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Thursday, November 28, 2019

Konfetti 44: Notation

Vom “ureigenen Wesen jeder Melodie, (...) der Einstimmigkeit näherzukommen” spricht der Pianist und Komponist Grigorij Michailow (Albrecht Schoenhals) in einem parodistisch überspitzten Dozententonfall. Er steht vor einer Kreidetafel, auf der Notenlinien aufgemalt sind. Nun beginnt er, auf diese hastig eine kurze, beispielhafte Partitur zu skizzieren. Lisa (Ingeborg Theek) wartet derweil schweigend und eingeschüchtert am Rand der Tafel. Sie ist, und das weiß sie auch, nicht als Grigorijs Schülerin, sondern als seine potentielle Geliebte zugegen in dieser Szene des Willi-Forst-Klassikers Mazurka (1935). Die Worte des Musikers zielen nicht auf ihre Belehrung, sondern auf ihre sexuelle Eroberung.

Dennoch ist die Tafel mitsamt der musikalischen Notation das bestimmende Element der Szene. Sie bildet nicht einfach einen neutralen Hintergrund, sondern definiert ein exakt begrenztes, regelmäßiges Feld, das im Folgenden auch die Bewegungen der beiden Figuren rahmt. Beziehungsweise: auf dem die Figuren verzeichnet werden. Die musikalische Notation verwandelt sich in eine filmische. Nicht mehr geht es darum, das auf und ab einer Melodie grafisch festzuhalten, sondern darum, die Annäherung zweier Figuren im Bild nachvollziehbar zu machen.

Wobei es sich um eine recht einseitige Angelegenheit handelt. Grigorij ist von Anfang an als das aktive Element gekennzeichnet. Schließlich ist er der Herr der Tafel, im Besitz der Kreide, allein zeichnungsberechtigt, außerdem steht er mitten im Bild, mitten in der Notation, während Lisa zunächst noch halb im Außen verbleibt. Zwar hatte sie sich kurz zuvor selbstbewusst einmal quer durch die Tafel bewegt, aber nun, da er die Definitionsmacht über die Szene an sich gerissen hat, traut sie sich nicht mehr, sich selbst in die Notenzeilen einzutragen. Stattdessen greift Grigorij nach ihrer Hand, zieht sie an sich und macht sie gleichzeitig zum Teil der filmischen Partitur.

Im Moment des Kusses nun erfolgt ein abermaliger Ebenenwechsel: Orgelmusik setzt ein, laut und bestimmt. Vorher war die Szene nur von diegetischen, direkt im Bild verankerten Klängen begleitet gewesen (da die beiden sich in einer Musikschule befinden, sind aus den Nebenzimmern gelegentlich Melodiefetzen zu vernehmen), nun tritt ein extradiegetischer Score hinzu, also Musik, die auf eine der profilmischen Welt äußerliche Komposition verweist. Wobei die Sache in diesem Fall komplizierter ist. Schliesslich hatte Grigorij tatsächlich ein paar Noten auf die Tafel gemalt, bevor er Lisa an sich zieht. Die Orgelmusik setzt erst ein, wenn beide küssend vereint vor der Tafel stehen - und dabei grafisch exakt mit den eingetragenen Noten zur Deckung kommen. (Im Folgenden, im Affekt der Umarmung, löst sich der Film von der Kreidetafelrahmung, rückt per Montage den beiden Figuren auf den Leib; nur die finale Engführung von Musik, Bild und Begehren ermöglicht den Sprung in die körperliche Intimität.)

Auch wenn die Orgelmusik klanglich nichts mit der dahingeschluderten Kreidenotation zu tun hat, so stellt sie doch eine Art verspätete Fortsetzung des musikwissenschaftlichen Diskurses fort, mit dem die Szene eingesetzt hatte. Genauer gesagt handelt es sich um ein dreistufiges Modell: die Notenschrift springt erst auf die Liebesdramaturgie über, und dann auf die Tonspur des Films. Verzeichnet wird in dieser rapiden Bewegung allerdings weniger eine wechselseitige Verführung denn, siehe oben, eine Eroberung. Die romantische “Einstimmigkeit” stellt sich durchaus her, aber nur, weil sie in einem Akt der auktorialen Gewalt verfügt wird. 




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Auf der einen Seite der Mann, der Bild, Musik und Begehren orchestriert, auf der anderen Seite die Frau, die sich dieser gesamtkunstwerklerischen Komposition als Material zur Verfügung zu stellen hat… Die Asymetrie dieser Anordnung wird besonders deutlich im Abgleich mit einem anderen Film, der denselben Dreischritt noch einmal aufgreift - Joe Mays Confession (1937) ist das Hollywoodremake von Mazurka, und zwar ein Remake, das auf weitgehenden filmischen Gleichklang mit dem Original setzt. May hat, so ist zu lesen, Cast und Crew von Confession fast zur Weißglut gebracht mit seiner Insistenz darauf, den älteren Film Einstellung für Einstellung noch einmal neu drehen zu wollen. Aber wie sklavisch man sich auch an eine gegebene Partitur hält - es kommt doch bei jeder einzelnen Interpretation etwas Neues heraus.

So auch im Fall der Szene vor der Kreidetafel. Grigorij heißt jetzt Michael und wird von Basil Rathbone gespielt, Lisa ist immer noch Lisa, aber jetzt im Körper von Jane Bryan. Die Szene entfaltet sich ansonsten bis hinein ins Framing identisch: Wieder doziert der Musiker, wieder trägt er, wie zum Beweis, ein paar Noten in das Tafelbild ein, wieder sind beide Figuren vor der Notation im Profil zu sehen, wieder erfolgt ein Kuss, mit anschließend einsetzender Orgelmusik. Aber die exakte Wiederholung der filmischen, raumzeitlichen “Rahmenbedingungen” lässt nur umso deutlicher die Unterschiede hervortreten, die es zwischen den beiden Szenen durchaus gibt. Sichtbar wird eine differentielle Musikologie des Filmischen, die vielleicht auch etwas mit dem Übergang von Nazideutschland zu Hollywood zu tun hat.

Anders ausgedrückt: Die Körper der Schauspieler_innen können verstanden werden als Instrumente, die eine Partitur bespielen. Jedes Instrument hat dabei eine eigene Klangfärbung. Das beginnt bei ihrer Positionierung: In Confession steht die Frau etwas näher bei dem Mann und vor allem hat sie sich bereits ins Notenbild vorgewagt. Aus freien Stücken hat sie sich auf die musikalisch-romantische Dramaturgie der Szene eingelassen. Die Kreidenotation selbst befindet sich im Bild exakt zwischen beiden - in Forsts Version war sie eindeutig dem Mann zugeordnet gewesen, bei May hingegen wird sie, auch wenn ursprünglich von Michael angefertigt, von beiden Seiten als Partitur eines geteilten Begehrens akzeptiert.

Besonders deutlich wird die Differenz beim Kuss selbst. Wenn Michael seine Hand ausstreckt, dann ist das kein Befehl, sondern ein Angebot, das von Lisa freudig angenommen wird. Sie strebt mit so viel Schwung auf den Musiker zu, dass sie sogar die Bildkomposition aus dem Gleichgewicht bringt. Anders als bei Forst finden das küssende Paar und die Kreidepartitur, die filmische und die musikalische Notation, erst nach einem Schnitt in die Nahaufnahme völlig zur Deckung. Vielleicht weil es in Confession um eine Form von Harmonie geht, die nicht auf Ein-, sondern auf Zweistimmigkeit beruht.



Konfetti 43: Seifenblasenelefanten

Die vielleicht schönste Szene im Disney-Zeichentrickklassiker Dumbo (1941) beginnt als Halluzination. Der junge Elefant des Titels und sein Begleiter, die Maus Timothy, trinken Wasser aus einem Eimer, in den kurz voher, von den beiden unbemerkt, eine noch halbvolle Flasche Champagner geworfen worden war. Der Schauwein macht nicht nur die beiden Freunde betrunken, sondern er bildet auch Blasen, die sich bald verselbständigen, Dumbo und Timothy als Sitzkissen oder Lehne dienen und schließlich ihre Form zu wandeln beginnen. Nicht mehr runde, wabernde Kugeln steigen in die Höhe, sondern Quader, Wolken, bald noch deutlich komplexere Gebilde: rosarote Elefanten aus Schaum.

Wenn die Champagnerblasen Elefantengestalt annehmen und sich dabei nicht nur bizarr verformen, sondern außerdem ein Eigenleben entwickeln, verändert sich auch der filmische Raum. Genauer gesagt: er teilt sich. Dumbo und Timothy befinden sich, so ist jedenfalls anzunehmen, weiterhin in einer einigermaßen plastischen, restrealistischen Cartoonwelt, das Elefantenballett hingegen entfaltet sich vor einer weitgehend abstrakten Kulisse. Beziehungsweise: es stellt einen eigenen Raum her, der sich beständig transformiert, in einem Moment komplett von amorphen Farbklecksen überschwemmt ist, im nächsten wieder von elefanten- oder auch schlangenförmigen Kreaturen bevölkert wird, die sich vervielfältigen, verformen, verfärben, Tänze aufführen auf einer zumeist komplett planen, schwarzen Fläche, die mal aus Wasser, mal aus Eis, mal aus Schnee zu bestehen scheint.

Kurzum: Einige Minuten lang löst sich der Film von allen (im Zeichentrickfilm ohnehin komplett selbstauferlegten) Realismusbeschränkungen, verliert sich im Spiel der Formen und Figurierungen. Erst wenn der Rausch ausklingt, stellt sich die einigermaßen stabile Ausgangssituation wieder her, die rosaroten Elefanten sinken aus der Sphäre der befreiten Fantasie herab, werden zu Wolken am Horizont eines idyllischen Landschaftspanoramas. So schreibt sich der individuelle Exzess des Rausches, das Prickeln des Champagners auf der Zunge, in die Welt ein, als eine kleine, aber - in einem Film wie Dumbo, in dem alles Innere, jeder Gedanke, jede Emotion sich als schöner Schein veräußert - entscheidende ästhetische Differenz. Natürlich heißt das andersherum: Im nüchternen Zustand haben wir keinen Zugriff auf diese andere, entgrenzte, verflüssigte oder gar gasförmige Weltwahrnehmung, wir müssen uns mit der Konstanz von Materie anfreunden.

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Die soeben im Kino angelaufene neue Version der Dumbo-Geschichte, von Tim Burton inszeniert, ist ein Realfilm. Zumindest nominell; der großohrige Elefant im Zentrum stand nie vor einer Kamera. Er ist, wie große Teile des Dekors, komplett am Computer entworfen worden. Die Menschen hingegen, die ihn bestaunen, bemitleiden, verfolgen, im Fall von Eva Green sogar auf ihm durch die Lüfte reiten, sind aus Fleisch und Blut. Insofern ist die Welt des neuen Dumbo von Anfang an hybrid, in sich gespalten; allerdings sind die Bruchstellen in der Postproduktion so gründlich vernäht, dass eindeutige Demarkierungen - wie im älteren Film der Übergang vom zentralperspektivisch organisierten Illusionsraum zur rauschmittelinduzierten Abstraktion - nicht ohne Weiteres auszumachen sind.

