Die Gosho-Reihe ist zu Ende. Von mir aus könnte sie noch lange weiter gehen, meinetwegen auch Monate, vielleicht Jahre. Alle paar Tage ein Gosho-Film erhöht die Lebensqualität.
Utage ist zwar einer der schwächeren Filme der Reihe, doch auch er enthält große Momente. Der Film entstand 1967 als laut imdb Goshos drittletzter. In einer nur theoretisch großen Geste verbindet Gosho den realen Putschversuch vom 26. Februar 1936 mit der fiktiven melodramatischen Liebesgeschichte einer der Verschwörer.
Im Entstehungsjahr des Films war die japanische Nouvelle Vague in voller Fahrt. Genaues weiß ich nicht, aber vermutlich hielten Oshima und Co vom altmodisch humanistischen Gosho genauso wenig, wenn nicht noch weniger als von Mizoguchi oder Ozu. Utage bietet denn auch reichlich Angriffspunkte für eine politische Kritik. Die politisch-historische Seite der Story bleibt in Andeutungen und halb Ausformuliertem stecken. Der Film entzieht sich zum einen konsequent der Frage nach der Legitimation der Putschisten, zum anderen versucht er nicht einmal, das Ereignis (das den Verlauf des Pazifikkrieges und damit den des gesamten zweiten Weltkrieges entscheidend geprägt hat) auch nur irgendwie zu kontextualisieren. Am Ende raunt irgendwer, dass die Geschichtsbücher das Urteil fällen werden, damit ist alles geklärt. Manches mag an der sprachlichen / kulturellen Barriere liegen, aber sicher nicht alles. "Something's wrong somewhere": So vage und unverbindlich schätzt nicht nur der naive Offizier Tate die allgemeine politische Lage in Japan und in der Welt im Jahr 1936 ein, das ist auch die Position des Films. Ungenau in der Ausführung ist der Film dann ohenhin selbst in den wenigen Momenten, in denen er es wagt, Diskurs zu sein: Ob zB der linke, hilflose Sympathisant der Verschwörer die zivile Unterstützung der Aufständler verkörpern soll oder gar deren sozialistische Wurzeln (letzteres wäre grober Unfug, wird aber zumindest einmal nahegelegt), oder ob er vielleicht ganz im Gegenteil den gewaltsamen und fatalen Ausschluss solcher nichtmilitärischen Unterstützer repräsentiert, das weiß der Film selbst am allerwenigsten.
Doch die Gosho-Filme haben allesamt ihre Stärken in anderem. Umso schöner ist denn auch das Melodram, das sich am rande der Verschwörung entlang rankt. Zwei Szenen mindestens werden im Gedächtnis bleiben, dauerhaft. Die erste spielt im Schnee. In einer bizarren Wendung hat die Femme fatale Suzuko ihrem Tate schon vor dem Beginn der Szene deren Ende vorhergesagt: Sie erzäht ihm den Titel eines Theaterstücks: "Die verführerische Hexe im Schnee" (oder so ähnlich). Tatsächlich sehen sich die beiden gezwungen, sich durch einen Schneesturm zu quälen. Suzukos Füße drohen zu erfrieren. Tate beginnt, sie zu reiben, auf sie zu pusten, als nichts hilft, nimmt er ihre Zehen in den Mund. Suzuko vergeht vor Glück, der Gegenschuss zeigt ihre Extase, und im Folgenden beginnt sie, ihre eigenen Füße zu fetischisieren.
Mindestens ebenso schön das Ende. Auf dem Papier geht es zwar darum, Politik und Melodrama unter einen Hut zu bekommen, doch im Grunde siegt das Melodrama auf der ganzen Linie. Das Finale ist ein Liebestod, der nur scheinbar unrein daherkommt. Zwar begeht Tate rein technisch keinen Selbstmord, sondern wird als Verräter hingerichtet, doch er hat sich aus freien Stücken für diesen Tod entschieden und zwar in dem Moment, in dem er in einem seiner Opfer Suzuko wiedererkennt.
Nun also ein Liebestod (auch dieser wurde vorher im Film schon auf seltsame Art angekündigt: Auf einem ihrer ersten gemeinsamen Ausflüge kommen Suzuko und Tate einige aufgeregte Kinder entgegen, die von einem Liebestod in der Nachbarschaft berichten, der weder vorher, noch nacher irgendwie eine Rolle spielt und ganz und gar offscreen bleibt). Vor der Schlusssequenz findet sich noch eine not-quite-Pickpocket-Sequenz am Zellengitter. Kurz darauf wird Tate zum Hinrichtungsplatz geführt. Stellvertretend für die Kinozuschauer wird ihm ein Tuch über den Kopf gezogen. Konsequenterweise bleibt der zweifache Tod denn auch eine visuelle Abwesenheit. Ein Doppelselbstmord ohne Leichen.
Zunächst schwebt die Kamera über Tates Kopf hinweg, wie er sich aufmacht zum Hinrichtungsplatz am Rand der Gefängnismauer, gen Himmel. Es folgt ein Schnitt auf die Außenseite der Mauer. Die Kamera fährt langsam an den dunklen Steinen vorbei, auf der Tonspur Schüsse. Dann Schnitt auf die wilde Meeresküste, die als Szenerie bereits bekannt ist. Suzukos Handtasche liegt auf den Felsen, ihre Leiche bleibt aber im Meer genauso unsichtbar wie Tates Körper hinter der Gefängnismauer. Der Film verschiebt die Leiche, wie auch die Todesschreie, auf das Rauschen der Wellen.
Monday, September 29, 2008
Das Herz ist ein dunkler Wald, Nicolette Krebitz, 2007
Ob man den Film gegen die Kritik verteidigen muss, weiß ich nicht. Einerseits ging diese mit Krebitz' Zweitwerk in der Mehrzahl nicht allzu schlecht um, andeerseits ist Das Herz ist ein dunkler Wald zwar ein sehr schöner Film, aber sicher kein Meisterwerk. Was mich aber doch an einigen Kritiken stört, ist, dass Krebitz ausgerechnet der Drift in der zweiten Hälfte weg vom anfänglichen Sozialrealismus vorgeworfen wird. Dabei ist doch gerade diese zweite Hälfte toll: Wie da nicht nur die Hauptfigur, sondern mit ihr der gesamte Film aus der Bahn gerät. Ganz anders als zum Beispiel in Montag kommen die Fenster (einem insgesamt runderen Film, klar, aber genau das ist in manchen Momenten vielleicht auch schade): Dort bleibt der Film selbst, die Einstellungen, die Montage, im Hotel genauso souverän und lakonisch wie er / sie es davor war und wie er / sie es danch sein wird, während Isabelle Menke auf Abwege gerät. Bei Krebitz dagegen wird es wild auf allen Ebenen, die Anschlüsse stimmen nicht mehr, die Blickachsen auch nicht, der Raum wird paradox nicht nur für Nina Hoss, sondern genauso für den Film selbst.
Strukturell ähnlich ist Das Herz ist ein dunkler Wald vielleicht statt dessen mit Le Silence de Lorna. Auch letzterer kann sich seine zweite Hälfte nur erlauben, weil die erste so konsequent anders ist als sie.
Strukturell ähnlich ist Das Herz ist ein dunkler Wald vielleicht statt dessen mit Le Silence de Lorna. Auch letzterer kann sich seine zweite Hälfte nur erlauben, weil die erste so konsequent anders ist als sie.
Labels:
Das Herz ist ein dunkler Wald,
Deutschland,
Krebitz
Thursday, September 25, 2008
Berlin Kino, 25.-9.-1.10.2008
Heute startet Wall-E, der mit jeder Menge Kritikerlob überschüttet wird und den ich mir schnellstmöglich anschauen werde. Ganz im Gegensatz zu dem RAF-Eichinger-Käse, über den Ekkehard hier schreibt und der Schirrmacher Anlass zu einer 1A-Selbstparodie geboten hat, die durch die Tatsache, dass sie absolut ernst gemeint ist, nur noch besser wird. In Ekkehards Text geht es weiterhin um Julia Loktevs Day Night Day Night, einen in den USA viel diskutierten Debütfilm. Der startet im fsk, genauso wie Thomas Heises Kinder. Wie die Zeit vergeht. Von Heise kenne ich noch nichts, aber er hat, habe ich Anfang des Jahres erfahren, unter österreichischen Poststrukturalisten einen sehr guten Ruf.
Heute abend läuft im Arsenal Rudolf Thomes Mammutfilm Beschreibung einer Insel, nächste Woche sind zwei weitere Vierstünder zu sehen: de Oliveiras Amor de perdicao und Angelopoulos' anstrengender O Thiassos.
Im Babylon läuft neues niederländisches Kino, außerdem ist am Samstag noch einmal Bellocchios großartiger Buongiorno, notte zu sehen. Bei den Freunden des schrägen Films startet derweil eine Reihe zum, und da bin ich doch sehr gespant: mexikanischen Genrekino.
Das Zeughauskino zeigt in seiner Romy-Schneider-Reihe ärgerlicherweise ihre nicht-deutschsprachigen Filme fast ausschließlich in deutschen Sprachfassungen. Außerdem zu sehen: Karmakars Hamburger Lektionen nächsten Mittwoch.
Heute abend läuft im Arsenal Rudolf Thomes Mammutfilm Beschreibung einer Insel, nächste Woche sind zwei weitere Vierstünder zu sehen: de Oliveiras Amor de perdicao und Angelopoulos' anstrengender O Thiassos.
Im Babylon läuft neues niederländisches Kino, außerdem ist am Samstag noch einmal Bellocchios großartiger Buongiorno, notte zu sehen. Bei den Freunden des schrägen Films startet derweil eine Reihe zum, und da bin ich doch sehr gespant: mexikanischen Genrekino.
Das Zeughauskino zeigt in seiner Romy-Schneider-Reihe ärgerlicherweise ihre nicht-deutschsprachigen Filme fast ausschließlich in deutschen Sprachfassungen. Außerdem zu sehen: Karmakars Hamburger Lektionen nächsten Mittwoch.
