Mit einer Szene auf einem Hochhausdach in Manhattan habe ich diese Serie begonnen: In Klaus Lemkes Sylvie stehen ein Mann und eine Frau auf einem der Türme des World Trade Center und werden dabei einige Minuten lang zum Mittelpunkt des Universums. Aus der Szene spricht ein unglaubliches, gewissermaßen dreifaches Selbstbewusststein. Zunächst ist das Hochhaus selbst eine weitere Evidenz des ohnehin legendären Selbsbewusstseins der amerikanischen Nation und ihrer zum Himmel strebenden Architektur, dann, innerfiktional, zeugt die Szene vom Selbstbewusststein von Sylvie und ihrem Begleiter Paul, die gerade erst in New York angekommen sind und sich die Stadt gleich mit der größten aller möglichen Gesten aneignen; und schliesslich bewundern wir das Selbstbewusstsein von Klaus Lemke, dem deutschen Regisseur, der zum ersten Mal in Amerika filmt, seinem Traumland, aber gleich als erstes eine Helikopterhochhausaufnahme ausprobieren muss.
All dieses Selbstbewusstsein (das freilich erst interessant wird, weil es sich an Unfertigem bricht, an der Unfertigkeit der Gesten der Darsteller, der Unfertigkeit der wenigstens teilweise improvisierten Mise-en-scene, der Unfertigkeit des eben erst fertiggebauten und noch nicht für den kommerziellen Gebrauch hergerichteten Hochhauses) hat natürlich damit zu tun, dass sowohl Sylvie und Paul als auch Lemke New York bereits aus dem Kino kennen. Nicht nur aber sicher in erster Linie das Kino hat New York und dessen Wolkenkratzer zu einem Ort gemacht, das zu center-of-the-world-Posen einlädt (oder zumindest eingeladen hat - in der instagramoptimierten Gegenwart taugt, die richtigen Bildbearbeitungsskillz vorausgesetzt, fast jeder, also letztlich kein, Ort zum Mittelpunkt der Welt). Einer der Filme, der dieses Potential entdeckt oder jedenfalls erstmals voll ausgeschöpft hat, dürfte Rouben Mamoulians Applause gewesen sein.
Der Film stammt aus dem Jahr 1929, aus der frühen Tonfilmzeit. Genauer gesagt ist das ein Film, der mit dem Ton auch gleich die moderne Großstadt noch einmal neu für sich zu entdecken scheint. Wenn die Hauptfigur April (Joan Peers), die ihre Kindheit und Jugend in einer Klosterschule verbracht hat, nach New York City zurückfährt, um wieder bei ihrer Mutter Kitty Darling (Helen Morgan), einer Burlesquetänzerin, einzuziehen, dann inszeniert Mamoulian das wie eine zweite Taufe. April taucht in den Lärm, den Rauch, den Bewegungswust der Großstadt ein, vermittels einer mehrminütigen Montagesequenz, die ohne Dialoge auskommt - ein dröhnendes Sozialmaschinenasphaltgedicht, gleichzeitig euphorisierend und einengend.
In der Welt, die April betritt, bleibt erst einmal nur Letzteres übrig: die Enge. Ihr New Yorker Leben besteht praktisch nur aus der Burlesquebühne und einem erweiterten Backstagebereich, Freiraum gibt es keinen. Auf der einen Seite lauern die begierigen Blicke der Burlesquekundschaft, auf der anderen ein trostloses, klaustrophobisches Familienmelodram: Aprils Mutter ist zwar stets guten Willens, kann sich aber nicht von ihrem narzisstischen, cholerischen Freund trennen, der sie schon lange betrügt und der nun auch noch ein Auge auf die Tochter wirft.
Eine Zufallsbekanntschaft bringt die Wende. In höchster Verzweiflung irrt April durch die Gassen, die Kamera fokussiert ihre Beine in Großaufnahme. Andere Beine, Männerbeine drängen an sie heran, ein Hund schwirrt auch noch herum, sie scheint schon fast ganz aufgelöst zu sein im Gewimmel der Großstadt, menschliches Treibgut… aber dann erweisen sich zwei der Männerbeine als Felsen in der Brandung, sie gehören einem redlichen Matrosen, die beiden verlieben sich ineinander - und irgendwann fahren sie dann gemeinsam hoch aufs Dach eines der Hochhäuser Manhattans.
Dort oben ist die Großstadt nicht mehr nur der Moloch, der die Individuen verschlingt. Aus der Vogelperspektive wird das Geplante, Funktionierende an ihr sichtbar und auch hörbar. Die dichte, dumpfe Lärmkulisse entwirrt sich zu diskreten, sortierbaren Klangereignissen. Hier zeigen April und ihr Matrose einander, wie die Straßenzüge kerzengerade in die Tiefe des Raums führen, wie die Autos die Spuren halten und wechseln, wie die vielen, kleinen Menschen da unten vor sich hin wuseln (manche mögen unter die Räder kommen, die allermeisten erreichen doch ihr Ziel). In Sylvie ist nur das eine Hochhaus, auf dem die deutschen Besucher landen, neu, in Applause ist die Idee “Hochhaus” überhaupt neu.