Das gilt auch für jene Szene in Burtons Dumbo, die die Nummer mit den rosaroten Elefanten wiederaufgreift - und die gleichwohl auch im Remake zu den schönsten Passagen gehört. Wieder schaut ein Elefant Elefanten an, allerdings diesmal nicht aufgrund von Alkoholgenuss. Diesmal sind die Seifenblasen Teil einer Zirkusvorstellung. Akrobatinnen lassen sie in der Zirkuskuppel aufsteigen, bestaunt wird das Spektakel vom Publikum auf den Zuschauerrängen - und auch von Dumbo, der, am Rand der Manege stehend, gebannt nach oben blickt und verfolgt, wie die Blasen sich teilen, wie sie sich, schimmernd und wabernd, zu Seifenelefanten zusammensetzen und schliesslich, wie 1941, zu tanzen beginnen.

Gleich mehrmals wird in dieser Szene Dumbos Auge in Großaufnahme gezeigt. In ihm spiegelt sich, perspektivisch verzerrt, die Seifenblasenchoreographie. Die rosaroten Elefanten in Dumbo 2019 sind nicht bloße Fantasie, sondern in der perzeptiven Wirklichkeit der Hauptfigur verankert. Anders oder zumindest prägnanter als im älteren Film stellt sich insofern die Frage nach dem Verhältnis der beiden Ebenen zueinander. Wir sehen, dass Dumbo die rosaroten Elefanten sieht, und fragen uns deshalb: Was sieht er in ihnen? Was sieht der digitale Elefant, wenn er auf seine ebenfalls digitalen Ebenbilder schaut? Sieht er in ihnen das, was sie ihm ähnlich macht (auch sie sind Elefanten, auch sie können fliegen), oder das, was sie von ihm trennt (sie sind fast schon mathematisch perfektionierte Modelle von Elefanten, die sich in einem abstrakten Raum frei entfalten können, im Vergleich zu ihnen ist der in unserer materiellen Welt gefangene Dumbo schrecklich plump und tollpatschig)?

Dumbo wird wenig später selbst Teil der Zirkusvorführung werden. Die rosaroten Elefanten nehmen seinen eigenen Auftritt vorweg. Vielleicht machen sie ihm außerdem Mut und helfen ihm, ebenfalls abzuheben; vielleicht machen sie ihm aber auch Angst in ihrer eleganten Souveränität. Wir wissen es nicht. Sicher ist hingegen: Im Kino der Gegenwart taugen selbst rosarote Seifenblasenelefanten nicht mehr als Markierungen einer reinen ästhetischen Differenz. Jedes Bild ist allseitig von Sinn umstellt.

Tuesday, October 22, 2019

Konfetti 37: Mehr Hochhäuser


Mit einer Szene auf einem Hochhausdach in Manhattan habe ich diese Serie begonnen: In Klaus Lemkes Sylvie stehen ein Mann und eine Frau auf einem der Türme des World Trade Center und werden dabei einige Minuten lang zum Mittelpunkt des Universums. Aus der Szene spricht ein unglaubliches, gewissermaßen dreifaches Selbstbewusststein. Zunächst ist das Hochhaus selbst eine weitere Evidenz des ohnehin legendären Selbsbewusstseins der amerikanischen Nation und ihrer zum Himmel strebenden Architektur, dann, innerfiktional, zeugt die Szene vom Selbstbewusststein von Sylvie und ihrem Begleiter Paul, die gerade erst in New York angekommen sind und sich die Stadt gleich mit der größten aller möglichen Gesten aneignen; und schliesslich bewundern wir das Selbstbewusstsein von Klaus Lemke, dem deutschen Regisseur, der zum ersten Mal in Amerika filmt, seinem Traumland, aber gleich als erstes eine Helikopterhochhausaufnahme ausprobieren muss.

All dieses Selbstbewusstsein (das freilich erst interessant wird, weil es sich an Unfertigem bricht, an der Unfertigkeit der Gesten der Darsteller, der Unfertigkeit der wenigstens teilweise improvisierten Mise-en-scene, der Unfertigkeit des eben erst fertiggebauten und noch nicht für den kommerziellen Gebrauch hergerichteten Hochhauses) hat natürlich damit zu tun, dass sowohl Sylvie und Paul als auch Lemke New York bereits aus dem Kino kennen. Nicht nur aber sicher in erster Linie das Kino hat New York und dessen Wolkenkratzer zu einem Ort gemacht, das zu center-of-the-world-Posen einlädt (oder zumindest eingeladen hat - in der instagramoptimierten Gegenwart taugt, die richtigen Bildbearbeitungsskillz vorausgesetzt, fast jeder, also letztlich kein, Ort zum Mittelpunkt der Welt). Einer der Filme, der dieses Potential entdeckt oder jedenfalls erstmals voll ausgeschöpft hat, dürfte Rouben Mamoulians Applause gewesen sein.

Der Film stammt aus dem Jahr 1929, aus der frühen Tonfilmzeit. Genauer gesagt ist das ein Film, der mit dem Ton auch gleich die moderne Großstadt noch einmal neu für sich zu entdecken scheint. Wenn die Hauptfigur April (Joan Peers), die ihre Kindheit und Jugend in einer Klosterschule verbracht hat, nach New York City zurückfährt, um wieder bei ihrer Mutter Kitty Darling (Helen Morgan), einer Burlesquetänzerin, einzuziehen, dann inszeniert Mamoulian das wie eine zweite Taufe. April taucht in den Lärm, den Rauch, den Bewegungswust der Großstadt ein, vermittels einer mehrminütigen Montagesequenz, die ohne Dialoge auskommt - ein dröhnendes Sozialmaschinenasphaltgedicht, gleichzeitig euphorisierend und einengend.

In der Welt, die April betritt, bleibt erst einmal nur Letzteres übrig: die Enge. Ihr New Yorker Leben besteht praktisch nur aus der Burlesquebühne und einem erweiterten Backstagebereich, Freiraum gibt es keinen. Auf der einen Seite lauern die begierigen Blicke der Burlesquekundschaft, auf der anderen ein trostloses, klaustrophobisches Familienmelodram: Aprils Mutter ist zwar stets guten Willens, kann sich aber nicht von ihrem narzisstischen, cholerischen Freund trennen, der sie schon lange betrügt und der nun auch noch ein Auge auf die Tochter wirft.

Eine Zufallsbekanntschaft bringt die Wende. In höchster Verzweiflung irrt April durch die Gassen, die Kamera fokussiert ihre Beine in Großaufnahme. Andere Beine, Männerbeine drängen an sie heran, ein Hund schwirrt auch noch herum, sie scheint schon fast ganz aufgelöst zu sein im Gewimmel der Großstadt, menschliches Treibgut… aber dann erweisen sich zwei der Männerbeine als Felsen in der Brandung, sie gehören einem redlichen Matrosen, die beiden verlieben sich ineinander - und irgendwann fahren sie dann gemeinsam hoch aufs Dach eines der Hochhäuser Manhattans.

Dort oben ist die Großstadt nicht mehr nur der Moloch, der die Individuen verschlingt. Aus der Vogelperspektive wird das Geplante, Funktionierende an ihr sichtbar und auch hörbar. Die dichte, dumpfe Lärmkulisse entwirrt sich zu diskreten, sortierbaren Klangereignissen. Hier zeigen April und ihr Matrose einander, wie die Straßenzüge kerzengerade in die Tiefe des Raums führen, wie die Autos die Spuren halten und wechseln, wie die vielen, kleinen Menschen da unten vor sich hin wuseln (manche mögen unter die Räder kommen, die allermeisten erreichen doch ihr Ziel). In Sylvie ist nur das eine Hochhaus, auf dem die deutschen Besucher landen, neu, in Applause ist die Idee “Hochhaus” überhaupt neu.

New York 1929 ist eine junge Großstadt und deshalb ist auch der Blick auf New York ein junger Blick auf die Großstadt. Die Kamera ist zumeist hinter April und dem Matrosen und außerdem relativ hoch positioniert, nur ihre Köpfe sind unten noch im Bild, manchmal schwenkt sie noch höher, sodass die beiden ganz aus dem Blick geraten. Auch das Geländer, an das sie sich lehnen, schaut nicht allzu stabil aus. Nie würden die beiden darauf kommen, auf dem Hochhaus lässigen Schabernack zu treiben, wie Jahrzehnte später Sylvie und Paul. Der Blick vom Hochhaus herunter ist noch kein souveräner Blick, weder ist von vorn herein klar, wie die Welt von da oben ausschaut, noch, was der Blick mit den Blickenden anstellt. Der Mittelpunkt des Universums zu sein: Das müssen April und ihr Matrose erst noch üben.

Konfetti 38: Bücher

Über "die verschmelzung von book mit looks, die verschiebung von book zu looks" schreibt die österreichische Schreiberin und Kinogängerin Sissi Tax in ihrer schönen, schmalen Schrift "the looks, not the books" (Leipzig: Institut für Buchkunst, 2016), die auch mich nachhaltig sensibilisiert hat für den semantischen Komplex Kino-Buch-Frau. Einer der Kronzeugenfilme in "the looks, not the books" ist John M. Stahls Leave Her to Heaven (1945), insbesondere die Anfangsszene, in der der männliche Protagonist sein eigenes Portrait auf der Rückseite eines Buches entdeckt, das eine ihm im Zugabteil gegenübersitzende unbekannte Schöne liest (siehe auch hier). 

In Mervyn LeRoys nur ein Jahr später entstandenem Without Reservations bin ich auf eine Zwillingsszene gestoßen. Tatsächlich sind in dieser reichlich absurden romantischen Komödie Kino und Buch, look and book, von Anfang an so eng ineinander verzahnt, dass keine Möglichkeit besteht, sie wieder auseinanderzudividieren. Der Film beginnt mit der Testvorführung eines Newsreelclips, der über den Siegeszug eines fiktonalen Bestsellers namens "Here´s Tomorrow" berichtet. Die Autorin des Buchs, Christopher Madden (Claudette Colbert), ist ebenfalls Teil der Newsreel. Ob sie einen Schlüsselroman zur Lage der Nation und der Welt verfasst habe, wird sie gefragt. Sie weist das lächelnd zurück, die Geschichte samt Hauptfigur gehöre ins Reich der reinen Fiktion: "Any resemblance between Mark Winston and any living person is purely coincidental."

Nur: Ist die Ähnlichkeit des gezeichneten Gesichts des Titelhelden, das auf dem Umschlag von "Here´s Tomorrow" zu sehen ist, mit dem Gesicht eines der größten Filmstars der Zeit ebenfalls "purely coincidental"? Freilich evoziert die Skizze gerade nicht das Gesicht von Cary Grant, der laut der fiktionalen Newsreel in der anstehenden Verfilmung des Buches die Hauptrolle übernehmen soll. Das gezeichnete Antlitz hat ein deutlich markanteres Kinn als Grant, dafür sind Nasen und Augen kleiner, die Stirn breiter…

Wenige Szenen später sitzt dieses Gesicht der Autorin leibhaftig gegenüber, in einem Zug, der sie nach Hollywood bringen soll, zur Vorbereitung der Dreharbeiten. Aber sie bemerkt zunächst nichts, beschäftigt sich mit ihren Notizen, während sich auf der Bank ihr gegenüber zwei uniformierte Männer niederlassen. Auch wir sehen zunächst deren Gesichter nicht, aber erkennen einen der beiden an seiner Stimme: Ohne jeden Zweifel handelt es sich um John Wayne, der ebenso offensichtlich die Vorlage der Zeichnung auf dem Buchcover ist. Die Verschmelzung von book und looks hat ihren Ort zunächst nicht im Bild, sondern auf der Tonspur.