Banka / Elegy of the North, Gosho Heinosuke, 1957
Ähnlich wie Ryoju / Hunting Rifle versucht sich auch Banka an einer filmischen Form, die im Vergleich zu anderen Gosho-Streifen weniger mit den zyklisch organisierten, mäandernden japanischen Genres wie dem Shomingeki zu tun haben und mehr mit Melodramen der amerikansichen Art. Wo mich aber Ryoju nicht so recht zu überzeugen wusste, war ich von Banka schlichtweg begeistert.
Banka übernimmt vom Hollywoodmelodram die Form, die Grammatik, die Harfen und Streicher der Tonspur, die Großaufnahmen, die Weichzeichner und die Überblendungen. Nicht jedoch die konventionalisierten Figurenzeichnungen, die eigentlich zur Definition des Genres gehören. Ganz im Gegenteil entwirft Banka eine denkbar komplexe Figuren- und Gefühlsanordnung, die in dieser speziellen Ausprägung in Hollywood nie denkbar gewesen wäre.
Im Mittelpunkt steht Reiko, eine ledige Frau (schätzungsweise) Ende 20 / Anfang 30. Eine Frau, die, darauf verweist sie ihr Vater in einer Sequenz, noch nicht richtig erwachsen geworden ist und dies auch bis zum Ende des Films nicht nachholen wird. Zu Beginn verfolgt sie einen jungen Mann und seine ältere Geliebte bis zu einem Haus. Dieses gehört der Geliebten und ihrem Ehemann, ein Großteil des Folgenden spielt in diesem von Bäumen umgebenen Anwesen, welches Reiko zunächst minutenlang umschleicht und beobachtet. Reiko wird von diesem Haus und seinen Bewohnern trotz ihres erklärten Willens nicht mehr los kommen in diesem Film bis sie sich in der allerletzten, befreienden Szene aufs Land flüchtet. Auch später schleicht sie immer wieder um oder durch das Haus, versteckt sich beispielsweise in einer denkwürdigen Szene im Geräteschuppen, eine Szene, die mit einfachsten Mitteln eine ungeheure emotionale Intensität erreicht.
Zunächst jedoch beginnt sie gleichzeitig eine Affäre mit dem Mann (Setsuo) und eine tiefe, innige Freundschaft mit der Frau (Akiko) des Hauses. Keines von beiden befriedigt sie, vielleicht, weil es ihr eigentlich genau umgekehrt lieber wäre: Vom Mann, der ihr sogar anbietet, für sie seine Frau zu verlassen, erbittet sie sich immer wieder, doch nur sein Freund sein zu dürfen (was auch deshalb nicht funktioniert, weil Setsuo um einiges aktiver vorhgeht als der typische Gosho-Mann), ihre Bewunderung für Akiko wird zumindest von deren eifersüchtigen jugendlichen Liebhaber als lesbische Liebe identifiziert.
Freilich übernimmt der Film diese Lesart nicht zur Gänze. Es geht nicht nur um sexuelles Begehren, sondern gleichzeitig auch um einen Mutterersatz (ihre eigene ist früh gestorben) sowie um Bewunderung für die ältere, elegantere (Akiko ist meist japanisch, Reiko stets westlich gekleidet), polyglottere Frau. Die Beziehung der beiden Frauen zueinander bleibt zutiefst ambivalent, ohne die Gefühlskryptik des europäischen Kunstkinos allerdings: Reiko selbt, beziehungsweise dem höchst expressiven Schauspiel Kuga Yoshikos, wie auch der Regie Goshos Filmsprache gelingt es, die einander widerstrebenden Anliegen durchaus nachvollziehbar zu kommunizieren, ohne sie auf eine endgültige Lesart festzulegen.
Das sonderbare, nie ganz fassbare Begehren Reikos kulminiert immer wieder in höchst sonderbaren emotionalen Überschneidungen, die von Goshos Regie meisterhaft aus der Pschologie extrahiert und filmisch verräumlicht werden. So etwa in einer Schlüsselszene im Haus der beiden Objekte der Begierde: Setsuo kehrt nach berufsbedingter längerer Abwesenheit nach hause zurück. In seiner Abwesenheit hat sich die Freundschaft zwischen Akiko und Reiko intensiviert. Nun, als er die Rückkehr ankündigt, äußert Reiko vor Akiko den Wunsch, dass sie ihn (ihren Geliebten) kennenlernen möchte in der Hoffnung, dass eie solche Begegnung jede weitere sexuelle Beziehung zwischen ihr und ihm unmöglich mache. Doch kaum öffnet er die Tür, entdeckt sie die Unmöglichkeit ihres Plans, versteckt sich vor Scham in einem Nebenzimmer und belauscht die Begrüßungszeremonie angstvoll. Als Akiko ihr dann ihren Mann und damit die Konfrontation mit dem eigenen chaotischen Gefühlshaushalt aufdrängt, flüchtet sie Hals über Kopf aus dem Haus.
Banka übernimmt vom Hollywoodmelodram die Form, die Grammatik, die Harfen und Streicher der Tonspur, die Großaufnahmen, die Weichzeichner und die Überblendungen. Nicht jedoch die konventionalisierten Figurenzeichnungen, die eigentlich zur Definition des Genres gehören. Ganz im Gegenteil entwirft Banka eine denkbar komplexe Figuren- und Gefühlsanordnung, die in dieser speziellen Ausprägung in Hollywood nie denkbar gewesen wäre.
Im Mittelpunkt steht Reiko, eine ledige Frau (schätzungsweise) Ende 20 / Anfang 30. Eine Frau, die, darauf verweist sie ihr Vater in einer Sequenz, noch nicht richtig erwachsen geworden ist und dies auch bis zum Ende des Films nicht nachholen wird. Zu Beginn verfolgt sie einen jungen Mann und seine ältere Geliebte bis zu einem Haus. Dieses gehört der Geliebten und ihrem Ehemann, ein Großteil des Folgenden spielt in diesem von Bäumen umgebenen Anwesen, welches Reiko zunächst minutenlang umschleicht und beobachtet. Reiko wird von diesem Haus und seinen Bewohnern trotz ihres erklärten Willens nicht mehr los kommen in diesem Film bis sie sich in der allerletzten, befreienden Szene aufs Land flüchtet. Auch später schleicht sie immer wieder um oder durch das Haus, versteckt sich beispielsweise in einer denkwürdigen Szene im Geräteschuppen, eine Szene, die mit einfachsten Mitteln eine ungeheure emotionale Intensität erreicht.
Zunächst jedoch beginnt sie gleichzeitig eine Affäre mit dem Mann (Setsuo) und eine tiefe, innige Freundschaft mit der Frau (Akiko) des Hauses. Keines von beiden befriedigt sie, vielleicht, weil es ihr eigentlich genau umgekehrt lieber wäre: Vom Mann, der ihr sogar anbietet, für sie seine Frau zu verlassen, erbittet sie sich immer wieder, doch nur sein Freund sein zu dürfen (was auch deshalb nicht funktioniert, weil Setsuo um einiges aktiver vorhgeht als der typische Gosho-Mann), ihre Bewunderung für Akiko wird zumindest von deren eifersüchtigen jugendlichen Liebhaber als lesbische Liebe identifiziert.
Freilich übernimmt der Film diese Lesart nicht zur Gänze. Es geht nicht nur um sexuelles Begehren, sondern gleichzeitig auch um einen Mutterersatz (ihre eigene ist früh gestorben) sowie um Bewunderung für die ältere, elegantere (Akiko ist meist japanisch, Reiko stets westlich gekleidet), polyglottere Frau. Die Beziehung der beiden Frauen zueinander bleibt zutiefst ambivalent, ohne die Gefühlskryptik des europäischen Kunstkinos allerdings: Reiko selbt, beziehungsweise dem höchst expressiven Schauspiel Kuga Yoshikos, wie auch der Regie Goshos Filmsprache gelingt es, die einander widerstrebenden Anliegen durchaus nachvollziehbar zu kommunizieren, ohne sie auf eine endgültige Lesart festzulegen.
Das sonderbare, nie ganz fassbare Begehren Reikos kulminiert immer wieder in höchst sonderbaren emotionalen Überschneidungen, die von Goshos Regie meisterhaft aus der Pschologie extrahiert und filmisch verräumlicht werden. So etwa in einer Schlüsselszene im Haus der beiden Objekte der Begierde: Setsuo kehrt nach berufsbedingter längerer Abwesenheit nach hause zurück. In seiner Abwesenheit hat sich die Freundschaft zwischen Akiko und Reiko intensiviert. Nun, als er die Rückkehr ankündigt, äußert Reiko vor Akiko den Wunsch, dass sie ihn (ihren Geliebten) kennenlernen möchte in der Hoffnung, dass eie solche Begegnung jede weitere sexuelle Beziehung zwischen ihr und ihm unmöglich mache. Doch kaum öffnet er die Tür, entdeckt sie die Unmöglichkeit ihres Plans, versteckt sich vor Scham in einem Nebenzimmer und belauscht die Begrüßungszeremonie angstvoll. Als Akiko ihr dann ihren Mann und damit die Konfrontation mit dem eigenen chaotischen Gefühlshaushalt aufdrängt, flüchtet sie Hals über Kopf aus dem Haus.
Monday, September 22, 2008
Takekurabe / Adolescence, Gosho Heinosuke, 1955
Gesehen in einer nicht restaurierten, dafür von Donald Richie höchstpersönlich untertitelten 16mm-Kopie: Der erste mir bekannte Gosho-Film mit historischem Setting erzählt die Geschichte der Adoleszenz eines Mädchens aus der japanischen Unterschicht in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts. Am Anfang lacht Midori ausgelassen in der Frühlingssonne, lässt die Jungen nach Kirschbaumblüten springen und manipuliert das männliche Geschlecht auch insgesamt nach Belieben. Am Ende wirft sie ihr Taschentuch in den Schlamm, ergibt sich in ihr Schicksal und lässt sich von ihren Eltern in die Sexindustrie verkaufen.
