Sunday, February 03, 2013

Zerbrochene Zusammenhänge

Nachfolgend der kurze Einführungstext, den ich gestern vor der Vorführung von Aleksey Germans "Twenty Days Without War" im Zeughauskino vorgetragen habe. (Siehe auch Bert Rebhandls Blogeintrag. Wer keine Untertitel benötigt, kann sich den Film hier komplett ansehen.) Dass ich den Film anschließend zum ersten Mal im Kino sehen konnte, hat ihn mir noch einmal ganz anders näher gebracht. Insbesondere die dunklen Innenszenen, die Gespräche Lopatins mit den beiden Frauen aus der Vergangenheit am Anfang zum Beispiel, in deren Wohnungen, haben erst da ihre Kraft entfalten können. Und natürlich auch die letzte Nacht mit der anderen Frau, der Frau aus der Gegenwart, der Lopatin vorher eben nicht im intimen Dunkel der Wohnung näher kommt, sondern in überfüllten Zügen, während Stadtspaziergängen, am geschäftigen Set einer Spielfilmproduktion. Und die dann doch, am Ende, sich umdrehen muss, durch eine Pfütze zu ihrer Wohnung zurückwatet und mit ihrem Sohn im Dunkel verschwindet. Vorher aber diese letzte Liebesnacht, eine der schönsten, die ich im Kino bislang gesehen habe, zwei Menschen beeinander, in einem dennoch wie leeren Raum, rhythmisiert durch Schwarzblenden, die nicht keusch sind, sondern melancholisch, die Verlust vorwegnehmen, sich der vom Krieg lediglich intensivierten Brutalität der voranschreitenden Zeit bewusst sind.

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Vielen Dank an Fabian Tietke und das Zeughauskino für die Einladung, hier ein paar Worte zu dem außergewöhnlichen Film sagen zu dürfen, den sie gleich sehen werden. Twenty Days Without War von Aleksey German, ein Film aus dem Jahr 1976, steht in der Mitte dieses Programms zur Schlacht von Stalingrad, mit der das Projekt Welt in Waffen seinen Anfang nimmt und es ist der erste Film in der Serie, der keinen zeitgenössischen Blick auf die Ereignisse zeigt, sondern eine nachträgliche Verarbeitung, vielleicht auch eine Umschreibung der dokumentarischen und propagandistischen Bilder darstellt, die in den ersten beiden Programmblöcken im Zentrum standen. Gleichzeitig reagiert der Film natürlich auch auf eine Tradition der sowjetischen Stalingrad-Repräsentation; der bekannteste Film ist da sicherlich Vladimir Petrovs zweiteiliger The Battle of Stalingrad aus dem Jahr 1949, ein zentrales Werk der stalinistischen Filmästhetik, der in diesem Programm nicht vorkommt, den aber auch problemlos auf DVD verfügbar ist. Von Petrovs martialischem Heldenepos ist der Film des heutigen Abends maximal weit entfernt.

Kurz zum Regisseur: Aleksey German ist einer der interessantesten Regisseure und gleichzeitig ein großes Enigma des späten sowjetischen und des zeitgenössischen post-sowjetischen Kinos. Gerade einmal fünf Spielfilme hat er in gut 40 Jahren fertig gestellt - nur vier sogar, wenn man das von ihm selbst ungeliebte, gemeinsam mit Grigori Aronov inszenierte Debüt Der Siebente Trabant nicht mitzählt. Sein letzter Film, Khrustalyov, my Car! wurde 1998 veröffentlicht, sein aktuelles Werk, ein Science-Fiction-Film basierend auf einer Vorlage der Strugatzkiy-Brüder, befindet sich seit Jahren in der post production.

Germans antidramatische, poetische, mäandernde Filme scheinen mit allen Produktionsmodi gleichermaßen inkompatibel zu sein, mit dem staatsgelenkten des sowjetischen genauso wie mit dem gegenwärtigen, der sich am Markt, beziehungsweise der Aufmerksamkeitsökonomie von Filmfestivals orientiert. Zwei seiner drei vor dem Zusammenbruch der Sowietunion entstandenen Filme hatten große Probleme mit der Zensur, insbesondere seine erste eigenständige Regiearbeit Trial of the Road, die 1971 fertiggestellt wurde, aber erst 1985 zur Aufführung kam. Und damit einige Jahre nach dem Film des heutigen Abends, Twenty Days Without War. Sowohl Trial on the Road als auch Twenty Days Without War spielen während des zweiten Weltkriegs angesiedelt, jeweils im Winter 1942/43. Doch während der bildgewaltige Trial of the Road noch ein combat movie ist, wenn auch ein äußerst ungewöhnliches, moralisch, psychologisch und politisch komplexes, entfernt sich Twenty Days Without War komplett von allem, was man mit dem Genre Kriegsfilm gemeinhin in Verbindung bringt.