Nur, dass innerhalb der Fiktion des Films zwar ein Filmstar namens Cary Grant, aber keiner namens John Wayne existiert. Aus Sicht von Christopher ist das Gesicht, das sie anblickt, als sie schließlich doch aufblickt, und das sie gleich verdutzt mit dem Titelbild ihres Buches abgleicht (praktischerweise liest eine andere Mitreisende "Here´s Tomorrow") ein zufälliges Allerweltsgesicht; und dessen Ähnlichkeit mit der Coverzeichnung kann ihr nur als eine pure und deshalb doch wieder sinntragende Koinzidenz erscheinen, als ein Wink des Schicksals. (Das Coverbild ist offensichtlich ein Schwellenphänomen - aber spiegelt es nun die Welt ins Buch hinein, oder, andersherum, das Buch in die Welt hinaus?) Tatsächlich wird Kit, ob der plötzlichen Materialisierung der von ihr ersonnenen literarischen Figur, erst aus der Bahn ihrer eigenen Gedanken, dann vom geradlinigen Weg in Richtung Hollywood abgelenkt.

Gemeinsam mit den beiden Soldaten begibt sie sich auf einen anderen, ungerichteten Trip, auf einen “ohne Reservierung”, der nicht in die Filmmetropole an der Westküste, sondern ins amerikanische Heartland führt und den die Schriftstellerin außerdem inkognito antritt. Um an die Realität des Mannes, in den sie sich natürlich bald verliebt, zu glauben, muss sie die Autorenschaft (an ihm) leugnen - und stattdessen selbst zu einer Fiktion werden. Passend zu Waynes Rollennamen Rusty wird sie zu Kitty. Anders ausgedrückt: Jetzt sehen wir plötzlich zwei Weltstars dabei zu, wie sie Allerweltsamerikaner spielen, die eine Allerweltsliebesgeschichte eher füreinander aufführen als dass sie sie wirklich erleben würden. Zu allem Überfluss erweist sich diese Liebesgeschichte dann auch noch als eine spiegel-, beziehungsweise geschlechterverkehrte Version der Liebesgeschichte, die das Buch "Here´s Tomorrow" erzählt. 

"Time Without End" heißt das fiktionale Buch in Leave Her to Heaven; in Without Reservations eben: "Here´s Tomorrow". Im Kern ist das zweimal derselbe Titel, einmal in der Noir-, einmal in der Comedyvariante. Es geht in beiden Fällen um eine Fiktion der ewigen Wiederkehr, in beiden Filmen sind es Bücher, die ein System von Spiegelungen und einander verfehlenden Blicken in Gang setzen. (Oder, genauer: Es sind Buchumschläge, die zu Umschlagplätzen von Identität werden.) Ihnen entspringt eine Mechanik der Projektion und der Selbstfiktionalisierung, die auf ein letztlich nicht zielführendes, produktives, sondern zirkuläres bis, Happy End hin oder her, offen destruktives Begehren hinausläuft.

Wednesday, September 11, 2019

Konfetti 35: Liebesbriefe

Es ist nicht unbedingt ein Akt der Notwehr, aber doch einer der bestimmten Ablehnung: Ich wünsche mich, während ich Peter Farrellys Green Book sehe, in einen anderen Film. In einen, der im realexistierenden Green Book als Ahnung enthalten ist, aber sich nicht entfalten kann. Und zwar wünsche ich mich in einen Film, der seinen Ausgangspunkt nicht bei der Konzertreise nimmt, die den schwarzen, distinguierten Pianisten Don Shirley (Mahershala Ali) und dessen weißen working-class-Chauffeur Tony Vallelonga (Viggo Mortensen) durch den amerikanischen Süden führt, oder jedenfalls nicht bei der Freundschaft, die sich zwischen den beiden ungleichen Reisenden nach initialen Spannungen erwartungsgemäß entwickelt; sondern bei einem Briefwechsel, der eine dritte Figur ins Spiel bringt: Tonys Frau Dolores (Linda Cardellini).

Die bittet ihren Mann vor dessen Reiseantritt: Bitte schreibe mir doch regelmäßig. An Tonys brummeliger Antwort ist abzulesen, dass das geschriebene Wort nicht gerade seine Stärke ist (während er in seinen wasserfallartigen Redefluss gelegentlich durchaus rhetorische Perlen einfließen lässt: “I'm not worried. In fact, when you see me worried, you'll know”). So kommt es, dass er sich die Briefe nach hause bald von Don diktieren lässt. Wodurch sich deren Inhalt und Form radikal verändern. Aus - so steht zu vermuten - grobschlächtigen, kurz angebundenen Wasserstandsberichten werden über Nacht glühende Liebesbriefe, geschliffen formulierte Sehnsuchtspoesie.

Im Film ist das, wie gesagt, nur eine Nebenhandlung. Die sich, das ist das zentrale Problem, das ich mit Green Book habe, rückstandslos einfügt in eine Ökonomie der soziokulturellen Aushandlung. Wie Tony dem Pianisten Street-Smartness beibringt, erweckt Don in seinem Chauffeur den Sinn für das Wahre, Gute und Schöne (und nebenbei werden, wieder und wieder, Alltagsrassismen symbolisch besiegt und Klassenschranken, genauso symbolisch, eingerissen). Dieses Gegeneinanderaufrechnen sorgt dafür, dass der Briefwechsel, wie alles andere, eine rein funktionale Drehbuchidee bleibt, ein Rädchen in einem Plotgetriebe, das letztlich keine Verwendung hat für die leise, ironische Perversion, die in diesem für sich selbst genommen schönen Einfall angelegt ist.

Denn schließlich kann man die Sache auch so sehen, dass Tonys Briefe, sobald er sie sich von Don diktieren lässt, gar nicht mehr Tonys Briefe sind; sondern eben Dons. Tony ist gar nicht Beteiligter, sondern lediglich ein Medium dieser Kommunikation. Tatsächlich macht eine Szene spät im Film deutlich, dass Dolores genau weiß, aus welchem Kopf die poetischen Ergüsse stammen, die sie über mehrere Wochen hinweg erhalten hat: Als Don nach dem Ende der Konzertreise Tonys Wohnung aufsucht, umarmt sie den Besucher und flüstert ihm ihren Dank ins Ohr. In dem auf Oscartauglichkeit optimierten Film, der Green Book leider ist, verweist diese Botschaft einzig auf Dolores’ Freude darüber, dass Don ihrem Mann “neue Horizonte eröffnet” hat, die möglicherweise auch auf das Eheleben ausstrahlen. In dem anderen, besseren Film, den ich mir ersehne, könnte diese Umarmung eine ganz neue, verborgene Welt evozieren.

Es ist das erste und einzige Treffen der beiden im Film. Vorher, wenn Don die Briefe diktiert, hat er nur eine vage Ahnung von der Empfängerin, und auch Dolores weiß kaum etwas über den eigentlichen Autor der Worte, die sie liest. Gerade in diesem doppelten Nichtwissen liegt das Potential dieser Briefe. Es ermöglicht beiden Seiten, die Kommunikation zu überformen mit eigenen Projektionen. Der allein in einem extravagant ausgestatteten New Yorker Appartment lebende Don ist, das macht eine weitere Szene des Films (auch die eingebaut in die aufdringliche Ökonomie soziokultureller Aushandlung) deutlich, schwul, die reale Dolores dürfte ihm kaum - aber natürlich kann man sich auch da nicht sicher sein - als ein Objekt erotisch-ästhetischer Anbetung taugen. Was ihn am Briefeschreiben fasziniert, ist vielleicht eher der Wunsch, mit seine Kunstfertigkeit für einmal einen Menschen ganz persönlich, intim zu berühren. Dolores wiederum sehnt sich weniger nach dem konkreten männlichen Körper Dons, als nach einem Ausbruch aus ihrer engen Lebenswelt. Die Briefe sind Elemente einer doppelt verfehlten Kommunikation - die aber trotzdem stattfindet und eine Funktion erfüllt, weil sie die Erfahrungswirklichkeit zweier Menschen verändert und die von identitären Zuschreibungen überformte Realität um einen Möglichkeitsraum erweitert. Oder hätte erweitern können, wenn der Film denn bereit gewesen wäre, es zuzulassen.

Wednesday, May 29, 2019

Konfetti 33: Bisamratte

Information ist laut Gregory Bateson “ein Unterschied, der einen Unterschied ausmacht”. Im Film ist zwar - das macht ihn zur Kunst - nicht von vorn herein geklärt, welcher Unterschied einen Unterschied ausmacht und welcher nicht; aber vielleicht könnte man dennoch sagen: der Film ist unter allen Künsten diejenige, in der die meisten Unterscheidungen getroffen werden können, und vielleicht ist sie deshalb tatsächlich die informationsreichste. Der Film, beziehungsweise jeder einzelne Film, ist ein hochkomplexer Bedeutungsgenerator. Jeder Aspekt, jede Figur, jede Szene, jedes Wort, jedes einzelne Bild, jede Differenz zwischen zwei Bildern ist mit Sinn regelrecht getränkt, kann als Keimzelle dienen für fast unendliche Sinnnuancen. Es braucht nur jemanden, der oder die den Sinn an den Film heranträgt.

In The Chewin’ Bruin’, einem kurzen Animationsfilm von Bob Clampett, ist die Information, an der ich hängenbleibe, zunächst nur eine nicht exakt bestimmbare Irritation. Irgendetwas stimmt nicht mit einer Bildkomposition, die zeigt, wie eine Gruppe Bisamratten sich auf einer schneebedeckten Wiese tummeln und dabei von einem Jäger beobachtet werden. Genauer gesagt scheint eines der sieben Tiere, während sich die imaginäre Kamera auf die Gruppe zubewegt, kurz zu blinken.

Da ich den Film zuhause auf DVD sehe, habe ich die Möglichkeit, mir die Szene noch einmal genauer anzuschauen, Bild für Bild. Und tatsächlich: Während alle anderen Bisamratten kontinuiertlich im Bild bleiben und auch nur minimale Bewegungen vollführen, verschwindet die siebte, kleinste, für zwei Einstellungen komplett aus dem Bild. Nur um anschließend ihre alte Position wiedereinzunehmen. Der Unterschied, der einen Unterschied macht, ist in diesem Fall eine überraschende Leerstelle. Die siebte Bisamratte wird markiert, eben weil sie kurzfristig gar nicht mehr da ist, weil sie weniger stabil zu sein scheint als ihre Mitgeschöpfe.

Genauer gesagt ist sie, wie in der Folgenden Bildstrecke nachvollzogen werden kann, zwar in zwei Einstellungen verschwunden, aber nur in einer Zeichnung, die, leicht variiert, zweimal hintereinanderkopiert, im Film auftaucht. Wie in den meisten klassischen Animationsfilmen sind die Figuren in The Chewin’ Bruin’ mit einer Frequenz von 12 Bildern pro Sekunde animiert. Das heißt, jedes Stadium einer Bewegung ist, um den Film an die normale Vorführfrequenz anzupassen, und also auch auf der DVD, doppelt präsent. Wenn sich allerdings, wie in der Bisamrattenkomposition, innerhalb einer Sequenz die optische Perspektive aufs Geschehen verändert, dann geschieht das doch wieder kontinuierlich über alle 24 Frames pro Sekunde hinweg. Soll heißen: Die “Bewegungen” der “Kamera” - in diesem Fall ein kurzes “Travelling” - sind flüssiger als das, was sie “einfängt”.