Die Kleider sind in der Mehrzahl noch klassisch japanisch, doch im Bildhintergrund kündigt der allgegenwärtige westliche Kirchturm (der das visuelle Prinzip des Films so konsequent, wenn auch nicht so selbstreflexiv strukturiert wie die Schornsteine in Where Chimneys Are Seen es tun) von der neuen Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts befindet sich ein ganzes Land in der Adoleszenz. Die Prinzipien der Meiji-Restauration beginnen Fuß zu verfassen, die neuen Herrscher haben vorsichtige Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Seit 1889 (nicht einmal zwei Jahrzehnte später als die ersten funktionierenden Pendants in Deutschland) existieren Parlament und Verfassung, die Aufrüstung ist bereits in vollem Gange.
Die althergebrachte Sozialstruktur ist zerrüttet, die Familienoberhäupter hilflos. Der eigene Lebensentwurf kann nicht mehr Vorbild sein, die Alternativen werden nicht klar artikuliert und für den weiblichen Teil des Nachwuchses sieht es ohnehin nicht rosig aus.
Takekurabe endet, ungewohnt im Kino Goshos, so radikal wie manche Frauenfilme Naruses oder Mizoguchis, nämlich mit der totalen Resignation der Protagonistin. Formal verweist die letzte Einstellung zwar auf eine zyklische Logik - sie ist beinahe die erste. Aber im Ganzen kann sich der Film wegen seinem historischen Setting keinen zirkulären Zeitbegriff aneignen. Klar definiert ist, was vorher kam, was später kommen wird, worin die Veränderung liegt und wer dieser zum Opfer fällt. Die schließende Geste am Ende ändert daran nichts, sie verstärkt in ihrer Strenge ganz im Gegenteil die Konsequenz des historischen Arguments, das sich freilich nicht so recht zu einer nationalen Allegorie ausweiten lässt, denn die historische Antwort Japans auf die eigene Adoleszen war doch eine weitaus aggressivere als die Midoris.
Eingefasst in diesen ungewohnten historischen Rahmen finden sich dann aber doch wieder typische Goshofiguren und -motive. Plotkonstruktionen mit Tendenz zur Abschweifung, Nebenfiguren, die sich im Lauf des Films von ihrer Funktionalität emanzipieren, eine Vorliebe für Weichzeichner, unaufdringlich kitischige Musik und flüssige szenische Auflösung. Auch ein selbstgerechter Mann ist wieder dabei. Genauer gesagt ein selbstgerechter Junge, dem es wie immer nicht gelingt, über seinen eigenen Schatten zu springen und der deshalb dazu verdammt ist, an seinen eigenen moralischen Ansprüchen zu scheitern. Auch dieses Scheitern aber ist in Takekurabe immer gleichzeitig ein historisches. In wieweit diese historische Dimension auf einer grundsätzlichen Ebene mit der humanistischen, offenen Welt der Gosho-Filme vereinbar ist, das weiß ich nicht so recht. Eventuell macht sie tatsächlich deren Grenze sichtbar, den Horizont, über welchen hinaus Goshos Filme nicht blicken können.
Die Kleider sind in der Mehrzahl noch klassisch japanisch, doch im Bildhintergrund kündigt der allgegenwärtige westliche Kirchturm (der das visuelle Prinzip des Films so konsequent, wenn auch nicht so selbstreflexiv strukturiert wie die Schornsteine in Where Chimneys Are Seen es tun) von der neuen Zeit. Ende des 19. Jahrhunderts befindet sich ein ganzes Land in der Adoleszenz. Die Prinzipien der Meiji-Restauration beginnen Fuß zu verfassen, die neuen Herrscher haben vorsichtige Schritte in Richtung Demokratie unternommen. Seit 1889 (nicht einmal zwei Jahrzehnte später als die ersten funktionierenden Pendants in Deutschland) existieren Parlament und Verfassung, die Aufrüstung ist bereits in vollem Gange.
Die althergebrachte Sozialstruktur ist zerrüttet, die Familienoberhäupter hilflos. Der eigene Lebensentwurf kann nicht mehr Vorbild sein, die Alternativen werden nicht klar artikuliert und für den weiblichen Teil des Nachwuchses sieht es ohnehin nicht rosig aus.
Takekurabe endet, ungewohnt im Kino Goshos, so radikal wie manche Frauenfilme Naruses oder Mizoguchis, nämlich mit der totalen Resignation der Protagonistin. Formal verweist die letzte Einstellung zwar auf eine zyklische Logik - sie ist beinahe die erste. Aber im Ganzen kann sich der Film wegen seinem historischen Setting keinen zirkulären Zeitbegriff aneignen. Klar definiert ist, was vorher kam, was später kommen wird, worin die Veränderung liegt und wer dieser zum Opfer fällt. Die schließende Geste am Ende ändert daran nichts, sie verstärkt in ihrer Strenge ganz im Gegenteil die Konsequenz des historischen Arguments, das sich freilich nicht so recht zu einer nationalen Allegorie ausweiten lässt, denn die historische Antwort Japans auf die eigene Adoleszen war doch eine weitaus aggressivere als die Midoris.
Eingefasst in diesen ungewohnten historischen Rahmen finden sich dann aber doch wieder typische Goshofiguren und -motive. Plotkonstruktionen mit Tendenz zur Abschweifung, Nebenfiguren, die sich im Lauf des Films von ihrer Funktionalität emanzipieren, eine Vorliebe für Weichzeichner, unaufdringlich kitischige Musik und flüssige szenische Auflösung. Auch ein selbstgerechter Mann ist wieder dabei. Genauer gesagt ein selbstgerechter Junge, dem es wie immer nicht gelingt, über seinen eigenen Schatten zu springen und der deshalb dazu verdammt ist, an seinen eigenen moralischen Ansprüchen zu scheitern. Auch dieses Scheitern aber ist in Takekurabe immer gleichzeitig ein historisches. In wieweit diese historische Dimension auf einer grundsätzlichen Ebene mit der humanistischen, offenen Welt der Gosho-Filme vereinbar ist, das weiß ich nicht so recht. Eventuell macht sie tatsächlich deren Grenze sichtbar, den Horizont, über welchen hinaus Goshos Filme nicht blicken können.
Labels:
Gosho,
Japan,
Meiji,
Prostitution,
Takekurabe
Thursday, September 18, 2008
Berlin Kino, 18.-24.9.2008
Tropic Thunder heißt der erste Film seit ziemlich lange, bei dem Ben Stiller Regie geführt hat. Eine Kriegsfilmsatire mit unter anderem Tom Cruise und Robert Downey Jr. in Blackface, was in den USA heftige Diskussionen auslöste. Ekkehard zeigt sich wenig begeistert und lobt dafür Bruce LaBruces Otto; or, Up With Dead People, mit dem widerum ich auf der Berlinale nicht wirklich viel anfangen konnte. Aber die Stummfilmszenen sind toll. Außerdem noch gleich zweimal amerikanisches Martial-Arts-Kino: Redbelt (David Mamet; soll trotzdem nichts taugen) und der wahrscheinlich recht trashige und derzeit nur in der Synchronfassung zu sehende 5th Commandment.
Im Arsenal nähert sich die äußerst empfehlenswerte Gosho-Reihe ihrem Ende, am Samstag läuft außerdem Jean Renoirs The River in einer frisch restaurierten Kopie.
Im Zeughauskino laufen Dienstag und Mittwoch zwei französische Romy-Schneider-Filme, die sicherlich äußerst schön sind: Claude Sautets Cesar et Rosalie und Jacques Derays La piscine.
Ach und das Babylon... Naja, auf die schrägen Filme ist Verlass, da gibt es nächste Woche als Abschluss der Science-Fiction-Reihe Star Crash zu sehen, höchstwahrschinlich 70ies-Trash der delirierendsten Sorte.
Im Arsenal nähert sich die äußerst empfehlenswerte Gosho-Reihe ihrem Ende, am Samstag läuft außerdem Jean Renoirs The River in einer frisch restaurierten Kopie.
Im Zeughauskino laufen Dienstag und Mittwoch zwei französische Romy-Schneider-Filme, die sicherlich äußerst schön sind: Claude Sautets Cesar et Rosalie und Jacques Derays La piscine.
Ach und das Babylon... Naja, auf die schrägen Filme ist Verlass, da gibt es nächste Woche als Abschluss der Science-Fiction-Reihe Star Crash zu sehen, höchstwahrschinlich 70ies-Trash der delirierendsten Sorte.
Wednesday, September 17, 2008
Es ist zwar...
...recht unwahrschienlich, dass hier viele landen, die das filmtagebuch nicht kennen, dennoch möchte ich kurz auf den dort beworbenen Versuch verweisen, einen Dokumentarfilm basisdemokratisch an den Fimfördergremien vorbei zu finanzieren. Entstehen soll dabei ein Streifen namens Mirna (oder auch Mirna und Milosch) und der hat sogar bereits eine Website.
Monday, September 15, 2008
Eine ungesunde Mischung aus Neid und Verachtung
Home Theater inspired by Titanic. Solche Technik in solchem Design und dann auch noch "ball game" (nicht einmal wird spezifiziert, was für ein ball game... allerdings ist das bei den amerikanischen ball games ja auch herzlich egal). Dem System, welches so etwas ermöglicht, wünsche ich das Schicksal des thematischen Vorbilds. I'll root for the iceberg.
Entotsu no mieru basho / Where Chimneys Are Seen, Heinosuke Gosho, 1953
So ganz sicher bin ich mir auch nach dem Filmende nicht, wie die vier titelgebenden Schornsteine konkret arrangiert sind, wie es möglich ist, dass, je nach Winkel, mal einer, mal zwei, mal drei oder auch alle vier sichtbar sind. Vermutlich stehen die beiden mittleren sehr nahe beeinander und annähernd auf einer Senkrechten zur Verbindungslinie der beiden äußeren. Wie auch immer, der Film zumindest verschiebt mehrmals die Perspektive und lässt Schornsteine auftauchen oder verschwinden. Und irgendwie scheinen sich diese gleichzeitig in der Motivation willkürlichen und im Ausgang zwangsläufigen Verschiebungen in der Geschichte zwar nicht zu spiegeln, aber mit dieser in Verbindung zu stehen.
