Stillstellungen sind umso deprimierender, als sich zwischen ihnen dann doch das eine oder andere entwickelt, nur eben nichts Produktives. Stillstellungen, die in den Flow eines fremdbestimmten Alltags eingelassen sind. Stillstellungen als Reaktion auf die Fremdbestimmung. Bioscope ist einer der eindrücklichsten Filme über Kolonialismus, den ich bisher gesehen habe, eben, weil es kein außen der Ohnmacht der Kolonisierten gibt, keine Handlungsmacht, die stellvertretend für die Ohnmacht agiert.
Ich bekomme die großartigen Bilder noch nicht hinreichend auf Begriffe, ich bekomme sie nicht soweit, wie ich sie gerne hätte (allzu weit möchte ich sie auch wieder nicht bringen, sie sollen schließlich bleiben...). Aber darum geht es ihnen sicher: Kino und Kolonialismus. Das Kino treibt nur eines dieser Gesichter, das Diwakarans, aus der Trübe. Wo das Gesicht landet, bleibt unklar, Diwakaran begehrt nicht auf, durchläuft keinen Erkenntnisprozess. Vielleicht ist die Frage falsch: Diwakaran landet nirgends, er handelt nicht, er muss sich nur nicht mehr für die Unmöglichkeit des Handelns rechtfertigen, denn: Er kann projizieren. Während Nalini sich in ihren Rückblenden verzehrt, Bilder in sich einschließt, in denen jede Welle in Zeitlupe hoffnungslos überdeterminiert über den Sand kriecht, kann Diwakaran sich im Akt des Projizierens völlig entäußern. An Heide Schlüpmanns Buch Ungeheure Einbildungskraft (bei dem ich mir freilich nach wie vor in jeder Hinsicht unsicher bin) denke ich jetzt, hinterher, wenn ich an diese Projektionen denke:
Keine Definition, sondern reine Projektion der "Leibeigenschaft", stellt sie keinen Angriff auf die Gesellschaft dar, sondern eine List des träumenden Lebens, seinem Dasein eine äußere Wirklichkeit zu geben oder im Bergsonschen Sinne: eine Möglichkeit, die nicht auf Verwirklichung zielt.