Was nun ist die Bedeutung der wahlweise blinkenden oder kurzfristig verschwindenden Bisamratte? Gut möglich, dass es sich lediglich um einen Flüchtigkeitsfehler handelt, wie er dem äußerst produktiven Animation Department von Warner Brothers schon einmal unterlaufen kann. Im Produktionsjahr 1940 war alleine Bob Clampett für elf zwar kurze, aber jeweils sehr unterschiedliche und durchaus kunstvoll gestaltete Filme verantwortlich. Da die klassischen Zeichentrickstudios allesamt mit limited-Animation-Techniken wie Bildfolien und Cels arbeiteten, ist etwa denkbar, dass im Verlauf der Fertigung bei einem Bild eine der Folien vergessen wurde; und dass die Produzenten später, als das Missgeschick bemerkt wurde, der Ansicht waren, dass es nicht sinnvoll sei, wegen einer dereratigen Kleinigkeit (es handelt sich schließlich um die kleinste der sieben Bisamratten) eine Deadline zu gefährden.

Who knows. Aber auch: who cares. Im Kino emanzipiert sich die Bedeutungsgenese von der Produktionsrealität genauso gründlich wie von auktorieller Intention. Auf der Leinwand führen die Lichter und Formen ein Eigenleben. Vielleicht gilt das für Animationsfilme noch einmal verschärft. Wo der Realfilm noch automatisch an gewissen Vorgaben der Naturgesetzlichkeiten und der Alltagswahrnehmung abgegleichen wird (werden die auf der Leinwand außer Kraft gesetzt, so stellt sich automatisch die Frage: Wie, zum Teufel, habe sie das nun schon wieder gemacht?), ist im Trickfilm grundsätzlich alles möglich. Die relative Kontinuität der Bilder ist, auch wenn sie in fast allen Filmen des Genres beobachtet werden kann, bloße Konvention. Kein Bildelement hat ein Recht auf oder die Pflicht zur fortgesetzten Existenz.

Genau das ist für mich auch die Bedeutung der Markierung, die Clampett, ob bewusst (was ich ihm durchaus zutraue) oder nicht, in seinen Film einträgt. Die instabile Bisamratte verweist auf die Instabilität des Sinnsystems Film an sich, auf das nichthintergehbar Diskontinuierliche an ihm. Interessant ist in diesem Zusammenhang auch die narrative Rahmung. Schließlich ist es, siehe oben, ein Jäger, der die Bisamratten aufstöbert und der außerdem, kurz nach dem Blinken, mit seinem Gewehr auf die Gruppe zielt. Aber in der Hoffnung, die Beute dingfest zu machen und damit einen stabilen Bedeutungszusammenhang von Ursache und Wirkung, Jäger und Gejagtem, Schuss und Treffer zu etablieren, zielt er, wie The Chewin’ Bruin’ zeigt, buchstäblich ins Leere. Selbst mit vorgehaltener Waffe lässt sich das Kino, und ganz besonders das animierte Kino, nicht auf fixierte Bedeutungsgehalte festlegen.















Wednesday, February 27, 2019

Konfetti 30: Schlossgespenst

Kein Filmgenre wird so oft unterschätzt wie die leichte Komödie. Und zwar nicht etwa, weil ihre Komplexitäten und Schönheiten im Verborgenen lägen, sondern, ganz im Gegenteil, weil die leichte Komödie mit ihren Reizen freimütig umgeht, sie direkt an der Oberfläche der Bilder platziert, für alle zugänglich und - als Unterhaltung - genießbar. Aus dieser unproblematischen Lesbarkeit folgt keineswegs, dass Lustspiele, Schlagerfilme und ähnliche Spielarten des Leichten nur eine einzige Lesart zuließen. Auch für sie gilt: Jede Zuschauerin sieht ihren eigenen Film. Wer aufmerksamer und offenherziger schaut, wird auch im Fall einer leichten Komödie mehr sehen. Aber dieses mehr wird sich nicht grundsätzlich, sondern nur in Details von dem unterscheiden, was alle anderen sehen.

Wie schwer das Leichte es hat in der cinephilen Kultur zeigt der Fall René Clair: Aufgrund seiner Verbindungen zu den Surrealisten und seiner filmsprachlich innovativen frühen Tonfilmen kann man ihm einen Platz im Kanon nicht ganz verwehren. Aber alles, was er nach À nous la liberté gedreht hat, ist der Filmgeschichtsschreibung höchstens noch eine Fußnote wert. Und zwar, weil er sich danach fast ausschließlich der leichten Komödie widmete; genauer gesagt, das kommt verschärfend hinzu, der übernatürlichen leichten Komödie. Auch das Fantastische hat einen schweren Stand im cinephilen Diskurs, vor allem, wenn es nicht als Konfrontation mit einem mysteriösen Anderen oder Ursprünglichen gedacht ist, sondern, wie bei Clair, lediglich eine Methode darstellt, die Welt etwas beweglicher zu machen.

The Ghost Goes West, Clairs erster außerhalb Frankreichs, nämlich in Großbritannien produzierter Film, ist so ein Fall. Da wird alles an der und als Oberfläche verhandelt, aber eben: als eine äußerst bewegliche Oberfläche. Zunächst befinden wir und in einer Kostümkomödie über einen leichtlebigen Adligen, der beim Versuch, das erste Mal in seinem Leben den heroischen Ansprüchen seiner Familie gerecht zu werden, gleich ins Gras beißt - und sich, weil durch sein jämmerliches Dahinscheiden die Familienehre beschmutzt ist, in ein Schlossgespenst verwandelt. Diese alteuropäische, historische Neurose, die in einer Jahrhunderte zurückreichenden Familienfehde wurzelt, wird anschließend mit ein paar eleganten erzählerischen Kunstgriffen erst in die Gegenwart verpflanzt; und dann nach Amerika - und zwar jeweils mitsamt Schloss und Schlossgespenst!

Da angekommen, verwandelt sich die Form der Neurose: Ab sofort werden die Figuren nicht mehr von der Tradition, sondern vom modernen Konsumkapitalismus um den Verstand gebracht. Dabei geht es freilich keineswegs um Nostagie, um die Sehnsucht nach einfacheren, schottischeren Zeiten; ganz im Gegenteil, nirgendwo fühlen sich Schloss, Schlossgespenst und Rene Clair so wohl wie in einem Amerika - das freilich seinerseits deutlich erkennbar nur Pappkulisse ist, aufgebaut in den Denham Studios, Buckinghamshire, England.

Besonders begeistert hat mich eine Szene kurz vor Schluss: Das Schloss wird, nach seinem Wiederaufbau durch einen leutseligen Lebensmittelproduzenten, der das Gemäuer vor allem für eine überdimensionierte Werbekampagne benutzen möchte, feierlich eingeweiht. Und zwar mithilfe einer Light-Show, die auch das Dach des Schlosses illuminiert, auf dem sich beiden Hauptfiguren des Films - der Nachfahre des Schlossgespensts und die Tochter des neuen Besitzers - begegnen. Tatsächlich glaubt sie, dass ihr das leibhaftige Gespenst gegenübersteht und nur deshalb gesteht sie ihrem Verehrer unfreiwillig ihre Liebe… aber die romantischen Verwicklungen, die sich an der Gespenstergeshichte anlagern, würden an dieser Stelle zu weit führen.

Mich interessiert stattdessen die erwähnte Light-Show, die dafür sorgt, dass im Verlauf der Szene beide Gesprächspartner von künstlichem Licht umflort werden. Die Scheinwerfer schreiben in rhythmischen Abständen klar abgezirkelte Lichtkegel in das Schwarz der Nacht ein, der Bildeffekt ähnelt eher einer animierten Tapete als einem irgendwie realistischen Beleuchtungsschema. Die Verwandlung ist vollkommen: Das Schloss hat sich von einem historisch verorteten und mit dem Blut von Generationen behafteten Gebäude in ein synthetisches, ornamentales Lichtspektakel verwandelt. In einen reinen Kino-Ort.
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Monday, February 25, 2019

Konfetti 28: Am Pool

Laura (Joanna Canton) und Raoul (Sean Costello) sitzen nebeneinander auf Plastikstühlen neben dem Pool des Motels, in dem beide wohnen. Vor ihnen ein Plastktisch. In vorherigen Szenen hatten sie nur Blicke gewechselt, jetzt wechseln sie zum ersten Mal Worte. Eben hatte sich das zögerliche Gespräch noch um Coppolas The Godfather gedreht, den Laura nicht gesehen hat, aber zu einem, wenigstens irgendwie, italienischen Film erklärte. Noch während sie die Worte ausspricht, fängt sie an zu lachen, und Raoul fährt sich mit der Hand übers Gesicht. Vielleicht, um sein eigenes Gelächter zu unterdrücken, beziehungsweise um seine Mimik wieder glattzustreichen. Im Anschluss entsteht eine kurze Gesprächspause, während der Laura ihre Hände gegeneinander reibt und ein weiteres Mal zu kichern beginnt. “You seem nervous”, meint Raoul zu ihr. “I’m very nervous, I don’t know why”, antwortet Laura.

Die Szene stammt aus Eckhart Schmidts Sunset Motel, einem Low-Budget-Film, der auf der Erzählung “Selbstmörder” von Cesare Pavese basiert. Eine Literaturverfilmung also, außerdem ein Film über die Verschränkung von Begehren und Tod. Diese Verschränkung prägt fast das gesamten Werk des Regisseurs (zumindest seine Spielfilme), aber kaum einmal ist sie ähnlich rein und ablenkungsfrei ins Bild gesetzt wie hier. Das heißt nicht, dass die Ablenkungen der anderen, oft deutlich barockeren Filme nicht auch ihren Reiz hätten… aber Sunset Motel destilliert gewissermaßen die Essenz des Schmidtschen Liebestodmotivs, legt den dunkelromantischen Kern seines stets von erotischen Obsessionen sprechenden Kinos frei, in wunderschönen, malerischen, geduldigen Low-Fi-Digitalbildern, die den kommenden Tod vorwegnehmen in Form einer langsam um sich greifenden Entlebendigung.

Aber, und erst das macht Sunset Motel zu dem Wunder, das der Film ist: Es gibt eben auch Szenen wie die auf den Plastikstühlen am Pool. Die überlebensgroße, alles verschlingende Liebe realisiert sich, wenn die beiden Liebenden erstmals direkten Kontakt miteinander aufnehmen, als kommunikative Überforderung, in stockenden Nonsensgesprächen über The Godfather und Ravioli. Als eine Form von Nervosität, die sich dem Verstehen entzieht. Ein anrührend ungeschicktes erstes-Date-Gespräch, das noch nicht einmal als ein misslungener Flirt durchgeht, weil keine Taktik, kein einander-Austesten im Spiel ist. Dass beide willig sind, daran besteht von Anfang an kein Zweifel, zumindest für die beiden Beteiligten und auch für uns, die wir Schmidts Kino kennen; Aussenstehende freilich würden nichts anderes sehen als Awkwardness. Die Liebe ist schon da, nur wie geben wir ihm eine Form? Zunächst ist da eine totale Blockade: Hier sitzen wir und müssen ein Gespräch führen. Worüber nur?

Das erste Gespräch des Paars, das nach dem “I’m very nervous, I don’t know why” noch ein wenig weiterläuft, ist in einer einzigen Einstellung gedreht, die Dialoge sind zumindest teilweise improvisiert. Das schafft einerseits einen Freiraum, andererseits setzt es die Situation unter Druck. Canton und Costello sind professionelle (und ausgezeichnete) Schauspieler, die in keinem Moment aus ihren Rollen fallen; und dennoch passt Lauras Eingeständnis ihrer eigenen Nervosität auch zur Drehsituation: Hier sitzen wir, die Kamera läuft, geduldig und unnachgiebig, und wir müssen uns zueinander verhalten, gewissermaßen hängt alles, der ganze Film, davon ab, dass diese erste längere Dialogszene funktioniert.