Wieder geht es um eine Hausgemeinschaft. Diesmal wohnt dort ein alterndes Ehepaar, sie hatte vorher einen anderen Mann, der nicht ganz so tot ist, wie sie zunächst behauptet. Oben haben sie zwei Untermieter einquartiert: Einen Mann und eine Frau.
Zunächst ist oben die Verbindungsür zwischen den Räumen geschlossen. Die Untermieter kommunizieren durch die Wand, die Filmsprache übernimmt dies ganz konkret: In Gesprächsszenen zeigt der Gegenschuss eine kahle Schiebewand, die den Ursprung der Stimme verbirgt. Unten dagegen herrscht ein Mangel an Wänden. Der Ehemann schließt nicht einmal die Öffnung zum Flur, wenn es sich über seine Angetraute hermacht. Der ist das dann manchmal zuviel, vor allem wenn die Untermieterin etwas zu lange auf der Treppe stehen bleibt.
Ein Film wie Entotsu no mieru basho benötigt die Flexibilität der japanischen Architektur mit ihren Schiebewänden, eine Architektur, die eine viel genauere Figuration des Sozialen erlaubt als ihr westliches Pendant: Dort gibt es nur Tür auf / Tür zu, mehr ist nicht möglich, während in japanischen Häusern zahllose Variationen selbst dann möglich sind, wenn jeder in seinem eigenen Zimmer bleibt (nicht zuletzt ist auch der Voyeurismus in japanischen Häusern / Filmen weitaus kreativer als der ewige, beschränkte Schlüssellochblick hierzulande).
Später dreht sich das Verhältnis um: Oben bleiben die Wände immer länger offen. Unten dagegen platziert der Mann eine Schiebewand zwischen sich und seine Frau, als dieser das Kind aufgedrängt wird, das ihr eben noch nicht gestorbener Mann mit einer anderen gezeugt hat.
Um dieses Kind dreht sich der Film im Folgenden hauptsächlich. Die Beziehungen der einzelnen Hausbewohner zueinander verschieben sich, es kommt zu Schwierigkeiten, die werden bearbeitet und am Ende hat sich ein neues Gleichgewicht eingestellt, das freilich ganz eindeutig nicht identisch mit dem alten ist.
Wie so oft in den Filmen Goshos, die ich bisher gesehen habe, geht es auch hier um aktive, leidende Frauen und passive, sich selbst bemitleidende Männer. Männer, die alle Menschen ihrer Umgebung an ihren strengen moralischen Maßstäben messen und die doch insgeheim wissen, dass sie selber diesen Maßstäben auch nicht so recht gehorchen. Und wenn doch, dann nur, weil sie nichts wagen. Oft genug aber ist die Unterlassung einer Handlung ihrerseits weitaus verwerflicher als die Handlung der aus Zwang unmoralischen Frau. Der alternde Mann in Entotsu no mieru basho verliert durch solch ein Unterlassung um ein Haar seine Frau.
Beim Wiederherstellen des Gleichgewichts ist nicht nur er wenig hilfreich, auch der Untermieter, dessen moralische Gesinnung aktionistischer ist, trägt wenig dazu bei. Seine Versuch, der Gerechtigeit und seinen Wirten genüge zu tun, resultiert im Selbstmord einer Nebenfigur. Am Ende sammeln die Frauen, die derartigen Kummer gewohnt sind, die Scherben auf und setzen sie wieder neu zusammen.
Wieder geht es um eine Hausgemeinschaft. Diesmal wohnt dort ein alterndes Ehepaar, sie hatte vorher einen anderen Mann, der nicht ganz so tot ist, wie sie zunächst behauptet. Oben haben sie zwei Untermieter einquartiert: Einen Mann und eine Frau.
Zunächst ist oben die Verbindungsür zwischen den Räumen geschlossen. Die Untermieter kommunizieren durch die Wand, die Filmsprache übernimmt dies ganz konkret: In Gesprächsszenen zeigt der Gegenschuss eine kahle Schiebewand, die den Ursprung der Stimme verbirgt. Unten dagegen herrscht ein Mangel an Wänden. Der Ehemann schließt nicht einmal die Öffnung zum Flur, wenn es sich über seine Angetraute hermacht. Der ist das dann manchmal zuviel, vor allem wenn die Untermieterin etwas zu lange auf der Treppe stehen bleibt.
Ein Film wie Entotsu no mieru basho benötigt die Flexibilität der japanischen Architektur mit ihren Schiebewänden, eine Architektur, die eine viel genauere Figuration des Sozialen erlaubt als ihr westliches Pendant: Dort gibt es nur Tür auf / Tür zu, mehr ist nicht möglich, während in japanischen Häusern zahllose Variationen selbst dann möglich sind, wenn jeder in seinem eigenen Zimmer bleibt (nicht zuletzt ist auch der Voyeurismus in japanischen Häusern / Filmen weitaus kreativer als der ewige, beschränkte Schlüssellochblick hierzulande).
Später dreht sich das Verhältnis um: Oben bleiben die Wände immer länger offen. Unten dagegen platziert der Mann eine Schiebewand zwischen sich und seine Frau, als dieser das Kind aufgedrängt wird, das ihr eben noch nicht gestorbener Mann mit einer anderen gezeugt hat.
Um dieses Kind dreht sich der Film im Folgenden hauptsächlich. Die Beziehungen der einzelnen Hausbewohner zueinander verschieben sich, es kommt zu Schwierigkeiten, die werden bearbeitet und am Ende hat sich ein neues Gleichgewicht eingestellt, das freilich ganz eindeutig nicht identisch mit dem alten ist.
Wie so oft in den Filmen Goshos, die ich bisher gesehen habe, geht es auch hier um aktive, leidende Frauen und passive, sich selbst bemitleidende Männer. Männer, die alle Menschen ihrer Umgebung an ihren strengen moralischen Maßstäben messen und die doch insgeheim wissen, dass sie selber diesen Maßstäben auch nicht so recht gehorchen. Und wenn doch, dann nur, weil sie nichts wagen. Oft genug aber ist die Unterlassung einer Handlung ihrerseits weitaus verwerflicher als die Handlung der aus Zwang unmoralischen Frau. Der alternde Mann in Entotsu no mieru basho verliert durch solch ein Unterlassung um ein Haar seine Frau.
Beim Wiederherstellen des Gleichgewichts ist nicht nur er wenig hilfreich, auch der Untermieter, dessen moralische Gesinnung aktionistischer ist, trägt wenig dazu bei. Seine Versuch, der Gerechtigeit und seinen Wirten genüge zu tun, resultiert im Selbstmord einer Nebenfigur. Am Ende sammeln die Frauen, die derartigen Kummer gewohnt sind, die Scherben auf und setzen sie wieder neu zusammen.
Labels:
Entotsu no mieru basho,
Gosho,
Japan,
Shomingeki
Thursday, September 11, 2008
The Hidden, Jack Sholder, 1987
Kyle MacLachlans erste Rolle außerhalb von Lynch-Filmen ist dies, und das ist wohl auch das einzige, was hier filmgeschichtlich von dauerhaftem Interesse ist. Tatsächlich ist MacLachlan als FBI-Alien sehr schön, sein ätherisches Spiel kollidiert aber fürchterlich mit dem Gekaspere des restlichen Casts, allen voran Michael Nouri, der wie ein Paul-Michael-Glaser-Abklatsch aus Starsky & Hutch aussieht. Und sich auch so benimmt.
Wild kreuzt The Hidden Science-Fiction-Schlock in der Body Snatchers-Nachfolge mit bittersten 80ies-Copfilmklischees. Heraus kommt ein nicht uninteressantes aber doch ganz und gar nicht schön anzuschauendes Kraut-und-Rüben-Coctail nicht nur seines Entstehungsjahrzehnts. Die Aliens verlangen nach: Koks, Stripper, Ferraris. Ghettoblaster kommen vor und spielen ganz fürchterliche Popmusik. Auch Kubricks Killer's Kiss schaut kurz um die Ecke und am Ende unternimmt der Filme eine ebenso scharfe wie halbherzige Kurve in Richtung The Parallax View oder wenigstens ganz allgemein dem Paranoiafilm. Während der ersten Verfolgungsjagd laufen zwei Männer mit einer Glasscheibe zwischen sich vors Auto wie in der Slapstickkomödie, später ballert eine Alieninkarnation nun völlig enthemmt auf Countrymusikplatten.
Das ist natürlich alles nicht ernst gemeint, aber ich würde mich doch wundern, wenn Sholder auch nur halbwegs gewusst hat, auf was für einen Modus von Ironie er da genau zielt. Gut zwanzig Jahre später funktioniert das Ergebnis als Parodie kein bisschen und als Film nicht viel besser (die Inszenierung ist mit wenigen Ausnahmen uninspiriert). Als popkulturelles Artefakt und filmhistorisches Museumsstück einer Zeit, die vielleicht wirklich so schrecklich war, wie alle sagen, ist das Ding aber nicht zu verachten. Als solches würde ich sehr gerne lesen, was die Himmelhunde darüber zu sagen hätten (auch wenn The Hidden genretechnisch nicht so ganz in deren Zuständigkeit fällt).
[Nachtrag Jahre später: Es dürfte deutlich zu erkennen sein, dass dieser Text vor meiner Entdeckung der American Eighties geschrieben wurde. Er ist so weit von dem entfernt, was ich inzwischen über das Jahrzehnt denke, dass ich in hier nur aus "eigenhistorischem Interesse" hier stehen lasse.]