New York 1929 ist eine junge Großstadt und deshalb ist auch der Blick auf New York ein junger Blick auf die Großstadt. Die Kamera ist zumeist hinter April und dem Matrosen und außerdem relativ hoch positioniert, nur ihre Köpfe sind unten noch im Bild, manchmal schwenkt sie noch höher, sodass die beiden ganz aus dem Blick geraten. Auch das Geländer, an das sie sich lehnen, schaut nicht allzu stabil aus. Nie würden die beiden darauf kommen, auf dem Hochhaus lässigen Schabernack zu treiben, wie Jahrzehnte später Sylvie und Paul. Der Blick vom Hochhaus herunter ist noch kein souveräner Blick, weder ist von vorn herein klar, wie die Welt von da oben ausschaut, noch, was der Blick mit den Blickenden anstellt. Der Mittelpunkt des Universums zu sein: Das müssen April und ihr Matrose erst noch üben.
All dieses Selbstbewusstsein (das freilich erst interessant wird, weil es sich an Unfertigem bricht, an der Unfertigkeit der Gesten der Darsteller, der Unfertigkeit der wenigstens teilweise improvisierten Mise-en-scene, der Unfertigkeit des eben erst fertiggebauten und noch nicht für den kommerziellen Gebrauch hergerichteten Hochhauses) hat natürlich damit zu tun, dass sowohl Sylvie und Paul als auch Lemke New York bereits aus dem Kino kennen. Nicht nur aber sicher in erster Linie das Kino hat New York und dessen Wolkenkratzer zu einem Ort gemacht, das zu center-of-the-world-Posen einlädt (oder zumindest eingeladen hat - in der instagramoptimierten Gegenwart taugt, die richtigen Bildbearbeitungsskillz vorausgesetzt, fast jeder, also letztlich kein, Ort zum Mittelpunkt der Welt). Einer der Filme, der dieses Potential entdeckt oder jedenfalls erstmals voll ausgeschöpft hat, dürfte Rouben Mamoulians Applause gewesen sein.
Der Film stammt aus dem Jahr 1929, aus der frühen Tonfilmzeit. Genauer gesagt ist das ein Film, der mit dem Ton auch gleich die moderne Großstadt noch einmal neu für sich zu entdecken scheint. Wenn die Hauptfigur April (Joan Peers), die ihre Kindheit und Jugend in einer Klosterschule verbracht hat, nach New York City zurückfährt, um wieder bei ihrer Mutter Kitty Darling (Helen Morgan), einer Burlesquetänzerin, einzuziehen, dann inszeniert Mamoulian das wie eine zweite Taufe. April taucht in den Lärm, den Rauch, den Bewegungswust der Großstadt ein, vermittels einer mehrminütigen Montagesequenz, die ohne Dialoge auskommt - ein dröhnendes Sozialmaschinenasphaltgedicht, gleichzeitig euphorisierend und einengend.
In der Welt, die April betritt, bleibt erst einmal nur Letzteres übrig: die Enge. Ihr New Yorker Leben besteht praktisch nur aus der Burlesquebühne und einem erweiterten Backstagebereich, Freiraum gibt es keinen. Auf der einen Seite lauern die begierigen Blicke der Burlesquekundschaft, auf der anderen ein trostloses, klaustrophobisches Familienmelodram: Aprils Mutter ist zwar stets guten Willens, kann sich aber nicht von ihrem narzisstischen, cholerischen Freund trennen, der sie schon lange betrügt und der nun auch noch ein Auge auf die Tochter wirft.
Eine Zufallsbekanntschaft bringt die Wende. In höchster Verzweiflung irrt April durch die Gassen, die Kamera fokussiert ihre Beine in Großaufnahme. Andere Beine, Männerbeine drängen an sie heran, ein Hund schwirrt auch noch herum, sie scheint schon fast ganz aufgelöst zu sein im Gewimmel der Großstadt, menschliches Treibgut… aber dann erweisen sich zwei der Männerbeine als Felsen in der Brandung, sie gehören einem redlichen Matrosen, die beiden verlieben sich ineinander - und irgendwann fahren sie dann gemeinsam hoch aufs Dach eines der Hochhäuser Manhattans.
Dort oben ist die Großstadt nicht mehr nur der Moloch, der die Individuen verschlingt. Aus der Vogelperspektive wird das Geplante, Funktionierende an ihr sichtbar und auch hörbar. Die dichte, dumpfe Lärmkulisse entwirrt sich zu diskreten, sortierbaren Klangereignissen. Hier zeigen April und ihr Matrose einander, wie die Straßenzüge kerzengerade in die Tiefe des Raums führen, wie die Autos die Spuren halten und wechseln, wie die vielen, kleinen Menschen da unten vor sich hin wuseln (manche mögen unter die Räder kommen, die allermeisten erreichen doch ihr Ziel). In Sylvie ist nur das eine Hochhaus, auf dem die deutschen Besucher landen, neu, in Applause ist die Idee “Hochhaus” überhaupt neu.
New York 1929 ist eine junge Großstadt und deshalb ist auch der Blick auf New York ein junger Blick auf die Großstadt. Die Kamera ist zumeist hinter April und dem Matrosen und außerdem relativ hoch positioniert, nur ihre Köpfe sind unten noch im Bild, manchmal schwenkt sie noch höher, sodass die beiden ganz aus dem Blick geraten. Auch das Geländer, an das sie sich lehnen, schaut nicht allzu stabil aus. Nie würden die beiden darauf kommen, auf dem Hochhaus lässigen Schabernack zu treiben, wie Jahrzehnte später Sylvie und Paul. Der Blick vom Hochhaus herunter ist noch kein souveräner Blick, weder ist von vorn herein klar, wie die Welt von da oben ausschaut, noch, was der Blick mit den Blickenden anstellt. Der Mittelpunkt des Universums zu sein: Das müssen April und ihr Matrose erst noch üben.
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