Die ganze Zeit im Hintergrund: Los Angeles. Gedreht wurde im Sahara Motor Hotel auf dem Sunset Boulevard (der Ort ist ein Fixpunkt in Schmidts Schaffen, hier entstand 2008 auch Hollywood Fling, eine Art düsterer Zwilling von Sunset Motel). Ein äußerst fotogener Schauplatz, der die beiden Hauptfiguren paradoxerweise gleichzeitig isoliert und direkt in die Großstadtwelt einschreibt. Die Intimität ist nicht ohne ihr Anderes, ohne die technisierte Anonymität der Metropole, zu haben. Die Liebesgeschichte wird geradezu mariniert in den Texturen LAs: Während der späteren Sex- und Streitszenen dringt durch die dünnen Wände der Motelzimmer Straßenlärm, selbst wenn Laura unter der Dusche steht, kann man durchs mitgeframte Badezimmerfenster auf die offene Straße hinausblicken. Insbesondere in solchen Innenszenen artikuliert sich eine urbane Form der Klaustrophobie. Zwei Körper, in eine beständig sich verändernde Welt geworden, und doch isoliert, stillgestellt, das kann auf die Dauer nicht gutgehen.

Das weniger beengend sich anfühlende Gespräch am Pool ist ebenfalls so fotografiert, dass man im Hintergrund, an der Motelrezeption vorbei, direkt auf den belebten Sunset Boulevard blickt. Und eben, wenn Laura den Satz über ihre Nervosität ausspricht, biegt von dort ein Fahrradfahrer in die Moteleinfahrt ein, dreht, direkt hinter den Sprechenden, einen Kreis und scheint neugierig in Richtung Kamera zu blicken. Genau im richtigen Moment, ein bloßer Zufall vermutlich, aber so etwas klappt eben nur in einem Film, dem auch sonst alles gelingt.

Monday, December 31, 2018

Konfetti 27: Der Dick-Che(y)ney-Moment

Richard Bruce Cheney, genannt Dick Cheney, war amerikanischer Vizepräsident während der George-W.-Bush-Ära. Richard Cheyney war im 16. Jahrhundert Bischof von Gloucester und als solcher in die oft blutig ausgefochtenen Glaubensdifferenzen der Reformationszeit verwickelt. Möglich, dass sein Vorname gelegentlich ebenfalls als Dick abgekürzt wurde. Falls das so ist, trennt den alten und den neuen Dick Che(y)ney nur ein Buchstabe. Diese zufällige Namensähnlichkeit ist Anlass für einen Witz in Classical Period, dem neuen Film des amerikanischen Regisseurs Ted Fendt. Oder vielleicht eher: für einen verhinderten Witz. Wobei die Verhinderung des Witzes seine eigentliche Pointe ist.

Der Film besteht fast ausschließlich aus Monologen und Gesprächen, die fast durchweg von Persönlichem absehen. Diskutiert werden intellektuelle Themen, mit Vorliebe solche, die mit der Lebenswirklichkeit junger Amerikaner (alle Mitglieder des Lesekreises sind jung) im Philadelphia der Gegenwart (das ist der Schauplatz des Films) so wenig wie irgend möglich zu tun haben. Für die Monologe ist vor allem Cal (Calvin Engime) zuständig, die Hauptfigur des Films. Er redet ohne Pause, über Literatur, Architektur und Geistesgeschichte, besonders gern über Dante. Cal ist Mitglied eines Lesekreises, der sich mit der “Göttlichen Komödie” beschäftigt. Nicht nur mit dem Text selbst, sondern auch mit Sekundärliteratur und Fußnoten. Cal ist ein Spezialist für Fußnoten.

Mehr noch als die anderen Figuren ist Cal ein Meister darin, von allem zu reden, nur nicht von sich selbst. Zumindest vorderhand. Tatsächlich zimmert er sich aus den Dante-Fußnoten eine Lebensphilosophie zusammen, die auf einen eher faden, weil kategorisch weltabgewandten Konservativismus hinausläuft. Aus der Tatsache, dass einige Häuser des Architekten Frank Lloyd Wright sich als undicht erwiesen haben, leitet er die These ab, dass die Menschheit niemals damit anfangen hätte sollen, Flachdächer zu konstruieren.

Kurz vor Ende gibt es eine Szene (für mich die schwächste des Films), in der Evelyn (Evelyn Emile), ein anderes Mitglied des Dante-Lesekreises, Cal durch einen persönlichen Angriff aus der Reserve zu locken versucht. Er blockt das sofort ab und leitet das Gespräch, wenig elegant, auf eine Lyrikerin um, für die Evelyn sich interessiert. Evelyn kann Cals Schale nicht durchbrechen - aber früher im Film bekommt sie für einen Moment einen Sprung. Eben in dem Moment, in dem der doppelte Dick Che(y)ney seinen Auftritt hat.

Ausgangspunkt ist in diesem Fall nicht Dante, sondern Edmund Campion, ein jesuitischer Priester und Märtyrer, der sich, ebenfalls im England des 16. Jahrhunderts, gegen die anglikanische Staatskirche auflehnte. Und der dabei zeitweise in Dick Cheyney einen Unterstützer fand. Als Cals Erzählung bei diesem Namen angekommen ist, zögert er kurz, ein kleines, kaum merkliches Grinsen zieht über sein Gesicht, und er blickt kurz seinen Gesprächspartner, einen anderen Danteexperten, direkt an.

Das ist auch schon alles. Cal fährt ohne weitere Verzögerung mit seiner Erzählung fort (an deren Ende ist Edmund Campion tot, hat jedoch im theologischen Disput mit den Anglikanern Recht behalten; das ist die Sorte sinnloser Selbstaufopferung, die Cal zusagt). Die Dick-Che(y)ney-Szene hat keine narrativen Folgen für den weiteren Film, und trotzdem lässt sie etwas sichtbar werden. Denn in gewisser Weise wird Cal in diesem Moment von sich selbst ertappt. 

Genauer gesagt geschehen in dieser Szene zwei Dinge und beides sagen etwas über Cal aus: Dass er sich beim Aussprechen des Namens ein kleines Feixen nicht verkneifen kann, verrät ihn als jemanden, der intellektuellen Genuss nicht aus der Substanz von Literatur, Architektur, Geschichte und so weiter zieht, sondern aus der ornamentalen Oberflächenstruktur von Wissen (kurzum: es verrät ihn als Nerd); und wenn er dennoch gleich darauf seinen Monolog fortsetzt, als sei nichts gewesen, dann deshalb, weil er sich eben das nicht eingestehen kann.

Fendts faszinierender Film wiederum, der sich alle Mühe zu geben scheint, die Figuren aus sozialen und psychologischen Kontexten zu lösen, wird im Dick-Che(y)ney-Moment urplötzlich zum Charakterdrama.

Tuesday, October 30, 2018

Konfetti 21: Pferd und Beethoven

Claudia Weills Debüt Girlfriends, ein Klassiker des amerikanischen Independentkinos der 1970er, ist einer der ultimativen New-York-Filme. Genauer gesagt: einer der ultimativen New-York-indoor-Filme. Ein paar Szenen spielen auf der Straße, aber die meisten in Innenräumen, zumeist in Appartments, die deutlich zu eng geschnitten und eher behelfsmäßig eingerichtet sind. In Susan Weinblatts (Melanie Mayron) Wohnung liegen den gesamten Film über Umzugskisten herum. Es geht um eine Form von Wohnen, die noch nicht zur Häuslichkeit sich verfestigt hat. Und es geht um die Freiheiten einerseits, die Härten andererseits, die diese Form der urbanen Existenz mit sich bringt.

Susan hat zunächst eine Mitbewohnerin, Anne Munroe (Anita Skinner), die allerdings früh im Film heiratet und auszieht. Bald darauf besucht Susan die Frischverheirateten, die sich etwas außerhalb der Stadt aufhalten, in einem Sommerhaus. Es ist allerdings Winter, was sich spätestens in einer Einstellung zeigt, die aus dem Wohnzimmer des Hauses hinaus gefilmt ist und die für mich zu den schönsten dieses schönen Films gehört. Im Vordergrund ist der Fensterrahmen zu sehen sowie ein Gatter und die dürren Äste eines Baumes, dahinter steht ein Pferd auf einer verschneiten Wiese.

Die Einstellung folgt auf eine Szene, die mit einem entspannt-spielerischen Gespräch während des Mittagessens beginnt und damit endet, dass Susan halb frustriert, halb verirrt alleine am Tisch zurückbleibt, während ihre Gastgeber in einem anderen Zimmer einen Streit ausfechten. Man kann gar nicht so ganz genau sagen, wie es zu diesem Umschwung kommt. Eine Grundgereiztheit ist vermutlich von Anfang an vorhanden, Susan kommt nicht damit klar, dass sie im Leben ihrer Freundin nur noch als ein Besuch vorkommt, Anne weiß nicht, wie sie sich mit ihrer neuen Rolle arrangieren soll und ihr Mann hat das Gefühl, im Weg zu sein, ein überflüssiges Hindernis in der Auseinandersetzung zweier Frauen. In so einer Situation genügt eine ungeschickte Bewegung, ein allzu insistierender Blick, um die Geselligkeitsperformance zusammenbrechen zu lassen.

Es folgt, wie gesagt, die Pferdeeinstellung, zehn Sekunden lang, eine Naturminiatur eingelassen in ein Mosaik zivilisatorischer Neurosen. Auf der Tonspur ist, und erst das macht die Einstellung zu etwas Besonderem, Beethovens “Für Elise” zu hören. Allerdings nicht professionell vorgetragen, flüssig perlend, die einzelnen Anschläge wie an einer Schnur aufgezogen, sondern tastend, holprig, gelegentlich neu ansetzend oder Töne verfehlend.

Die volle Komplexität der Pferdeminiatur offenbart sich erst in der Einstellung, die auf sie folgt. Der anschließende Umschnitt zeigt zweierlei: Zum einen ist die Klaviermusik, wie man sich angesichts der Vortragsweise bereits denken konnte, in der Szene verankert; tatsächlich ist es Susan selbst, die am Klavier sitzt. Zum anderen befindet Susan sich zunächst alleine im Zimmer. Woraus folgt, dass der Blick auf das Pferd in der Einstellung vorher nicht nur nicht ihr eigener gewesen sein kann, sondern überhaupt nicht an die visuelle Perspektive einer Figur gebunden war.

Ein eigenartiger Blick ist das: Er ist markiert als ein Blick durch ein Fenster, von innen nach außen, aber gleichzeitig ist er autonom, entkörperlicht. Und er amalgamiert mit der zögerlichen Beethovenmelodie auf der Tonspur. Musik und Blick entspringen nicht ein und demselben Bewusststein, aber sie entsprechen einander. So ähnliche Bilder kennt man zur Genüge aus dem internationalen Autorenkino: Landschaftsaufnahmen und Klaviermusik, klassischer geht es kaum. Aber in Girlfriends schwingt noch etwas Anderes mit. Was hier isoliert wird, ist ein Stück ästhetische Erfahrung im Modus der Kontemplation, ein Naturschönes, das allerdings nicht zu einer stabilen, warenförmigen Postkartenansicht gerinnt, sondern brüchig bleibt, sich nur durch einen glücklichen Zufall ergibt, nicht ohne weiteres wiederholbar (oder mobilisierbar) ist. Entscheidend ist dabei gerade die Imperfektion, das Zögerliche des Klavierspiels: Weil dadurch ein subjektives Element in die Anordnung eingeführt wird. Das Resultat ist ein zerbrechlicher Moment des Glücks, der Übereinstimmung von Innen und Außen, Psyche und Welt, Kunst und Leben.