Wild kreuzt The Hidden Science-Fiction-Schlock in der Body Snatchers-Nachfolge mit bittersten 80ies-Copfilmklischees. Heraus kommt ein nicht uninteressantes aber doch ganz und gar nicht schön anzuschauendes Kraut-und-Rüben-Coctail nicht nur seines Entstehungsjahrzehnts. Die Aliens verlangen nach: Koks, Stripper, Ferraris. Ghettoblaster kommen vor und spielen ganz fürchterliche Popmusik. Auch Kubricks Killer's Kiss schaut kurz um die Ecke und am Ende unternimmt der Filme eine ebenso scharfe wie halbherzige Kurve in Richtung The Parallax View oder wenigstens ganz allgemein dem Paranoiafilm. Während der ersten Verfolgungsjagd laufen zwei Männer mit einer Glasscheibe zwischen sich vors Auto wie in der Slapstickkomödie, später ballert eine Alieninkarnation nun völlig enthemmt auf Countrymusikplatten.
Das ist natürlich alles nicht ernst gemeint, aber ich würde mich doch wundern, wenn Sholder auch nur halbwegs gewusst hat, auf was für einen Modus von Ironie er da genau zielt. Gut zwanzig Jahre später funktioniert das Ergebnis als Parodie kein bisschen und als Film nicht viel besser (die Inszenierung ist mit wenigen Ausnahmen uninspiriert). Als popkulturelles Artefakt und filmhistorisches Museumsstück einer Zeit, die vielleicht wirklich so schrecklich war, wie alle sagen, ist das Ding aber nicht zu verachten. Als solches würde ich sehr gerne lesen, was die Himmelhunde darüber zu sagen hätten (auch wenn The Hidden genretechnisch nicht so ganz in deren Zuständigkeit fällt).
[Nachtrag Jahre später: Es dürfte deutlich zu erkennen sein, dass dieser Text vor meiner Entdeckung der American Eighties geschrieben wurde. Er ist so weit von dem entfernt, was ich inzwischen über das Jahrzehnt denke, dass ich in hier nur aus "eigenhistorischem Interesse" hier stehen lasse.]
Labels:
Hollywood,
Jack Sholder,
Polizeifilm,
Science Fiction,
The Hidden,
Trash,
USA
Berlin Kino 11.9.-17.9.2008
Wenigstens zwei großartige Filme laufen heute an: Zum einen Gomorrha, ein italienisches Sozialdrama über die neapolitanische Camorra, ein Film, der nicht ohne kleine Makel bleibt, aber sich seines Themas mit beeindruckender Offenheit und Intelligenz annimmt. Hier ein Interview mit dem Regisseur. Zum anderen Step Brothers / Stiefbrüder, ein neues Werk der Schmiede Ferrell / Reilly / McKay / Apatow-Schmiede, mit einem extrem reduzierten Plot, um den herum dafür dann umso mehr passiert. Konzeptuell vielleicht kein ganz so großes Glanzstück wie Anchorman, die Umsetzung aber stimmt perfekt. Weiterhin liest sich der österreichische Thriller Weiße Lilien bei Ekkehard sehr interessant und Christian hatte twitternd den womöglich nur unglücklich betitelten Die Erfindung der Currywurst wenn ich mich recht entsinne sogar mit Fassbinder (ähem, noch ist nichts zu spät, irgendwie muss das doch zu verhindern sein!?!) verglichen. Zum Schluss noch eine sehr vorsichtige Empfehlung bezüglich Thomas Imbachs I Was A Swiss Banker, einem wirren Märchenfilm aus dem und über das wirre(n) Märchenland Schweiz, der mir auf der Berlinale 2007 zwar sehr gut gefallen hat, allerdings liegt mir dieses sonderbare Land auch schon rein biografisch recht nahe. Der Film kann ansonsten wahrscheinlich auch sehr schnell auf die Nerven gehen. Ganz sicher auf die Nerven geht Babylon A.D.. Vor dem sei gewarnt.
Im Arsenal läuft weiterhin die wunderschöne Gosho-Retro, außerdem startet morgen abend eine interessant kuratierte begleitende Reihe zu dieser Ausstellung mit Dschungelfilmen aus mehreren Jahrzehnten. Der Eröffnungsfilm von Robert Siodmak heißt Cobra Woman und zeigt Maria Montez in einer schönen Doppelrolle, freilich ist das Ganze dann doch nicht mehr als ein auch mal etwas langatmiges Campspektakel in tollen Kulissen mit weitverstreuten Höhepunkten. Ganz großartig dagegen Andrea Tonaccis Serras da desordem, mehr hier. Außerdem Hitchcocks Erstling und in der Magical History Tour Filme von Maya Deren und Coppolas The Conversation.
Doch noch einmal hinweisen möchte ich auf die Reihe "1968 in Berlin" im Zeughauskino, die zwar nach der langen Arsenal-Reihe nicht mehr viele zu interessieren scheint, aber im Gegensatz zu dieser einen klaren filmhistorischen Fokus aufweist: Den Berliner Arbeiterfilm der frühen Siebziger Jahre. Die beiden Christian-Ziewer-Filme, die ich da letzte Woche gesehen habe, waren denn auch zwar durchaus zäh, aber nicht uninteressant, nächsten Mittwoch ist Ziewer selbst anwesend.
Im Arsenal läuft weiterhin die wunderschöne Gosho-Retro, außerdem startet morgen abend eine interessant kuratierte begleitende Reihe zu dieser Ausstellung mit Dschungelfilmen aus mehreren Jahrzehnten. Der Eröffnungsfilm von Robert Siodmak heißt Cobra Woman und zeigt Maria Montez in einer schönen Doppelrolle, freilich ist das Ganze dann doch nicht mehr als ein auch mal etwas langatmiges Campspektakel in tollen Kulissen mit weitverstreuten Höhepunkten. Ganz großartig dagegen Andrea Tonaccis Serras da desordem, mehr hier. Außerdem Hitchcocks Erstling und in der Magical History Tour Filme von Maya Deren und Coppolas The Conversation.
Doch noch einmal hinweisen möchte ich auf die Reihe "1968 in Berlin" im Zeughauskino, die zwar nach der langen Arsenal-Reihe nicht mehr viele zu interessieren scheint, aber im Gegensatz zu dieser einen klaren filmhistorischen Fokus aufweist: Den Berliner Arbeiterfilm der frühen Siebziger Jahre. Die beiden Christian-Ziewer-Filme, die ich da letzte Woche gesehen habe, waren denn auch zwar durchaus zäh, aber nicht uninteressant, nächsten Mittwoch ist Ziewer selbst anwesend.
Monday, September 08, 2008
Madamu to nyobo / The Neighbor's Wife and Mine, Heinosuke Gosho, 1931
Die Tonspur auf dem Filmstreifen ist 1931 noch frisch und jung, gerade in Japan, wo bis in die späten 30er der Stummfilm noch echte Alternative bleibt. In The Neighbor's Wife and Mine bricht die Tonspur als Störfaktor in den Film ein und stört die Textproduktion. Erst ganz am Ende ist der Filmton gezähmt und die Buchstaben leiden nicht mehr unter ihr.
Nach einem sonderbaren Prolog um einen im weiteren Verlauf nicht mehr auftauchenden Maler (dessen Bildproduktion geht sehr schnell vor die Hunde, im weiteren dominieren Textproduktion und Tonproduktion) zieht ein Schriftsteller mitsamt junger Familie in ein Landhaus. Es gilt für ihn, möglichst schnell ein Theaterstück zu vollenden, der Auftraggeber drängt schon. Doch noch jedesmal, wenn er sich hinsetzt und beginnt, die ersten Zeichen auf das Konzeptpapier zu schreiben, stört die Tonspur. Mal lässt sie eine Katze miauen, mal stören Mäuse, mal terrorisieren die eigenen Kinder per Wecker (dass der Kinozuschauer ob der mangelnden Qualität der Kopie viele dieser Geräusche höchstens erahnen kann, verleiht The Neighbor's Wife and Mine eine zusätzlich bizarre Note). Blatt für Blatt wird zusammengeknüllt und weggeschmissen (oft auch Blätter, auf die noch nicht ein einziges Zeichen gemalt wurde, so weit reicht die Krise der Textproduktion), sehr zum Ärger der Ehefrau, die langsam aber sicher die Geduld verliert. Und wenn ein Hausierer klingelt und dem Narzissmus des eitlen und tendenziell auch faulen (die Tonspur ist oft genug nur Ausrede) Schriftstellers schmeichelt, kauft er ihm sehr gerne mit seinem letzten Geld scharlatanistischen Unsinn ab.
Richtig in Fart kommt die Tonspur, wenn im Nachbarhaus die Jazzband zu proben beginnt. Nun ist an Textproduktion schon gar nicht mehr zu denken, jetzt gilt es den Ursprung des Filmtons nicht mehr nur zu vertreiben, sondern auch zu ergründen. Zunächst möchte der Schriftsteller nur um Probepause bitten, aufgrund einiger Modern Girls und mehrerer Flaschen Alkohol wird es jedoch ein längerer Aufenthalt. Der erwartbare Wutausbruch seiner Frau hinterher (nun ist sie es, die den Textfluss, der langsam in Gang kommt, hemmt, durch absichtliches Lärmen in der Küche, wenn ich mich richtig erinnere) ist überraschenderweise vor allem darauf zurückzuführen, dass sie selbst auch gerne ein Modern Girl wäre.
Am Ende verbinden sich mehrere Modernisierungsmotive miteinander: Der Filmton selbst, das Modern Girl sowie die Jazznummer "The Age of Speed", die der Schriftsteller ganz wörtlich nimmt und die ihn zu schriftstellerischen Hochleistungen anspornt. Und im Epilog, der motivisch an den Prolog anschließt, haben sich der Schriftsteller und seine Familie mit der Tonspur nicht nur arrangiert, sondern sind mit ihr eine Symbiose eingegangen, stimmen in ihre Melodie mit ein.
Ein schöner, ein regelrecht zauberhafter Film.