Twenty Days Without War basiert auf dem Drehbuch des Schriftstellers Konstantin Simonow, der vor allem durch seine poetischen und journalistischen Arbeiten bekannt geworden ist, die er als Kriegsberichterstatter während des Zweiten Weltkriegs verfasste. Die Hauptfigur des Films, Major Lopatin, ist recht eindeutig ein stand-in für Simonow: ein patriotischer Soldat, der gleichzeitig Intellektueller ist und seine Erfahrungen literarisch verarbeitet; ein bebrillter, stiller Mann, der eine beobachtende, aber keine neutrale Haltung zur Welt einnimmt. Genauer: Der den gesamten Film über nach der richtigen Haltung zu dem, was um ihn herum vorgeht, zu suchen scheint. Und der Film übernimmt diese gebrochen subjektive Perspektive, das kann man bis in die einzelnen Einstellungen verfolgen, glaube ich: auch in Szenen, in denen er anwesend ist, verschwindet Lopatin oft minutenlang aus dem Bild, tritt sozusagen hinter seinen Blick zurück, dann aber auch immer wieder überraschend in ihn hinein. Das ist natürlich nur eine unter vielen Möglichkeiten, Germans komplexe Plansequenzen zu lesen.

Der Film spielt an einigen Wintertagen zwischen den Jahren 1942 und 1943. Die Schlacht von Stalingrad, von der diese Filmreihe ihren Ausgang nimmt, ist zu diesem Zeitpunkt faktisch entschieden: Bereits am 22. November 1942 war die deutsche 6. Armee komplett von sowjetischen Truppen eingekreist. Der Häuserkampf zog sich zwar noch bis in den März 1943, doch im Grunde konnte sich die rote Armee ihres Sieges, der retrospektiv als Wendepunkt des gesamten Krieges betrachtet wird, sicher sein. Germans Film allerdings ist alles, nur nicht triumphalistisch. Im Kontext der Reihe Welt in Waffen ist Twenty Days Without War auch deshalb interessant, weil der Film sich, wie der Titel andeutet, für eine kurze Zeit vom Kriegsschauplatz abwendet; der Krieg ist deswegen nicht abwesend im Film, ganz im Gegenteil ist er dauerpräsent: in den Dialogen, in den Physiognomien, in der Architektur, als Film im Film, als psychisches Bild, als Propagandaansprache vor den Arbeitern einer Waffenfabrik. Erst in der dadurch entstehenden Vielstimmigkeit kann German eine Ahnung davon geben, was der zweite Weltkrieg für ein komplexes und in sich wiedersprüchliches Land wie die Sowjetunion bedeutet haben mag.

Die erste Szene spielt noch an der Front. Eine Kamerafahrt entlang einer Küste, Beobachtungen aus dem Soldatenalltag, dann ein Luftangriff, ein weiterer Kriegstoter wird aus dem Wasser geborgen, auch das sichtbar markiert als Routine. Schon diese erste Szene allerdings interessiert nicht der impact des Schlachtengetümmels, statt dessen wird sie reflexiv umgeschrieben: Zum Dialog der Soldaten untereinander tritt ein Voice-Over-Kommentar, der die Bilder als Erinnerung, als Überlieferung markiert. Und vielleicht auch den Abstand bezeichnet, den die Sowjetunion des Jahres 1976 von der des Jahres 1942/43 gewonnen hat.

Der restliche Film beschreibt eine Reise des Majors und Schriftstellers Lopatin nach Zentralasien, nach Taschkent, in seine Heimatstadt. Auf die Frage, warum er dorthin reist, geschäftlich oder zwecks Heimaturlaub, antwortet er: “Fürs Geschäft und als Urlaub”. Der Film entfaltet sich nicht zuletzt über eine Serie langer Gespräche, eines der eindrücklichsten gleich zu Beginn, während der Zugfahrt. Alle Menschenleben, die der Film auf diese Weise ausbreitet, sind vom Krieg gezeichnet, doch die eine große, nationale Anstrengung, als die die Propaganda den Kampf gegen die Deutschen bezeichnet - und zwar, wie man in Why We Fight - The Battle of Russia nachvollziehen konnte, nicht nur die sowjetische, sondern auch die amerikanische -, formt sich daraus nicht. Was statt dessen bleibt, sind einzelne Schicksale, gescheiterte Existenzen, zerbrochene Zusammenhänge, familiäre und andere.

Das Kino, das historisch die Aufgabe hatte, diese Zusammenhänge wieder zu synthetisieren, hat ebenfalls einen Auftritt im Film. Das Zentrum der sowjetischen Filmproduktion war während des zweiten Weltkriegs angesichts der deutschen Invasion nach Zentralasien verlegt worden, Mosfilm zum Beispiel nach Alma Ata, andere Teile des Produktionsapparats aber auch nach Taschkent. Auch Lopatin landet schließlich auf einem Filmset, auf dem ein Film über den zweiten Weltkrieg gedreht wird, der auf seinen eigenen Frontberichten basiert. Der Film, dessen Dreharbeiten German imaginiert, sieht tatsächlich so aus, wie man sich einen Film vorstellt, der von einem Kriegsberichterstatter geschrieben und zum Zweck der Erbauung der Heimatfront produziert wird. Lopatin verschwindet bald wieder vom Set, kann keine Verbindung mehr herstellen zu den heroischen Klischees und propagandistischen Durchhalteparolen, die sich aus seinen Worten formen. Er selbst bewegt sich durch einen anderen Film, einen, der einen Hang zur Abschweifung, vom dokumentarisch anmutenden Blick auf Passanten und die Welt, in der sie sich bewegen, hat und von keinem dramaturigischen Bogen zusammengehalten wird, auch nicht von einer angedeuteten Liebesgeschichte, und am Ende noch nicht einmal von dem temporalen Rahmen, der ihm den Titel gibt. Ein Film, der Lopatin eher zustößt, als dass er ihn selbst gestalten könnte.

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