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Für mich ist die Pferdeeinstellung Teil einer kleinen Serie von Filmszenen, beziehungsweise -motiven, auf die ich zufällig gestoßen bin, durch die Arbeit an diesem Blog. Es geht in ihnen, auf jeweils unterschiedliche Weise, darum, wie eine weibliche Subjektivität zum Ausdruck kommt - oder eben nicht. Und gleichzeitig geht es um das Verhältnis von Bild und Ton. Gene Tierneys stumme Anrufung des Geliebten, die von der Tonspur gleichzeitig aufgegriffen und überschrieben wird; das Tschaikowski-Klavierkonzert, das in Vittorio Vottavafis Una donna libera den Gefühlen einer Frau zunächst Substanz verleiht, nur um sich, wenige Einstellungen später, in eine Autorität zu verwandeln, die über die Frau und das Bild gebietet; die Pfeife, die in The Man With the Golden Arm um Eleanor Parkers Hals hängt, die sie vor Vergewaltigern beschützen soll, aber nutzlos ist, wenn sie den Versuch unternimmt, aus einem allzu engen Drehbuchkorsett auszubrechen. (Auch Mae Wests Gesang in Belle of the Nineties passt in diese Reihe - allerdings als Gegenbeispiel eines offenherzigen, zumindest an der textuellen Oberfläche ungebrochenen, fast schon aggressiven Selbstausdrucks. Ton und Bild gehen eine unproblematische, gar utopische Verbindung miteinander ein.)

Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Thursday, October 25, 2018

Konfetti 20: Pfeife

Otto Premingers The Man With the Golden Arm gilt als einer der ersten Filme, die Drogenmissbrauch offen thematisieren. Zumindest im Hollywoodstudiokino war das vorher nicht in dieser Form möglich und der Film selbst sorgte dafür, dass die Zensurregeln anschließend gelockert wurden. Die Hauptfigur Frankie Machine, ein heroinsüchtiger Kartenspieler, der von einer Karriere als Jazzmusiker träumt, wird von Frank Sinatra verkörpert, dessen gleichzeitig energetisches und fragiles Spiel im Zentrum des Films steht.

Durchaus zurecht. Und doch hat mich beim Wiedersehen eine andere Figur mehr interessiert: Frankies Frau Sophia, genannt Zosh, gespielt von Eleanor Parker. Die Figur ist dasjenige Element, das an dem in vieler Hinsicht erstaunlich realistisch anmutenden Film aus heutiger Sicht am Falschesten oder jedenfalls Fragwürdigsten wirkt, zumindest auf den ersten Blick. Sie verkörpert einen melodramatischen Exzess, der dem psychosozialmedizinischen Drama, das der Film in erster Linie ist, fremd bleibt: eine offensichtlich psychisch labile junge Frau, die vorgibt, nach einem Unfall ihre Beine nicht bewegen zu können, um Frankie, der sie nicht liebt, an sich zu binden.

Es liegt nahe, Parkers Figur zumindest teilweise metaphorisch zu lesen, als eine Verkörperung der Zwänge und Ängste (vor Veränderung, vor allem), die Frankie an die Droge binden. Auch, weil es eine andere, “gute” Frau gibt, die für die Hoffnung auf Gesundung steht: Eine von Kim Novak gespielte Nachbarin, bei der Frankie Unterschlupf findet, erst fürs Musizieren, später für den kalten Entzug. Parker hat beim impliziten Vergleich der beiden Frauen von Anfang an einen schlechten Stand. Bereits ihr Rollenname - Zosh Mashine - ist unvorteilhaft bis fast schon bizarr (Novaks Figur heißt dagegen wie ein harmloses, gutmütiges Buddy-Girlfriend: Molly Novotny).

Aber die beiden Frauen sind eben nicht, wie das in einem aktuellen, filmschulsmarten Film vielleicht der Fall wäre, tatsächlich psychische Projektionen. Sie bleiben gleichzeitig autonom gedachte Figuren einer fiktionalen Welt. Erst diese Dopplung verleiht ihnen Komplexität und, im Fall von Parker, Tragik. Letzteres, die Tragik, findet im Film eine sonderbare Verkörperung: in einer Pfeife, die Zosh um ihren Hals hängen hat. In erster Linie ist die Pfeife, auch das thematisiert Preminger offen, eine Rape-Whistle, ein letztes Hilfsmittel für eine im Rollstuhl sitzende und deshalb Vergewaltigern hilflos ausgelieferte Frau.

Als solche wird die Pfeife in The Man With the Golden Arm allerdings nicht eingesetzt, überhaupt hat sie im engeren Sinne keine narrative Funktion. Zosh sitzt fast den gesamten Film über hinter verschlossener Tür in ihrer Wohnung, manchmal gemeinsam mit Frankie, manchmal alleine. Sie sperrt die Welt aus, auf eine Pfeife ist sie dabei nicht angewiesen (erst recht nicht, weil sie ja eigentlich durchaus ihren Rollstuhl verlassen könnte). Dennoch bleibt die Kamera erstaunlich oft auf der Pfeife hängen und Zosh selbst greift immer wieder, wie unwillkürlich, zu dem Objekt, das sie um den Hals trägt. Aber nicht aus Angst; jedenfalls nicht aus Angst vor einer Vergewaltigung. Einmal bläst sie, im Verlauf einer Auseinandersetzung mit Frankie, in die Pfeife, aber halbherzig, es ertönt lediglich ein schwacher, jämmerlicher Ton. In diesem Moment ist für mich klar: Die Pfeife ist auch beides, materielles Objekt und Metapher. Sie ist nicht nur ein materielles Holfsmittel, sondern sie steht außerdem ein für Zoshs Wunsch, aus dem Korsett, das sie umgibt, auszubrechen; und zwar ist das ein Ausbruchswunsch auf zwei Ebenen, er richtet sich gleichzeitig gegen das Gefängnis, das sie sich selbst erbaut hat und gegen ein Drehbuch, das sie als Metapher missbraucht (und deshalb als Figur opfert).

Anders formuliert: Zosh sehnt sich nach einer Möglichkeit, sich Auszudrücken. Die Pfeife ist ein potentielles Medium dieses Ausdrucks, aber gleichzeitig unbrauchbar, weil sie keine Nuancen und Innerlichkeit darstellen kann, sondern lediglich einen einzigen, grellen Ton hervorbringt. Insofern ist sie letztlich doch nur ein weiteres Zeichen für die absolute Hilflosigkeit einer Frau, die nur funktional denken kann, weil sie, vom Drehbuch, nur funktional gedacht wird. Einmal bläst Zosh dann doch richtig, lauthals, in die Pfeife: Unmittelbar bevor sie sich vom Balkon stürzt und Selbstmord begeht.

Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Thursday, August 30, 2018

Support the Girls, Andrew Bujalski, 2018

Almost everything I read about this is more about the author's views on capitalism than about Bujalski's competent, but bland film.

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As an aside: Support the Girls is no more anti-capitalism than Computer Chess is anti-nerd or Results is anti-fitness. There's nothing in here to challenge even a hardcore laissez-faire, leave everything to the marketplace view. Not that I would want Bujalski to make an anti-capitalism film. Almost on the contrary: By using the obvious shittiness of Double Whammies as a dramaturgical shorthand, he takes the easy way out in almost every single scene. That being said, Haley Lu Richardson is very funny in this.

Thursday, August 23, 2018

Konfetti 13: Kung-Fu

Running on Empty ist der mir liebste Sidney-Lumet-Film, der mir liebste River-Phoenix-Film, einer der mit liebsten Filme aus den 1980ern und, vielleicht vor allem anderen, einer der mir liebsten Familienfilme. Weil es ihm gelingt, den familiären Zusammenhalt gleichzeitig als ein Zwangssystem und als eine auf gegenseitiger Liebe und Achtung beruhende Gemeinschaft zu beschreiben. Genauer gesagt: Weil es dem Film gelingt, zu zeigen, dass beides zusammen gehört. Die Familie nimmt, zumindest in modernen Gesellschaften, dem Einzelnen gerade deshalb so effektiv die Freiheit, weil sie ihre Druckmittel auf die emotionale Ebene verschoben hat. Der Weg aus der Familie heraus ist bei Lumet kein Gefängnisausbruchsfilm mehr, sondern ein Melodrama.

Der Film enthält eine ganze Reihe von potentiellen Lieblingsszenen. Gleich zu Beginn, Danny Pope (River Phoenix) beim Baseballspielen, er trifft den Ball, verliert aber gleichzeitig die Brille, Ermächtigung und Entmächtigung in einem, danach der Weg nach hause, erst entspannt vor sich hin radelnd (genauer gesagt: in Schlangenlinien die Landstrasse entlang trudelnd), dann der Blick auf die mysteriösen Männern in den schwarzen Autos, die vermutlich hinter seinen Eltern - Terroristen, seit Jahrzehnten auf der Flucht - her sind. Plötzlich zieht sich alles zusammen, der gerade noch relaxte Körper wird zu einer Maschine, die eine Aufgabe zu erfüllen hat. Oder alle Szenen, in denen Phoenix Klavier spielt. Oder, erst recht, alle Szenen mit Phoenix und Martha Plimpton, die Lorna spielt, das blonde, sich abgeklärt gebende aber tatsächlich hochgradig emotionale Mädchen, in das er sich schon aufgrund der ironisch-neugierigen Art, mit der sie ihn beim Klavierspielen beobachtet, verlieben muss.

Aber meine allerliebste Szene ist eine ganz andere. Sie spielt im Wohnzimmer der Popes. Die Kamera ist in der Küche platziert, im Hintergrund ist Dannys Mutter Annie (Christine Lahti) zu sehen, im Vordergrund sein zehnjähriger Bruder Harry (Jonas Abry). Der steht vor einem Schneidebrett, auf dem ein Salatkopf platziert ist, gibt komische Geräusche von sich und macht komische Handbewegungen. Da Lumet direkt in seine Bewegung schneidet, dauert es einen Moment, bis man zuordnen kann, was vor sich geht: Harry simuliert eine Kung-Fu-Attacke. Er hat sich das vermutlich im Fernsehen abgeschaut, bei Martial-Arts-Filmen. Wie Bruce Lee geht er leicht in die Knie, hält seine Hände, angewinkelt, nach vorn gestreckt und bewegt sie langsam auf und ab, wie als würde er die Aktion eines Gegners antizipieren. Auch die Geräusche, die er von sich gibt, sind offensichtlich dem Prügelfilm entlehnt: ein dahergebrabbeltes Fantasiekantonesisch, bestehend aus “wadda-hadda”-Variationen, die sich allerdings zu einem gellenden Aufschrei zuspitzen, wenn er das Küchenmesser, das er in der Hand hält, in die Höhe hebt und zum finalen Schlag ansetzt. Ziel seiner Attacke ist, wie erwähnt, ein Salatkopf, dessen Form allerdings an ein menschliches Gehirn erinnert und der von Harry mit einem einzigen Schlag komplett zerteilt wird.