Nach einem sonderbaren Prolog um einen im weiteren Verlauf nicht mehr auftauchenden Maler (dessen Bildproduktion geht sehr schnell vor die Hunde, im weiteren dominieren Textproduktion und Tonproduktion) zieht ein Schriftsteller mitsamt junger Familie in ein Landhaus. Es gilt für ihn, möglichst schnell ein Theaterstück zu vollenden, der Auftraggeber drängt schon. Doch noch jedesmal, wenn er sich hinsetzt und beginnt, die ersten Zeichen auf das Konzeptpapier zu schreiben, stört die Tonspur. Mal lässt sie eine Katze miauen, mal stören Mäuse, mal terrorisieren die eigenen Kinder per Wecker (dass der Kinozuschauer ob der mangelnden Qualität der Kopie viele dieser Geräusche höchstens erahnen kann, verleiht The Neighbor's Wife and Mine eine zusätzlich bizarre Note). Blatt für Blatt wird zusammengeknüllt und weggeschmissen (oft auch Blätter, auf die noch nicht ein einziges Zeichen gemalt wurde, so weit reicht die Krise der Textproduktion), sehr zum Ärger der Ehefrau, die langsam aber sicher die Geduld verliert. Und wenn ein Hausierer klingelt und dem Narzissmus des eitlen und tendenziell auch faulen (die Tonspur ist oft genug nur Ausrede) Schriftstellers schmeichelt, kauft er ihm sehr gerne mit seinem letzten Geld scharlatanistischen Unsinn ab.
Richtig in Fart kommt die Tonspur, wenn im Nachbarhaus die Jazzband zu proben beginnt. Nun ist an Textproduktion schon gar nicht mehr zu denken, jetzt gilt es den Ursprung des Filmtons nicht mehr nur zu vertreiben, sondern auch zu ergründen. Zunächst möchte der Schriftsteller nur um Probepause bitten, aufgrund einiger Modern Girls und mehrerer Flaschen Alkohol wird es jedoch ein längerer Aufenthalt. Der erwartbare Wutausbruch seiner Frau hinterher (nun ist sie es, die den Textfluss, der langsam in Gang kommt, hemmt, durch absichtliches Lärmen in der Küche, wenn ich mich richtig erinnere) ist überraschenderweise vor allem darauf zurückzuführen, dass sie selbst auch gerne ein Modern Girl wäre.
Am Ende verbinden sich mehrere Modernisierungsmotive miteinander: Der Filmton selbst, das Modern Girl sowie die Jazznummer "The Age of Speed", die der Schriftsteller ganz wörtlich nimmt und die ihn zu schriftstellerischen Hochleistungen anspornt. Und im Epilog, der motivisch an den Prolog anschließt, haben sich der Schriftsteller und seine Familie mit der Tonspur nicht nur arrangiert, sondern sind mit ihr eine Symbiose eingegangen, stimmen in ihre Melodie mit ein.
Ein schöner, ein regelrecht zauberhafter Film.
Thursday, September 04, 2008
Berlin Kino 4.-10.9.2008
Zunächst Johnny To: Dessen vorzüglicher Sparrow startet im fsk und wenn ich mich nicht täusche deutschlandweit auch nur dort. Immerhin ist dies ein Anfang, zu hoffen bleibt, dass auch andere Werke des Meisters hierzulande einen Starttermin im Kino (genau da muss man sich seine Filme ansehen) erhalten. Mehr hier und hier. Wanted ist die politisch entschärfte, ästhetisch radikalisierte Verfilmung einer nach oberflächlichen Durchsicht recht widerwärtigen Comicvorlage und macht viel Spaß. Hier mehr. Dann noch gleich zweimal Sex im Alter: Wolke 9 von Andreas Dresen und der pinku eiga Tasogare. Thomas zum ersten, Ekkehard zum zweiten, ich ebenfalls zum zweiten den ich hiermit ebenfalls wärmstens empfehle (während ich den deutschen Verleihtitel lieber verschweige).
Die Tilsiter Lichtspiele liegen soweit im Osten, abseits der restlichen interessanten Kinos der Stadt, dass ich sie irgedwie nie so richtig auf dem Plan habe, dabei ist deren Programm bisweilen recht interessant. Heute startet dort eine vollständige Retrospektive der Filme Roland Klicks, von dem ich bisher erst den vorzüglichen Deadlock gesehen habe. In den Lichtspielen bietet sich nun (und noch ziemlich lange, nämlich die nächsten drei Wochen) nicht nur mir die Möglichkeit, die Lücken zu schließen (hoffentlich auf 35mm, manchmal laufen da DVD-Projektionen). Dank an Thomas für den getwitterten Hinweis.
In den anderen hier relevanten Kinos läuft, soweit ich das überblicken kann, noch immer das, worauf bereits letzte Woche verwiesen wurde, einzig auf Jack Arnolds ganz wundersamen und sonderbaren Incredible Shrinking Man möchte ich doch noch verweisen (im Arsenal am Dienstag, samstags ist dort der ebenfalls schwer bezaubernde Madamu to nyobo zu sehen).
Die Tilsiter Lichtspiele liegen soweit im Osten, abseits der restlichen interessanten Kinos der Stadt, dass ich sie irgedwie nie so richtig auf dem Plan habe, dabei ist deren Programm bisweilen recht interessant. Heute startet dort eine vollständige Retrospektive der Filme Roland Klicks, von dem ich bisher erst den vorzüglichen Deadlock gesehen habe. In den Lichtspielen bietet sich nun (und noch ziemlich lange, nämlich die nächsten drei Wochen) nicht nur mir die Möglichkeit, die Lücken zu schließen (hoffentlich auf 35mm, manchmal laufen da DVD-Projektionen). Dank an Thomas für den getwitterten Hinweis.
In den anderen hier relevanten Kinos läuft, soweit ich das überblicken kann, noch immer das, worauf bereits letzte Woche verwiesen wurde, einzig auf Jack Arnolds ganz wundersamen und sonderbaren Incredible Shrinking Man möchte ich doch noch verweisen (im Arsenal am Dienstag, samstags ist dort der ebenfalls schwer bezaubernde Madamu to nyobo zu sehen).
Wednesday, September 03, 2008
Serras da desordem / The Hills of Disorder, Andrea Tonacci, 2006
Zu Beginn ist Carapiru alleine im Dschungel. Körnige Schwarz-Weiß-Bilder zeigen, wie sich der alte Indianer ein Lager aus großen Blättern baut. Schätzungsweise zehn Jahre lang hat Carapiru einsam im Dschungel gelebt, nachdem er das Massaker an seinem Stamm überlebt hat. In Tonaccis Film, der sich mit ganz unterschiedlichen Mitteln Carapiru nähert, seiner Vergangenheit wie seiner Gegenwart, bleibt diese Zeit des einsamen Kampfes gegen die und mit der Natur im Dschungel größtenteils Leerstelle. Einzig die ersten paar Minuten (sowie kurze Allusionen ganz am Ende des Films) verweisen auf diese Phase, die Carapiru womöglich stärker prägte, als jede andere seines Lebens, die aber dem Film nicht zugänglich wird, vielleicht, weil Film für Tonacci ganz grundsätzlich ein Medium des Sozialen ist.
Serras da desordem ist ein Dokumentar- und gleichzeitig ein Zeitreisefilm. Zunächst, nach den ersten einsamen Minuten im Dschungel, unternimmt der Film eine minutiöse Rekonstruktion eines Lebens nicht jenseits der Geschichte aber doch jenseits des okzidentalen Geschichtsverständnisses. Nun in Farbe, mit Hilfe einer sehr beweglichen Kamera, die auf körperliche Unmittelbarkeit zielt, reinszeniert Tonacci Carapirus Leben vor dem Massaker durch die Weißen. Frei und flüssig nähert sich die Kamera den Indianern, wie sie ihrem Tagwerk nachgehen, den spielenden Kindern, den Tieren und Pflanzen um sie herum. Die Gespräche der Indianer werden nicht untertitelt,dadurch entsteht eine sonderbare Mischung aus körperlicher Nähe und diskursiver Distanz, beides ins Extrem getrieben und nicht gegeneinander aufrechenbar. Auch später im Film werden die indianischen Dialogsätze nicht übersetzt, die Distanz bleibt aufrecht, dennoch zeigt Tonacci oft sprechende Indianer, nicht immer bin ich mir sicher, ob die Weigerung, den Sinn der Worte erschließbar zu machen, wirklich eine Geste des Respekts ist - eine solche soll sie ohne Zweifel sein -, ob darin nicht manchmal eine dem Film ansonsten ganz unangemessene Diskursverweigerung steckt, die implizite Schließung eines historischen Prozesses, der ansonsten bei aller Brüche und Diskontinuitäten Prozess bleibt. Hier, in dieser grandiosen Anfangsszene, ist der Verzicht auf Semantisierung durch Sprache jedoch ganz und gar folgerichtig, eine Untertitelung könnte den Bildern und Tönen (Bilder und Töne jenseits des Untertitels, weil jenseits aller Kulturtechniken, die Untertitel und Untertitelähnliches unabdingbar machen) nichts hinzufügen, aber viel nehmen.
Serras da desordem ist ein Dokumentarfilm, der genau weiß, dass die Wirklichkeit sich nicht schon dadurch preisgibt, dass man die Kamera auf sie richtet und wartet. Serras da desordem ist ein Film der Konstruktion. In die konstruierte Fremdheit, die gleichzeitig absolute Nähe ist, (die Spiele der Kinder im Dschungel sind die Spiele der Kinder in den Städten, je länger der Film die Kinder beobachtet, desto mehr erschließen sich auch die Handlungen der Erwachsenen als Erkannte, am eigenen Körper nachvollziehbare, wodurch im Umkehrschluss auch das Trennende deutlicher hervortritt, als etwas dem Menschen an sich Äußerliches und darum umso Brutaleres / Brutalisierendes) lässt Tonacci eine Eisenbahn einfahren. Sie fährt auf die Kamera zu, füllt die komplette Leinwand aus, bricht mit derselben Konsequenz und Härte in den Film ein, wie die britischen Schiffe es in The New World tun. Viel später im Film wird Carapiru selbst in einem solchen Zug sitzen und aus dem Fenster in den Regenwald hinein schauen.
Mit der Eisenbahn bricht die Geschichte in den Film ein. Ganz wörtlich ist das zu verstehen, im Folgenden montiert Tonacci historische Filmaufnahmen der Regenwaldkolonisation mit zeitgenössischen Spielfilmen und selbst gedrehtem Material. (Vor allem der Wechsel vom Farbbild zum schwarzweissen funktioniert, wie noch öfters im Film, als Geste der Historisierung, ebenso wie der umgekehrte Wechsel einer hin zur Unmittelbarkeit, eine Geste der Vergegenwärtigung ist.) Das Massaker an Carapirus Stamm setzt sich aus heterogenen, historisierbaren Bildquellen zusammen, der Film hat seine Unschuld verloren.
Serras da desordem öffnet sich dem gesamten Bildarsenal der Gegenwart und der Vergangenheit, am eindrücklichsten in einer Montagesequenz, die wenig später folgt und die gesamte Koloniserungs- und Industrialiserungsgeschichte Brasiliens in einem apokalyptischen Feuerwerk zelebriert, von den Minenarbeitern und Urwaldrodungen der Anfangsjahre bis zum Karneval und den Fußballweltmeisterschaften der Gegenwart. Diese Montagesequenz ist angelegt als Antwort auf das reinszenierte Indianerleben, das von ihr in jeder Hinsicht verschieden ist, weil sie im Gegensatz zu diesem eine Geschichte darstellt, die eine Geschichte außerhalb des Menschen selbst ist und diesen von außen affiziert (und einspannt in massenornamentalen Veranstaltungen, deren strukturelle Nähe zur Fließbandproduktion der Film eindrucksvoll und ganz und gar nicht unzulässig didaktisch herausarbeitet). Doch noch mehr dringt in diesen, in seiner Ambition bisweilen nicht nur ein wenig wahnwitzigen Film ein. Der Titelschriftzug, der erst ungefähr nach einer halben Stunde auftaucht, verweist direkt auf Apocalpyse Now, ein Filmzitat, das am Ende noch einmal aufgegriffen wird und das gesamte Werk einklammert, als lose Klammer freilich, auf eine Weise, dass nicht hinter jedem Weißen gleich die Fratze von General Kurtz lauert.
Im Folgenden nähert sich Tonaccis Film dem klassisch dokumentarischen Modus an. Der Film bleibt dabei jedoch dauerhaft auf zwei Ebenen: In der Gegenwart folgt Serras da desordem Carapiru auf einer Reise, die dieser vor einigen Jahrzehnten schon einmal angetreten hat. Aus dem Urwald, der nicht Darstellbar ist, hinaus, zuerst in eine kleine Dorfgemeinschaft, die den Neuankömmling zuerst jagt, dann aber freundlich aufnimmt und später nur sehr ungern ziehen lässt in die Stadt, wo er bei einem ebenfalls freundlichen, aber weniger offenherzigen Ethnologen unterkommt und diesem als Forschungsobjekt dient. Schließlich zurück zum Überrest seines Stammes, der sich am Rande des Dschungels niedergelassen hat und ein reichlich hoffnungsloses Leben zwischen dem Abfall der Zivilisation und den Überresten des verlorenen Zugriffs auf Natur führt, nur noch selten nackt oder in Stammestracht, sondern gekleidet in Lumpen, die vermutlich den Altkleidersammlungen der Städter entstammen. Ganz am Ende dann der nochmalige Abschied in den Regenwald, von dem alle Beteiligten wissen, dass er nicht ganz ernst gemeint sein kann.
Bisweilen arbeitet Tonacci auch hier mit Reinszenierungen, meistens jedoch bleibt der Film ganz in der Gegenwart, die Vergangenheit ist vor allem als Erzählung präsent sowie durch zahlreiche Fotografien, die Carapiru auf seiner ersten Reise in den 60er / 70er-Jahren zeigen, manchmal auch durch Filmausschnitten, die seinerzeit die Entdeckung des Massakerüberlenden - um den sich sogar eine kleine Seifenoper entspannt, als ein weiterer Indianer auftaucht, der durchaus glaubwürdig behauptet, Carapirus Sohn zu sein - begleiteten.
So ist denn Serras da desordem mehr ein Film über Geschichte, oder vielleicht ein Film über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Geschichtsschreibung, als ein ethnografischer Film im strengen Sinne, obwohl er ein solcher natürlich auch ist. Freilich richtet sich der ethnografische Impetus in gleicher Weise auf alle Menschengruppen, mit denen Carapiru Kontakt aufnimmt auf seinen zwei parallelen Reisen, auf die Indianer ebenso wie auf die Dorfbevölkerung und die Städter (diese werden unter anderem bei einer Familienmahlzeit gezeigt, die geframt ist wie unendlich viele ähnliche Szenen in Spielfilmen über die sich selbst entfremdete Bourgeoisie). Interessant für den Film sind nicht nur die Handlungen als solche, sondern auch und vor allem deren Spiegelungen / Brechungen in anderen Zeiten, an anderen Orten, auch in anderen filmästhetischen Modi (Reinszenierung vs dokumentarischer Blick vs Zeitdokument), interessant ist für den Film vor allem die Handlung, die gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit stattfindet und sich dadurch selbst kommentiert.
Serras da desordem ist ein Film von epischen Proportionen (und über zwei Stunden Länge), das Mammuthprojekt eines Regisseurs, der seit seines legendären Spielfilmdebüts Bang Bang aus dem Jahr 1970 wenig von sich hören hat lassen. Jahrelange Arbeit und unendlich viel Reflektion stecken in Serras da desordem, außerdem (wie der Abspann zeigt) das Geld von wahrscheinlich so ziemlich jeder brasilianischen Kulturorganisation, die auch nur ein paar Real für ein solches Projekt locker machen kann. Es ist nicht weniger als eine Schande und ganz und gar unglaublich, dass dieser ebenso wahnwitzige wie großartige Film außerhalb Brasiliens kaum für Aufsehen gesorgt hat. Vielleicht ist der Grund darin zu suchen, dass an der Produktion zwar viele verschiedene, aber eben (zumindest fast) ausschließlich brasilianische Organisationen beteiligt waren, nicht jedoch die klassischen Mäzenen des world cinema. Vielleicht auch darin, dass Andrea Tonacci in vielem ein Kind einer anderen Zeit ist und letzten Endes zuallererst ein Modernist. (Nicht immer gereicht das dem Film zum Vorteil, die offen selbstreflexive Geste am Ende etwa, wenn Serras da desordem noch einmal ein Making-Of seiner großartigen Eingangssequenz anfügt, um dem eventuellen Eindruck falscher Authentizität entgegenzutreten (diese falsche Authentizität ist ja in Wahrheit schon lange nicht mehr die größte Gefahr für den Dokumentarfilm, der hat ganz andere, fast entgegengesetzte Probleme, man denke nur an Standart Operating Procedure), diese Geste ist schlichtweg überflüssig und auch die häufigen Wechsel zwischen Farb- und Schwarzweißmaterial rechtfertigen sich selbst nicht immer.)
Doch wie auch immer und wie gesagt ist und bleibt es eine Schande, dass Tonaccis Werk die Entdeckung durch die Cinephilie vobehalten blieb. Letzten Endes liegt es vielleicht daran, dass Serras da desordem ein Werk des Diskurses ist und keines der Transzendenz, die im world cinema in den letzten Jahren wieder ganz vehement auf den Plan getreten ist. So lieb mir beispielsweise Allonsos Los muertos als der vielleicht quintessentielle Dschungelfilm der transzendentalen Schule auch ist, gegen Tonaccis Meisterwerk, das noch in seinen Fehlern mehr wagt als meinetwegen auch Bruno Dumont es in seiner gesamten Karriere getan hat, verblasst er in meiner Erinnerung in Minutenschnelle, verwandelt sich in eine nette Wandtapete des Gedächtnisses, während er sich auf die Substanz des Denkens an sich ganz im Gegenteil zu Serras da desordem nicht ein bisschen einlässt.
Bevor das hier endgültig in Filmpolitik abgleitet (auf eine Instrumentalisierung für eine solche möchte ich Tonaccis Film nun wirklich nicht reduziert wissen) folgt hier nur noch der Hinweis, dass Serras da desordem am 13.9. im Kino Arsenal zu sehen ist.
Serras da desordem ist ein Dokumentar- und gleichzeitig ein Zeitreisefilm. Zunächst, nach den ersten einsamen Minuten im Dschungel, unternimmt der Film eine minutiöse Rekonstruktion eines Lebens nicht jenseits der Geschichte aber doch jenseits des okzidentalen Geschichtsverständnisses. Nun in Farbe, mit Hilfe einer sehr beweglichen Kamera, die auf körperliche Unmittelbarkeit zielt, reinszeniert Tonacci Carapirus Leben vor dem Massaker durch die Weißen. Frei und flüssig nähert sich die Kamera den Indianern, wie sie ihrem Tagwerk nachgehen, den spielenden Kindern, den Tieren und Pflanzen um sie herum. Die Gespräche der Indianer werden nicht untertitelt,dadurch entsteht eine sonderbare Mischung aus körperlicher Nähe und diskursiver Distanz, beides ins Extrem getrieben und nicht gegeneinander aufrechenbar. Auch später im Film werden die indianischen Dialogsätze nicht übersetzt, die Distanz bleibt aufrecht, dennoch zeigt Tonacci oft sprechende Indianer, nicht immer bin ich mir sicher, ob die Weigerung, den Sinn der Worte erschließbar zu machen, wirklich eine Geste des Respekts ist - eine solche soll sie ohne Zweifel sein -, ob darin nicht manchmal eine dem Film ansonsten ganz unangemessene Diskursverweigerung steckt, die implizite Schließung eines historischen Prozesses, der ansonsten bei aller Brüche und Diskontinuitäten Prozess bleibt. Hier, in dieser grandiosen Anfangsszene, ist der Verzicht auf Semantisierung durch Sprache jedoch ganz und gar folgerichtig, eine Untertitelung könnte den Bildern und Tönen (Bilder und Töne jenseits des Untertitels, weil jenseits aller Kulturtechniken, die Untertitel und Untertitelähnliches unabdingbar machen) nichts hinzufügen, aber viel nehmen.