Harrys Aktion hat keinerlei erzählerische Funktion, sie wird von den anderen Familienmitgliedern, die an dergleichen vermutlich gewöhnt sind, nicht einmal kommentiert. Die Einstellung bleibt einfach weiter stehen, die Mutter läuft in die Küche, auch Danny und Vater Arthur (Judd Hirsch) treten ins Bild, die Essensvorbereitungen gehen weiter, bis tatsächlich alle vier am Tisch sitzen, vor gefüllten Tellern, eine flüssige Familienszene, die auf eine routinierte und doch aufmerksame Art Alltag herstellt. Auch die Salatattacke ist lediglich ein Stück familiäre Realität, und möglicherweise einfach nur ein Glückstreffer. Ich kann mir das letztlich nur so erklären, dass Lumet oder ein anderes Teammitglied irgendwann während des Drehs Abry bei einer ähnlichen Geste beobachtet hatte und dass die Kung-Fu-Miniatur auf diesem Weg in den Film gelangt ist. Abry hatte vor Running on Empty keine Schauspielerfahrung und auch hinterher trat er nur in einem weiteren Film auf (in James Ivorys Slaves of New York, 1989). In Running on Empty ist seine Figur in gewisser Weise komplett überflüssig. Für das zentrale Drama des Films, das sich um Dannys langsame Emanzipation von der Familie dreht, hat er kaum eine Funktion. Er ist lediglich der, der auch noch da ist und der durch seine bloße Anwesenheit die Familie stabilisiert: Bis er, Harry, ebenfalls in der Lage ist, ein eigenständiges Leben zu führen, müssen die Popes, heißt es einmal, ihr unstetes Leben auf der Flucht vor dem Zugriff der staatlichen Apparate, fortsetzen.

Aber obwohl Harry mehr als alle anderen auf den Schutz der Familie angewiesen ist, ist er gleichzeitig die einzige autonome Figur im Film. Besonders rührend ist in dieser Hinsicht eine weitere potentielle Lieblingsszene: Die ganze Familie und auch Lorna tanzen, im Wohnzimmer der Popes, zu James Taylors “Fire and Rain”. Während sich die beiden jugendlichen und die beiden erwachsenen Figuren zu Paaren zusammenfinden, tanzt Harry alleine für sich am linken Bildrand. Zumindest zunächst, er wird dann schon von den anderen integriert, und überhaupt hat der Film ein zu großes Herz, um den kleinen Bruder auch nur für einen Moment außen vor zu lassen. Doch Harry lebt eben erst einmal in seiner eigenen kleinen Welt, in seinem eigenen Bildraum, und während Vater, Mutter und Bruder sich in ihren wechselseitigen Abhängigkeiten verstricken, führt er lieber einen Privatkrieg gegen Salatköpfe.



Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Friday, July 20, 2018

Konfetti 11: High Heels

Das Kino mag einiges von seiner einstigen Definitionsmacht über die Popkultur oder gar über die Gesellschaft an sich verloren haben, aber gelegentlich bringt es doch noch Objekte hervor, an denen sich Diskussionen, die im öffentlichen Raum viel Platz einnehmen, beispielhaft kristallisieren. Ein solches Objekt sind die High Heels, die Bryce Dallas Howard als Claire Dearing durch den Film Jurassic World getragen hatte. In zahllosen Kritiken, Facebookdiskussionen und Twitterthreads wurde die Schuhwahl thematisiert und zumeist heftig attackiert: High Heels im Dschungel sind unrealistisch, hieß es da zumeist, erst recht, wenn Dinosaurier hinter einem her sind. Außerdem ist es, wurde dann zumeist noch angefügt, emanzipatorischen Bemühungen abträglich, wenn ein Film zeigt, dass eine Frau sich selbst in einer solch gefährlichen Situation dem Schönheitsdiktat fügt und sich derart unpraktisch anzieht. Die wenigen Gegenargumente, unter anderem von Howard selbst vorgebracht, gehen in eine ähnliche Richtung: Eine toughe Karrierefrau wie Claire müsse nun einmal, um sich in der Männerwelt durchsetzen zu müssen, High Heels tragen, sie hätte nach der Dinosaurierattacke schlichtweg keine Zeit gehabt, sich umzuziehen und überhaupt sei es ja ein Zeichen von Emanzipation, dass Frauen inzwischen anziehen können was sie wollen, ohne sich rechtfertigen zu müssen.

Ganz davon abgesehen, dass eine Frau, die Dinosauriern in High Heels die Stirn bietet, selbstverständlich noch einmal ein gutes Stück bewundernswerter ist als eine, die dabei Turnschuhe trägt, zeigt diese Diskussion, dass Kinobilder im diskursiven Raum doppelt überdeterminiert sind: Sie werden zum einen nach den Vorgaben eines alltäglichen, lebensweltlichen Realismus beurteilt, der selbst noch in fantastischen Genres gilt (Kino 2018 heißt: Dinosaurier sehen und nicht gefressen werden, aber dabei bitte bequeme Schuhe tragen); zum anderen werden sie abgeglichen an sozialen Rollenmustern, denen eine Definitionsmacht über realweltliches Verhalten unterstellt wird. Anders ausgedrückt: Die Bilder werden gleichzeitig daran gemessen, wie die Welt ist und daran, wie die Welt sein soll. In den Hintergrund rückt dabei die Fähigkeit des Kinos, eigene Welten zu erschaffen.

Man muss gleich dazu sagen: Diese Entwicklung ist nicht nur die Schuld einer fantasielosen, buchhalterischen Kulturkritik. Sie spiegelt sich auch in den Filmen selbst wieder. Die Diskussion um Howards Schuhe etwa entwickelte eine derartige Dynamik, dass sie jüngst anlässlich der Fortsetzung des Films neu aufgelegt wurde - und eben auch im Film, in Juan Antonio Bayonas Jurassic World: Das gefallene Königreich, einen Niederschlag fand. Der neue Film legt wert darauf, seinem Publikum mitzuteilen, dass Howard zwar nach wie vor hochhackige Schuhe trägt solange sie sich in einem passenden Umfeld bewegt, dass sie diese aber inzwischen ablegt, wenn es in den Dschungel geht.

Vielleicht ist die Idee einer Autonomie des Ästhetischen überhaupt in eine Krise geraten. Die Verkürzungen, die dadurch entstehen, werden besonders deutlich, wenn man sich anschaut, wie über Figuren im Film, und erst recht, wie über Schauspielerinnen und Schauspieler geschrieben wird. Wenn Filmkritik Darstellerinnen und Darsteller nur als Figuren beschreibt, und Figuren nur als psychologisch konstruierte Subjekte, die Handlungsoptionen haben und wahrnehmen, (welche dann, dann, im nächsten Schritt, ideologisch beurteilt werden können), übersieht sie etwas Entscheidendes am Kino: Wie alle anderen Elemente des Films sind Schauspieler im Kino in erster Linie zum Anschauen da.

Dass Menschen, sobald sie vor die Kamera treten, zumindest auch ästhetische Objekte sind, ist ein ewiger Skandal des Kinos. Primär sind alle Menschen, die auf der Leinwand erscheinen, nicht Subjekte einer Handlung, sondern Objekte der Schaulust. Grundsätzlich gilt das für beide Geschlechter gleichermaßen, aber bei Frauen ist der Skandal offensichtlicher, und er wird deshalb auch expliziter thematisiert, wenn es um die Darstellung von Frauen geht. Oft läuft das auf die Forderung hinaus, dass Schauspielerinnen nicht auf ihr Äußeres reduziert werden sollen. Dazu passt, dass in den meisten Filmkritiken nichts oder fast nichts über das Äußere (insbesondere über körperliche Merkmale) von Schauspielerinnen und auch von Schauspielern zu lesen ist. Das ist einerseits nachvollziehbar, weil solche Überlegungen unweigerlich an höchstpersönlichen, erotischen Vorlieben rühren würden, aber andererseits: Die Kamera fängt qua Technik nun einmal nicht Inner-, sondern Äußerlichkeiten ein. Natürlich folgt daraus nicht, dass Kritik an sexistischen Darstellungskonventionen illegitim wäre. Filme, die Frauen nicht anders denken können denn als passive, sexualisierte Blickobjekte (und das Publikum nur als ein männlich-voyeuristisches) sind schließlich auch in ästhetischer Hinsicht zumeist fürchterlich öde.

Aber die Körperlichkeit und auch die Kleidung seiner Darsteller ist dem Kino nichts Äußerliches - sondern eines seiner wichtigsten Materialien. Es stände der Filmkritik gut zu Gesicht, wenn sie den Filmen einerseits, wenn es um Fragen der Äußerlichkeit (also: um die entscheidenden Fragen) geht, ein wenig Gestaltungsspielraum einräumen, und vor allem nicht immer gleich mit alltagsrealistischen Vorgaben um die Ecke kommen würde; und wenn sie andererseits diesen Äußerlichkeiten da, wo es angemessen ist, auch die entsprechende Aufmerksamkeit zuteil kommen lassen würde. Bryce Dallas Howard zum Beispiel ist schlicht und einfach durchweg großartig angezogen in Jurassic World.

Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Jurassic World: Fallen Kingdom, J.A. Bayona, 2018

I enjoyed Fallen Kingdom more than I thought I would, but its pleasures are completely detached from the core of the film series. I was completely on board with all scenes involving Maisie. A girl of unnatural ancestry, unloved by humans and surrounded by strange beasts, exploring (and conquering) her hostile and baroque surroundings by means of the service elevator - I can't think of many characters in big budget films over the last ten years who are even remotely as interesting as Maisie. In a few scenes, Bayona manages to create a style of heighened artificiality (I especially liked the strange color burst in the museum scene) which fits her storyline perfectly.

In theory, it might be possible to combine Maisie's adventures with big budget dinosaur mayhem in a meaningful way. However, in this regard the film just feels tired. First and foremost, Fallen Kingdom desperately needed at least one or two stand-out open-air set pieces. Instead, the film spends way too much time in a generic underground facility (and doesn't even manage to evoke a sense of claustrophobia; the action really is a letdown, even compared with Trevorrow's film).

One scene encapsulating my frustration: After some inventive shadowplay in Maisies bedroom, threatening, ancient Jaws crawl near the frightened girl - and then Chris Pratt busts through the door and starts blasting away in the most prosaic manner. Pratt himself isn't as annoying as in Jurassic World, but just as boring. While Bryce Dallas Howard, clearly, whether you like her role or not, the most interesting part of the first film, has almost nothing to do. Same goes for most of the new cast members. It's really all about Maisie, this time.

Tuesday, June 19, 2018

Konfetti 7: Autonomie

11 x 14, James Bennings dieses Jahr auf der Berlinale wiederentdecktes Frühwerk aus dem Jahr 1977, ist, neben vielem anderen, ein Autofilm. Nicht direkt ein Film über Autos allerdings, eher ein vom / von Automobilen infizierter Film. Nur in wenigen der 65 in gewisser Weise autonomen, isoliert für sich stehenden Einstellungen, aus denen der Film besteht, ist ein Auto das eine, zentrale Bildelement. Deutlich öfter sind Autos an den räumlichen und auch zeitlichen Rändern der Bilder präsent, gleich mehrmals finden sich zunächst autofreie Einstellungen, durch die dann plötzlich doch ein Auto fährt, oft ganz nah an der Kamera vorbei, auf einer Straße, die selbst unsichtbar bleibt. Das Auto erscheint im Film wahlweise als Signatur, oder eben als Träger einer Infektion, jedenfalls als etwas, das sich dem Film und auch der Welt, die er zeigt, aufprägt. Irgendwann stellt sich die Erkenntnis ein, dass auch die Gebäude und die Landschaften, die der Film zeigt, und selbst die sozialen Beziehungen, die der Film in seiner fragmentarischen Erzählung eher andeutet als zeigt, einer automobilen Logik unterworfen sind. In gewisser Weise ist 11 x 14 das notwendige Gegenstück zu all den - gleichermaßen großartigen - Roadmovies und Auto-Actionfilme der 1970er; wenn dort das Auto zum Fetisch, aber auch zu einem Medium der Freiheit wird (das Auto als ein Objekt, das die Blicke gleichzeitig anzieht und freisetzt), dann erscheint es bei Benning eher als ein Fluch, der die Bilder heimsucht und einen maschinellen Blick etabliert, dem auf die Dauer niemand entkommen kann (das Auto als ein Objekt, das die Blicke gleichzeitig abweist und bindet).

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Es gibt jedoch in 11 x 14 eine Einstellung, die dem Regime des Autos entkommt. Es handelt sich um die vielleicht schönste und ziemlich sicher längste des Films: Für gut zehn Minuten folgt die Kamera einer Zugpassage über Eisenbahngleise durch eine Großstadt. Die Kamera ist innerhalb des Zuges montiert, im - so scheint es jedenfalls - vordersten Waggon, und sie blickt sowohl seitlich als auch frontal ins Freie, auf die in zumeist in gleichmäßiger Geschwindigkeit vorbeirollende Stadtlandschaft. Im Vordergrund, im Inneren des Waggons, ist als verschattete Silhouette ein Passagier - vermutlich ein junger Mann - zu sehen, der ein Buch zu lesen scheint. Auf der Tonspur durchgängig das Rattern der Gleise und das Pfeiffen des Fahrtwindes.

Der direkte Blick nach vorne, auf die sich vor dem Zug ausbreitenden Gleise, löst bei mir eine leise Irritation aus, die bis zum Schluss der Einstellung nicht verschwindet. Wir befinden uns offensichtlich nicht im Führerhäuschen des Triebwagens, also in jenem Zugteil, der in fast allen S- und Stadtbahnen am Frontende des Zuges montiert ist. Wo befindet sich in diesem Zug der Zugführer? Ich komme auf die Idee, dass der Film in dieser Einstellung möglicherweise rückwärts abgespielt wird, dass wir uns also nicht am vorderen sondern am hinteren Ende des Zuges befinden. Ich suche im Bild nach Hinweise, die diese Annahme bestätigen oder widerlegen. Beides ist freilich, zumindest in der DVD-Fassung, nicht so leicht möglich. Erst hinterher, bei Recherchen im Internet, komme ich darauf, dass die Überlegung ziemlich sicher hinfällig ist: Der Führerhäuschen des “L” Train in Chicago, dessen Passage die Einstellung zeigt, ist so klein, dass daneben in der Tat noch Platz ist für Passagiere, die einen freien Blick nach vorne haben.

Dennoch bleibt eine Spannung in der Einstellung. Etwas anderes, was mich an dem Bild interessiert, ist das Verhältnis von Innen und Außen. Zunächst gleitet mein Blick fast automatisch zu den beiden Fenstern, dem vorderen und den seitlichen. Die Bewegung und die durch die Bewegung entstehende Varianz ziehen die Aufmerksamkeit an, ich gleite mit der Bahn gemeinsam durch den urbanen Raum, jede Kurve offenbart einen neuen Ausblick. Der Charakter der Stadt verändert sich langsam, im Hintergrund erahne ich Autos und Passanten, ein Leben, das vom Kamerablick gestreift, aber nicht wirklich eingefangen wird. Allerdings, merke ich dann irgendwann, nehmen die Fenster ja nur einen Teil des Bildraums ein. Genau genommen höchstens die Hälfte, vermutlich weniger. Im Bild selbst ist das in sich verhältnismäßig statische Innere des Waggons mindestens genauso präsent wie die in Bewegung gesetzte Stadt. Meine Aufmerksamkeit beginnt sich zu teilen. Ich nehme mir vor, gelegentlich auch die dunklen Areale des Bildes in den Blick zu nehmen. Wer ist der Mann, der da sitzt, was liest er, was ist das für ein Ort, an dem er sich befindet, was heißt es, im Dunkeln, Unbewegten, Überdachten zu sitzen und sich durch einen hellen, dynamischen Raum mit offenem Horizont zu bewegen?

Und irgendwann bemerke ich dann, dass es dem Mann in der Bahn genauso geht wie mir. Oder geht es ihm genau anders herum wie mir? Jedenfalls ist auch seine Aufmerksamkeit gespalten. Zumeist konzentriert er sich auf das Buch in seiner Hand, aber gelegentlich blickt er auf und schaut nach vorn durchs Fenster. Ich stelle mir vor, dass für ihn die Fahrt eine Routine ist. Vielleicht fährt er dieselbe Strecke täglich ab. Für ihn ist nicht die physische Welt draußen, sondern die Gedankenwelt in seinem Buch das variable, dynamische Element. Und doch lässt auch er sich gelegentlich ablenken und blickt auf die vermeintlich gewohnte Welt vor dem Fenster.

Diese Ablenkungen des Blicks, seine wie meine, sind es, denke ich dann, um die es in der Einstellung geht. Beziehungsweise: Es geht darum, dass wir beide die Wahl zwischen beiden Blicken haben. Der erste, durch die Bewegung hervorgerufene Blick ist automatisch und in gewisser Weise auch ohne Auto automobil (und deshalb unzweifelhaft ein Blick, der der Moderne zugehörig ist), aber die Ablenkung des Blicks ist nicht automatisch und auch nicht automobil, sondern autonom.



Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.

Monday, May 28, 2018

Konfetti 4: Lady Bird


Dass an Filmen zumeist nicht das große Ganze, der gesamtkünstlerische Masterplan, das Entscheidende ist, sondern die gestalterische Sorgfalt im Detail, gerät im Alltagsbetrieb der Tageskritik oft aus dem Blick. Das ist kein Zufall. Das Kino drängt ihr in gewisser Weise selbst diese Betrachtungsweise auf. Die meisten Filme tragen stolz ihre großen Themen, ihre Franchise-Zugehörigkeit oder (seltener) ihre raffinierten Plot-Twists vor sich her – alles gute Argumente im Verkaufsgespräch, in den Multiplexen genauso wie auf Filmfestivals. Es gibt Ausnahmen: Komödien werden immerhin noch mit ein paar gelungenen Gags und One-Linern beworben, Actionfilme mit Explosionen, Erotikfilme mit nackter Haut.

Aber von solchen Schlüsselreizen (die von der Kritik auch zumeist eher abschätzig behandelt werden, weil sie angeblich von den darunterliegenden „tiefen Themen“ ablenken) abgesehen, bleiben die eigentlichen Substanzen des Filmischen, die Feinheiten der Inszenierung, der schauspielerischen Körpersprache, oder auch die dokumentarischen Überschüsse, die sich noch in den artifiziellsten Filmen ausfindig machen, dem Produkt „Spielfilm“ seltsam äußerlich. Vermutlich, weil es sich dabei um diffuse Qualitäten handelt, die nicht so recht zum Branding taugen. Die Kritik verhält sich, wie gesagt, entsprechend, und hangelt sich an Diskursmarkierungen entlang, die mit den Bildern auf der Leinwand und den Tönen aus dem Lautsprecher oft nur peripher etwas zu tun haben.

Umso schöner, dass es Filme wie „Lady Bird“ gibt. Natürlich ist auch das ein Film, der als Produkt funktioniert, er tut das sogar ausgesprochen gut. Ein Großteil seines Erfolgs, bei Publikum wie Kritik, dürfte damit zusammenhängen, dass er gewisse Sensibilitäten des Indie-Kinos bedient. Aber zu einem großen Film wird er mit ziemlicher Ausschließlichkeit durch die Details, durch die szenischen Details vor allem.

Insbesondere ist das ein Film über die Doppelbedeutung des Wortes „Spielraum“. Es geht um den Spielraum, den ein Mensch hat – im wörtlichen, physischen, wie im übertragenen, emotionalen Sinn – wenn er in einer Familie lebt. Und es geht um den Spielraum als den zu bespielenden Raum, auf dem Filmset, beziehungsweise auf der Leinwand.

Zum Beispiel in einer von vielen Szenen, die dem praktisch über den gesamten Film hinweg fortgesetzten Streit zwischen Lady Bird (Saoirse Ronan) und ihrer Mutter Marion (Laurie Metcalf) gewidmet sind. Sie spielt im Wohnzimmer der Familie. In einem Eck steht der einzige Computer im Haus, schon das macht es zu einem Akkumulationspunkt. Es ist hier etwas zu dunkel, und eigentlich ist auch zu wenig Platz. Aber das ist schon eine der Paradoxien, aus der der Film seine Kraft zieht: Obwohl sie so eng aufeinander hocken, kommen die Familienmitglieder sich nie wirklich nahe. Im familiären Alltag sind gleichzeitig Freiheit und Intimität inhibiert. Alle Beteiligten achten auf Abstand, auf ihren "personal space", auf Spielraum.


Schon Marions Eintritt zu Beginn der Szene macht das deutlich. Sie erzählt ihrer Tochter von den Strapazen, die die Familie auf sich nimmt, damit sie, Lady Bird, es einmal besser haben wird: „Everything we do is for you. Everything!“ Dabei breitet sie, in einer etwas ungelenken Geste, die Arme aus, wie um das ganze Haus und ihre ganze Lebensrealität in das Argument mit einzubeziehen. Die Mutter identifiziert sich selbst mit dem Raum und gibt ihrer Tochter gleichzeitig zu verstehen: Wenn du dich gegen mich wendest, dann wendest du dich auch gegen das Haus, in dem du aufgewachsen bist. Gleichzeitig stellt sich aber auch das Problem: Wie soll sich Lady Bird ihrer Mutter als einem einzelnen Menschen, als ihresgleichen nähern, wenn die Mutter immer gleichzeitig das Haus und die Familie mitrepräsentiert? Es geht nicht nur in dieser Szene um die Unfähigkeit von Tochter und Mutter, sich ineinander zu erkennen.


Die Mutter schimpft, aber sie kommt der Tochter nicht näher, versucht stattdessen, den unwilligen Vater mit ins Gespräch zu involvieren. Das Wohnzimmer, die Mutter und der Vater formen einen Halbkreis um Lady Bird herum, die zunächst auf dem Sofa sitzt, niedergeschlagen, stillgestellt und in die Defensive gedrängt. Wenn sie sich schließlich doch bewegt, dann nicht geschmeidig wie ihre Mutter, sondern eruptiv. Sie schnappt sich einen Schreibblock; auf ihm möchte sie schriftlich festhalten, wie viel ihre Erziehung ihre Eltern tatsächlich gekostet hat, auf dass sie einmal alles zurückzahlen kann. Ein Versuch, das von wechselseitigen Schuldzuweisungen und Ausweichmanövern geprägte Verhältnis zu der Mutter auf eine objektive Ebene zu heben und damit bewältigbar zu machen. Natürlich kann das nicht funktionieren, die Mutter hat gleich wieder eine schnippische Antwort parat. Letztlich braucht sie den Schreibblock nur, um ihn wütend von sich zu werfen. Und zwar schleudert sie ihn vor sich auf den Boden, den Abstand ausnützend, den die Mutter zu ihr gelassen hat. Und nur, weil es diesen Abstand gibt, weil alle Figuren und auch die Regie auf Spielraum bedacht sind, wird Lady Birds frustrierte Geste zu einer genuinen Ausdrucksbewegung, zu einem körperlich artikulierten Aufbegehren, das Teil eines Erkenntnisprozesses ist.


Die Textreihe "Konfetti" entsteht im Rahmen des Siegfied-Kracauer-Stipendiums. Mehr Informationen hier.