Serras da desordem ist ein Dokumentarfilm, der genau weiß, dass die Wirklichkeit sich nicht schon dadurch preisgibt, dass man die Kamera auf sie richtet und wartet. Serras da desordem ist ein Film der Konstruktion. In die konstruierte Fremdheit, die gleichzeitig absolute Nähe ist, (die Spiele der Kinder im Dschungel sind die Spiele der Kinder in den Städten, je länger der Film die Kinder beobachtet, desto mehr erschließen sich auch die Handlungen der Erwachsenen als Erkannte, am eigenen Körper nachvollziehbare, wodurch im Umkehrschluss auch das Trennende deutlicher hervortritt, als etwas dem Menschen an sich Äußerliches und darum umso Brutaleres / Brutalisierendes) lässt Tonacci eine Eisenbahn einfahren. Sie fährt auf die Kamera zu, füllt die komplette Leinwand aus, bricht mit derselben Konsequenz und Härte in den Film ein, wie die britischen Schiffe es in The New World tun. Viel später im Film wird Carapiru selbst in einem solchen Zug sitzen und aus dem Fenster in den Regenwald hinein schauen.
Mit der Eisenbahn bricht die Geschichte in den Film ein. Ganz wörtlich ist das zu verstehen, im Folgenden montiert Tonacci historische Filmaufnahmen der Regenwaldkolonisation mit zeitgenössischen Spielfilmen und selbst gedrehtem Material. (Vor allem der Wechsel vom Farbbild zum schwarzweissen funktioniert, wie noch öfters im Film, als Geste der Historisierung, ebenso wie der umgekehrte Wechsel einer hin zur Unmittelbarkeit, eine Geste der Vergegenwärtigung ist.) Das Massaker an Carapirus Stamm setzt sich aus heterogenen, historisierbaren Bildquellen zusammen, der Film hat seine Unschuld verloren.
Serras da desordem öffnet sich dem gesamten Bildarsenal der Gegenwart und der Vergangenheit, am eindrücklichsten in einer Montagesequenz, die wenig später folgt und die gesamte Koloniserungs- und Industrialiserungsgeschichte Brasiliens in einem apokalyptischen Feuerwerk zelebriert, von den Minenarbeitern und Urwaldrodungen der Anfangsjahre bis zum Karneval und den Fußballweltmeisterschaften der Gegenwart. Diese Montagesequenz ist angelegt als Antwort auf das reinszenierte Indianerleben, das von ihr in jeder Hinsicht verschieden ist, weil sie im Gegensatz zu diesem eine Geschichte darstellt, die eine Geschichte außerhalb des Menschen selbst ist und diesen von außen affiziert (und einspannt in massenornamentalen Veranstaltungen, deren strukturelle Nähe zur Fließbandproduktion der Film eindrucksvoll und ganz und gar nicht unzulässig didaktisch herausarbeitet). Doch noch mehr dringt in diesen, in seiner Ambition bisweilen nicht nur ein wenig wahnwitzigen Film ein. Der Titelschriftzug, der erst ungefähr nach einer halben Stunde auftaucht, verweist direkt auf Apocalpyse Now, ein Filmzitat, das am Ende noch einmal aufgegriffen wird und das gesamte Werk einklammert, als lose Klammer freilich, auf eine Weise, dass nicht hinter jedem Weißen gleich die Fratze von General Kurtz lauert.
Im Folgenden nähert sich Tonaccis Film dem klassisch dokumentarischen Modus an. Der Film bleibt dabei jedoch dauerhaft auf zwei Ebenen: In der Gegenwart folgt Serras da desordem Carapiru auf einer Reise, die dieser vor einigen Jahrzehnten schon einmal angetreten hat. Aus dem Urwald, der nicht Darstellbar ist, hinaus, zuerst in eine kleine Dorfgemeinschaft, die den Neuankömmling zuerst jagt, dann aber freundlich aufnimmt und später nur sehr ungern ziehen lässt in die Stadt, wo er bei einem ebenfalls freundlichen, aber weniger offenherzigen Ethnologen unterkommt und diesem als Forschungsobjekt dient. Schließlich zurück zum Überrest seines Stammes, der sich am Rande des Dschungels niedergelassen hat und ein reichlich hoffnungsloses Leben zwischen dem Abfall der Zivilisation und den Überresten des verlorenen Zugriffs auf Natur führt, nur noch selten nackt oder in Stammestracht, sondern gekleidet in Lumpen, die vermutlich den Altkleidersammlungen der Städter entstammen. Ganz am Ende dann der nochmalige Abschied in den Regenwald, von dem alle Beteiligten wissen, dass er nicht ganz ernst gemeint sein kann.
Bisweilen arbeitet Tonacci auch hier mit Reinszenierungen, meistens jedoch bleibt der Film ganz in der Gegenwart, die Vergangenheit ist vor allem als Erzählung präsent sowie durch zahlreiche Fotografien, die Carapiru auf seiner ersten Reise in den 60er / 70er-Jahren zeigen, manchmal auch durch Filmausschnitten, die seinerzeit die Entdeckung des Massakerüberlenden - um den sich sogar eine kleine Seifenoper entspannt, als ein weiterer Indianer auftaucht, der durchaus glaubwürdig behauptet, Carapirus Sohn zu sein - begleiteten.
So ist denn Serras da desordem mehr ein Film über Geschichte, oder vielleicht ein Film über die Möglichkeiten und Unmöglichkeiten von Geschichtsschreibung, als ein ethnografischer Film im strengen Sinne, obwohl er ein solcher natürlich auch ist. Freilich richtet sich der ethnografische Impetus in gleicher Weise auf alle Menschengruppen, mit denen Carapiru Kontakt aufnimmt auf seinen zwei parallelen Reisen, auf die Indianer ebenso wie auf die Dorfbevölkerung und die Städter (diese werden unter anderem bei einer Familienmahlzeit gezeigt, die geframt ist wie unendlich viele ähnliche Szenen in Spielfilmen über die sich selbst entfremdete Bourgeoisie). Interessant für den Film sind nicht nur die Handlungen als solche, sondern auch und vor allem deren Spiegelungen / Brechungen in anderen Zeiten, an anderen Orten, auch in anderen filmästhetischen Modi (Reinszenierung vs dokumentarischer Blick vs Zeitdokument), interessant ist für den Film vor allem die Handlung, die gleichzeitig in der Gegenwart und in der Vergangenheit stattfindet und sich dadurch selbst kommentiert.
Serras da desordem ist ein Film von epischen Proportionen (und über zwei Stunden Länge), das Mammuthprojekt eines Regisseurs, der seit seines legendären Spielfilmdebüts Bang Bang aus dem Jahr 1970 wenig von sich hören hat lassen. Jahrelange Arbeit und unendlich viel Reflektion stecken in Serras da desordem, außerdem (wie der Abspann zeigt) das Geld von wahrscheinlich so ziemlich jeder brasilianischen Kulturorganisation, die auch nur ein paar Real für ein solches Projekt locker machen kann. Es ist nicht weniger als eine Schande und ganz und gar unglaublich, dass dieser ebenso wahnwitzige wie großartige Film außerhalb Brasiliens kaum für Aufsehen gesorgt hat. Vielleicht ist der Grund darin zu suchen, dass an der Produktion zwar viele verschiedene, aber eben (zumindest fast) ausschließlich brasilianische Organisationen beteiligt waren, nicht jedoch die klassischen Mäzenen des world cinema. Vielleicht auch darin, dass Andrea Tonacci in vielem ein Kind einer anderen Zeit ist und letzten Endes zuallererst ein Modernist. (Nicht immer gereicht das dem Film zum Vorteil, die offen selbstreflexive Geste am Ende etwa, wenn Serras da desordem noch einmal ein Making-Of seiner großartigen Eingangssequenz anfügt, um dem eventuellen Eindruck falscher Authentizität entgegenzutreten (diese falsche Authentizität ist ja in Wahrheit schon lange nicht mehr die größte Gefahr für den Dokumentarfilm, der hat ganz andere, fast entgegengesetzte Probleme, man denke nur an Standart Operating Procedure), diese Geste ist schlichtweg überflüssig und auch die häufigen Wechsel zwischen Farb- und Schwarzweißmaterial rechtfertigen sich selbst nicht immer.)
Doch wie auch immer und wie gesagt ist und bleibt es eine Schande, dass Tonaccis Werk die Entdeckung durch die Cinephilie vobehalten blieb. Letzten Endes liegt es vielleicht daran, dass Serras da desordem ein Werk des Diskurses ist und keines der Transzendenz, die im world cinema in den letzten Jahren wieder ganz vehement auf den Plan getreten ist. So lieb mir beispielsweise Allonsos Los muertos als der vielleicht quintessentielle Dschungelfilm der transzendentalen Schule auch ist, gegen Tonaccis Meisterwerk, das noch in seinen Fehlern mehr wagt als meinetwegen auch Bruno Dumont es in seiner gesamten Karriere getan hat, verblasst er in meiner Erinnerung in Minutenschnelle, verwandelt sich in eine nette Wandtapete des Gedächtnisses, während er sich auf die Substanz des Denkens an sich ganz im Gegenteil zu Serras da desordem nicht ein bisschen einlässt.
Bevor das hier endgültig in Filmpolitik abgleitet (auf eine Instrumentalisierung für eine solche möchte ich Tonaccis Film nun wirklich nicht reduziert wissen) folgt hier nur noch der Hinweis, dass Serras da desordem am 13.9. im Kino Arsenal zu sehen ist.
Labels:
Brasilien,
Dokumentation,
Indianer,
Serras da desordem,
Tonacci
Subscribe to:
Posts (Atom)